Abwanderung und Fremdenhass
von Benoît Breville
2017 gab es in Portugal 400 000 Ausländer:innen und keine nennenswerte rechtsextreme Partei. 2025 sind es 1,6 Millionen (15 Prozent der Bevölkerung), und die extrem rechte Chega-Partei stellt die zweitgrößte Fraktion im Parlament. Gibt es also einen direkten Zusammenhang zwischen einem Anstieg der Einwanderung und dem Aufstieg xenophober Kräfte, wie es 2020 eine Studie unter Federführung des Ifo-Instituts befand?
Doch die Ausgangsfrage müsste eine ganz andere sein und in das Portugal von 2008 zurückführen, vor der großen Einwanderungswelle. Von der Finanzkrise gebeutelt, war das Land am Rande der Zahlungsunfähigkeit.
Um Hilfen von EU und IWF zu erhalten, sollte die Regierung die Wirtschaft „modernisieren“, sprich: privatisieren. Öffentliche Ausgaben sollten gekürzt und der Arbeitsmarkt sollte dereguliert werden, um „konkurrenzfähiger“ zu werden und ausländische Investoren anzuziehen.

Portugal befolgte das Rezept. 2009 wurde der Status des „nicht gewöhnlichen Wohnsitzes“ geschaffen, um gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Rentner aus dem Ausland anzulocken. 2012 wurden die „Goldenen Visa“ eingeführt, die Ausländer:innen mit dickem Scheckbuch einen privilegierten Zugang zur Staatsbürgerschaft bieten. Daraufhin boomte die Immobilienbranche. Und die Liberalisierung des Wohnungsmarkts, die Kurzeitvermietungen zuließ, kurbelte den Tourismus weiter an.
Die Therapie schien anzuschlagen. 2014 wuchs die portugiesische Wirtschaft wieder, die Leistungsbilanz war im Plus, das Haushaltsdefizit schrumpfte stetig. Aus dem Sorgenkind war ein Musterschüler geworden. Doch die wundersamen Zahlen überdeckten eine andere Realität.
Portugal erlitt einen demografischen Aderlass: Junge, gut ausgebildete Menschen wanderten in Massen aus. 2013 waren es 120 000, 2023 immer noch 75 000. Eine Wirtschaft, die von billigen Dienstleistungsjobs geprägt ist, bietet ihnen keine berufliche Perspektive. Und die Mieten, die sich in den größeren Städten in knapp zehn Jahren mehr als verdoppelt haben, können sie sich nicht leisten.
Heute lebt fast ein Drittel aller Portugies:innen zwischen 15 und 39 Jahren im Ausland. Damit wächst der Anteil der Alten im Lande weiter: Auf jede Person im erwerbsfähigen Alter kommen zwei im Rentenalter.
Doch es sind nicht die 70-Jährigen, die in den Restaurants Geschirr spülen, die Hotelbetten machen oder Himbeeren pflücken. Für diese Billigjobs werden Arbeitskräfte aus Brasilien, Angola, Indien, Bangladesch oder Marokko angeworben.
Was den Aufstieg der extremen Rechten betrifft, so gibt tatsächlich einen Zusammenhang – aber nicht mit der Einwanderung, sondern mit der Abwanderung der jungen Generation. Zum einen, weil eine junge, gebildete Wählerschaft verloren geht, die weniger zu ausländerfeindlichen Parteien tendiert. Zum anderen, weil das auch auf das Wahlverhalten der verbleibenden Bevölkerung zurückwirkt.
Sollte es in Portugal ein Referendum über die Migrationspolitik geben, wie es Marine Le Pen für Frankreich fordert, müsste man die Alternative so formulieren: „Wollen Sie, dass die unterbezahlten ausländischen Arbeitskräfte, die angesichts der alternden Bevölkerung unverzichtbar sind, zurückgeschickt werden? Oder wollen Sie eine Politik beenden, die wohlhabende Rentner und digitale Nomaden anlockt, aber die junge Generation ins Ausland treibt?“⇥Benoît Bréville