Rückkehr nach Bagdad
Über die brüchige Gegenwart einer der ältesten Städte der Welt
von Nabil Salih

Als ich letzten Sommer zu Besuch in meiner Heimatstadt Bagdad war, ging ich zu einem Konzert des irakischen National Symphony Orchestra, das im Nationaltheater im Karrada-Viertel stattfand.
Das Dach des Theaters hat die Form eines Beduinenzelts, seine Fassade schmücken vier islamische Spitzbögen. Die Saaldecke im Innern ist mit kaskadenförmig angeordneten Holzpaneelen verziert; sie sollen wohl an die Stämme irakischer Palmen erinnern – heutzutage ein seltener und nachgerade exotischer Anblick.
Das Nationaltheater zieht nach wie vor ein kosmopolitisches und elegant gekleidetes Publikum an, und dieser Anblick ließ mich unweigerlich an die Stadt und eine Lebensart zurückdenken, die allenfalls noch in der Erinnerung existieren. Am Eingang wurde ich von einem Soldaten abgetastet, die Frauen mussten in eine Kabine treten, wo ihre Handtaschen durchsucht wurden. Im November 2008 war vor dem Theater eine Autobombe in einem Oldsmobile gezündet worden. Fünf Menschen starben. Heute herrscht im Irak wieder „Frieden“, und doch haben sich die Gewohnheiten aus dem Krieg erhalten.
Im 8. Jahrhundert war Bagdad die Hauptstadt eines ausgedehnten Reichs, ein Zentrum der Wissenschaft und der Lehre. Und ein architektonisches Wunderwerk, das seinesgleichen suchte. So beschrieb es Anfang des 9. Jahrhunderts der fünfte abassidische Kalif Harun ar-Raschid, der seine Kindheit nicht in Bagdad verbracht hatte: „Bei Gott, nie zuvor wurde weder im Osten noch im Westen eine Stadt erbaut, die sicherer gewesen wäre oder ein annehmlicheres Leben geboten hätte.“
Dieses „annehmliche Leben“ erlosch jedoch bald und danach immer wieder, als Folge von Hungersnöten und Seuchen, von Hochwasserfluten des Tigris, von Plünderungen durch die Mongolen, die der Abassiden-Dynastie ein Ende setzten, und danach in den turbulenten Jahrhunderten der osmanischen Herrschaft, die erst nach dem Ersten Weltkriegs endete.
Wie andere meiner Generation bin ich im Schatten einer jüngeren Katastrophe aufgewachsen: dem von den USA begonnenen und angeführten Krieg gegen das Regime von Saddam Hussein, der mein Land für den regionalen Terrorismus wie auch für die globalisierte Marktwirtschaft öffnete.
Welche bleibenden Folgen der Krieg, die Armut und die neoliberale Transformation im Irak hinterlassen haben, ist an allen Ecken zu sehen. Die Wohnviertel aus der osmanischen Spätphase mit ihrer dichten Bebauung und ihren engen Straßen werden dem Verfall überlassen, während sich ansonsten überall die gleißenden Symbole der westlichen Konsumkultur ausbreiten: Burger-Läden, Schönheitskliniken, Shoppingmalls.
Uniformierte Sicherheitskräfte patrouillieren mit ihren gepanzerten Humvees durch die Straßen. Eine Reaktion auf eine Serie von Attacken bewaffneter Milizen gegen amerikanisch aufgemachte Fastfoodrestaurants und andere Geschäfte, die angeblich den israelischen Krieg gegen Gaza unterstützen.
Vor dem Palestine Hotel und dem Ishtar Hotel – beide während des Baubooms in der Saddam-Ära errichtet und anfangs von der französischen Méridien-Gruppe respektive der US-amerikanischen Sheraton-Kette betrieben – checken Security-Leute die Passanten. Angehörige der Shia-Milizen, die seit 2003 straflos Leute ermordet und entführt haben, lassen sie allerdings weitgehend unbehelligt.
In den schickeren Vierteln von Bagdad sind die Restaurant brechend voll, und auch die flirrenden Neonreklamen vermittelt den Eindruck einer wirtschaftlichen Erholung. Doch immer mehr junge Leute sind wild entschlossen, das Land zu verlassen. Im ölreichen Süden wurden Demonstrierende, die gegen die Arbeitslosigkeit protestierten, von den Ordnungskräften niedergeknüppelt und über den Asphalt geschleift. Im Kurdengebiet im Norden gab es gewaltsame Polizeieinsätze gegen Medienschaffende und bis vor Kurzem auch Angriffe der türkischen Streitkräfte gegen die PKK in den Kandil-Bergen.
Luftschläge auf irakisches Territorium gibt es auch seitens der USA (gegen von Teheran unterstützte Milizen) wie vonseiten Irans (gegen Gruppen mit Verbindungen zur iranischen Opposition). Im Februar 2024 nahm eine US-Drohne eine belebte Geschäftsstraße in Bagdad unter Beschuss, um einen Kommandeur der Kataib-Hisbollah-Miliz zu liquidieren.
