12.06.2025

Aushungern und vertreiben

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Aushungern und vertreiben

von Jakob Farah

„Jeder hat sich daran gewöhnt, dass in einer Kriegsnacht hunderte Menschen im Gazastreifen getötet werden – die Welt interessiert das nicht.“ Das erklärte jüngst der Knessetabgeordnete Zvi Sukkot von der Partei Reli­giö­ser Zionismus, die Netanjahus Regierungskoalition angehört. Er wollte damit keineswegs das massenhafte Töten von Zi­vi­lis­t:in­nen durch die israelische Armee anprangern. Er wollte lediglich etwaige Sorgen über die Reaktion des Auslands zerstreuen.

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Das Schlimme ist: Sukkot hat weitgehend recht. Seit 19 Monaten haben die meisten Verbündeten Israels für dessen Vernichtungsfeldzug in Gaza höchstens mild mahnende Worte übrig. Nun aber scheint sich etwas zu ändern: Die verheerenden Auswirkungen der länger als zwei Monate dauernden Totalblockade des Küstenstreifens, das Aushungern der kompletten Bevölkerung, haben einige Länder zumindest ansatzweise zum Handeln bewegt. Frankreich, Großbritannien und Kanada haben Israel mit „konkreten Maßnahmen“ gedroht. Und eine Mehrheit der EU-Staaten sprach sich für eine Überprüfung des Assoziierungsabkommens mit Israel aus.

Deutschland hat keine dieser Initiativen unterstützt, sprach sich beim Außenministertreffen in Brüssel gegen eine Überprüfung des Abkommens aus. Bei seinem Besuch in Israel stellte Außenminister Johann Wadephul unlängst allen Ernstes fest, angesichts der Planungen eines neuen Verteilmechanismus für humanitäre Güter sei „vollkommen klar“, dass man Israel ein völkerrechtswidriges Verhalten nicht vorwerfen könne.

Dabei verfolgt dieser neue Verteilmechanismus, bei dem die UN-Organisationen außen vor bleiben, vor allem einen Zweck: Die hungernde Bevölkerung soll im Süden des Küstenstreifens in einer „sterilen Zone“ zusammengepfercht werden – mit der Option, später ihre „freiwillige Ausreise“ zu organisieren. Der Einsatz von Hunger als Waffe und der Missbrauch humanitärer Hilfe wird damit gewissermaßen institutionalisiert.

Dass die endgültige Vertreibung der Bevölkerung Gazas das offizielle Ziel der israelischen Regierung ist, hat Netanjahu am 21. Mai in einer seiner seltenen Pressekonferenzen bestätigt: Dort erklärte Israels Premier erstmals, dass die Durchsetzung des sogenannten Trump-Plans – den er „revolu­tio­när“ und „brillant“ nannte – eine Voraussetzung zur Beendigung des Kriegs sei. US-Außenminister Marco Rubio tat letztens bei einer Senatsanhörung freimütig kund, dass sein Land mit verschiedenen Staaten in Kontakt stehe, um über die Aufnahme der Menschen aus Gaza zu verhandeln. Niemand sollte sich irgendwelchen Illusionen hingeben, dass die Regierungen in Jerusalem und Washington davor zurückschrecken werden, einen solchen Plan tatsächlich umzusetzen.

Unter dem Eindruck der Hungerkatastrophe in Gaza hat auch die Bundesregierung ihren Ton verschärft. Es werde geprüft, so Außenminister Wadephul, „ob das, was im Gazastreifen geschieht, mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang zu bringen ist“. Vor dem Hintergrund der erdrückenden Beweislage fragt man sich ­allerdings, was da noch geprüft werden soll. Es führt kein Weg daran vorbei: Deutschland muss sich auf europäischer Ebene an konkreten Sanktionen gegen Israel beteiligen. Die horrenden Verbrechen in Gaza weiter aktiv durch Waffenlieferungen zu ermöglichen, wäre ein moralisches Versagen, dessen Ausmaß in der Geschichte der Bundesrepublik seinesgleichen sucht.Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 12.06.2025, von Jakob Farah