Die Behauptung, im Irak herrsche wieder Stabilität, ist vor allem ein Winkelzug, um ausländische Investitionen anzulocken. Außenstehende verweisen gern auf die konfessionelle Zersplitterung der irakischen Politik, aber im heutigen Bagdad verlaufen die tiefsten Gräben nicht zwischen den Konfessionen, sondern zwischen sozialen Klassen. Während die Neureichen in Geländewagen der Mercedes-G-Klasse vorfahren, sind die anderen mit dreirädrigen Tuk-Tuks unterwegs. Ein Viertel der Bevölkerung von Bagdad lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Auf der Fahrt von einem westlichen Vorort in Richtung Stadtzentrum sah ich am Straßenrand ein kleines ausgemergeltes Mädchen im Schatten eines verlassenen Betonwachturms kauern und Mineralwasserflaschen verkaufen. Auf die Mauer eines nahegelegenen Checkpoints hatte jemand die Parole gemalt: „7000 Jahre mesopotanische Geschichte“.
Am Ostufer des Tigris steht das Babylon-Hotel, das mit seiner stufenförmigen Architektur an einen mesopotanischen Tempel erinnert. Es entstand zu Beginn der 1970er Jahre nach einem Entwurf des slowenische Architekten Edvard Ravnikar. Eigentlich war der Bau für den Gipfel der Bewegung der Blockfreien Staaten geplant, der 1982 in Bagdad stattfinden sollte, aber zwei Jahre vorher brach zwischen den beiden blockfreien Ländern Irak und Iran jener schreckliche Krieg aus, der bis 1988 andauern sollte. Und so fand der Gipfel 1983 in Neu-Delhi statt.
Heute zieht das Babylon Hotel Reisende aus dem Westen wie aus China an und auch Diaspora-Iraker aus den Golfstaaten. Keine zehn Minuten die Abu-Nawas-Straße flussabwärts ragt der von der britisch-irakischen Architektin Zaha Hadid entworfene Wolkenkratzer der Zentralbank gen Himmel: ein 172 Meter hohes phallisches Gebilde, das 2010 zur Feier der neoliberalen Wiedergeburt in Auftrag gegeben wurde, aber Anfang 2025 immer noch nicht fertig gebaut ist. Was einmal als Monument des Fortschritts gepriesen wurde, lässt die Bewohner Bagdads heute eher an unser rückständiges Bankensystem denken und an den durch Geldwäsche angeheizten Bauboom.
Etwas flussaufwärts liegt die „Brücke des 14. Juli“, die während des ersten Golfkriegs 1991 durch US-amerikanische Bomben teilweise zerstört wurde. Ende der 1990er Jahre wurde sie, noch unter Saddam Hussein, wiederhergestellt. Über diese Brücke gelangt man in die sogenannte Grüne Zone, ein etwa 10 Quadratkilometer großes Gebiet am Westufer des Tigris, das für den allgemeinen Verkehr teilweise gesperrt ist. In dieser Zone liegen – streng abgeriegelt – unter anderem das irakische Parlament und die US-amerikanische Botschaft.
Mittlerweile erlaubt der Staat – in dem Bemühen, ein Gefühl von Normalität herzustellen und die notorischen Verkehrsstaus zu minimieren –, dass die Autos nahe am Sitz der Macht vorbeifahren dürfen. Aber diese kurzzeitige Nähe kann die Kluft zwischen Obrigkeit und Bürgerschaft schwerlich beseitigen.
Wenn auf einer der breiten Avenuen ein Auto liegen bleibt, ist es sofort von Sicherheitskräften umstellt, bis es abgeschleppt wird. Und wer die Festung der US-Botschaft aufsuchen will, wird noch an der Außengrenze der Grünen Zone von Security-Leuten gefilzt und dann mit einem Shuttle-Bus zum Gebäude gefahren. Auch Angestellte von Institutionen, die innerhalb der Zone liegen, müssen an den Checkpoints ihre Zugangsausweise vorzeigen, ehe sie hineingelassen werden.
In der Grünen Zone finden sich auch monumentale öffentliche Kunstwerke, zu denen die Bagdader und Bagdaderinnen derzeit allerdings keinen Zugang haben. Da ist das 1982 errichtete Denkmal des Unbekannten Soldaten in Form eines riesigen, schwebenden Rundschilds; oder der Siegesbogen von 1989, der den „Triumph“ über den iranischen Feind feiert: zwei gekreuzte Schwertklingen, die einen 40 Meter hohen Bogen bilden, rechts und links gehalten von zwei monströsen Fäusten, die Saddams Händen nachgebildet sind.
Auf den Riesenplakaten entlang der Straßen sind zwei Gesichter allgegenwärtig, die an die beiden bösen Geister erinnern, von denen die Menschen in der Vergangenheit heimgesucht wurden: Qasim Soleimani, Anführer der iranischen Al-Quds-Brigaden, und Abu Mahdi al-Muhandis, Vizekommandeur der al-Haschd asch-Scha’bi (Volksmobilisierungseinheiten), die sowohl in Syrien als auch im Irak aktiv waren beziehungsweise sind. Beide wurden am 3. Januar 2020 bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Bagdad durch einen Drohnenangriff getötet, den US-Präsident Trump angeordnet hatte.
Die Präsenz Irans ist aber nicht nur durch diese Plakatwände spürbar. Die Regierung von Premierminister Mohammed Schia’ al-Sudani, der seit Oktober 2022 im Amt ist, steht unter starkem Einfluss Teherans. Sie stützt sich auf einen Block aus proiranischen schiitischen Kräften, der sich „Coordination Framework“ (CF) nennt. Der CF vereinigt Gruppierungen, die von altgedienten Politikern beherrscht und selbst von der schiitischen Jugend, die er angeblich repräsentiert, verachtet werden.
Im Irak herrscht ein ethnisch-religiöses Machtteilungssystem, das von Washington eingeführt wurde. Es sieht vor, dass der Premierminister ein arabischer Schiit, der Präsident ein kurdischer Sunnit und der Parlamentspräsident ein arabischer Sunnit sein muss. Damit wird der Klientelismus und die Segmentierung der Parteienlandschaft zementiert und jeder Versuch unabhängiger Kräfte, das System von innen zu verändern, im Keim erstickt.
Auf diese Weise konnten sich die Führer der ethnisch-religiösen Gemeinschaften – die alle ihre eigenen kommerziellen Interessen verfolgen – als zählebige Herrscherklasse etablieren, die im Oktober 2019 eine von Jugendlichen getragene Protestbewegung niederschlug. Ursachen der allgemeinen Empörung waren die rapide Verschlechterung der Lebensbedingungen und der Abbau der staatlichen Versorgungsleistungen; entsprechend war das Ziel der Aufständischen die Entmachtung der gesamten politischen Klasse.
Die regierende Koalition konnte auch den populistischen schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr von der Macht fernhalten, dessen Gefolgschaft korrupte Praktiken und die Verletzung von Menschenrechten vorgeworfen werden. Bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2021, die in Reaktion auf den erfolglosen Aufstand vorgezogen worden waren, ließ die Al-Sadr-Bewegung ihre schiitischen Konkurrenzparteien zwar hinter sich, brachte aber bis Sommer 2022 keine Regierungsmehrheit im Parlament zustande.
Angesichts der geschlossenen Front der von Teheran unterstützten Parteien sah al-Sadr keine Chance, die von ihm geforderte Reform des korrupten Systems durchzusetzen. Am 29. August 2022 verkündete er gegenüber seiner Partei den Rückzug aus der Politik. Daraufhin stürmten seine Anhänger die Grüne Zone, was zu Straßenkämpfen mit anderen bewaffneten Gruppen führte, bei denen mindestens 30 Menschen zu Tode kamen.
Allerdings waren die Sadristen an den Machenschaften des Establishments oft genug selbst beteiligt; sie waren als Minister tätig oder bekleideten hohe Posten in der staatlichen Bürokratie. Heute denken die Al-Sadr-Leute offenbar an ein politisches Comeback, doch Bagdad ist bis jetzt relativ ruhig geblieben. Niemand glaubt jedoch, dass das lange so bleiben wird.
Die Fassade der Ruhe bröckelt auch aufgrund des israelischen Zerstörungswerks in Gaza. „Tod den USA. Tod Israel. Verdammt seien die Juden“, kann man in Bagdad auf Bannern lesen. Durch das Leid des palästinensischen Volks fühlen sich viele Iraker:innen an ihr eigenes Schicksal unter der US-Besetzung erinnert.
Aber immer stärker wird die Lage in Gaza von den schiitischen Führern auch für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Im Oktober 2024 führte al-Sadr eine Demonstration im Zentrum von Bagdad an, bei der tausende seiner Anhänger und Anhängerinnen in weißen Leichenhemden ihre Bereitschaft zum Märtyrertod demonstrierten.
Viele in der arabischen Welt feierten diese Demonstration, genauso wie die Angriffe der irakischen Milizen gegen US-Soldaten. Im Irak versteht man dagegen sehr genau, dass die Sadristen solche Aktionen vor allem unternehmen, um sich als die entschlossensten Verteidiger der palästinensischen Sache zu inszenieren. Solche spektakulären Aktionen täuschen nicht zuletzt auch darüber hinweg, was für schlimme Zeiten die im Irak lebenden Palästinenser hinter sich haben.
Human Rights Watch und andere Menschenrechts-NGOs haben ausführlich dokumentiert, wie die schiitischen Milizen in den ersten Jahren der US-Okkupation und während der Kämpfe zwischen den Religionsgruppen immer wieder die palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung angegriffen hatten, weil die unter dem Saddam-Regime angeblich eine Vorzugsbehandlung genossen habe.
Dass es im heutigen Irak viel Sympathie für die palästinensische Sache gibt, ist allerdings verständlich, denn die irakische Bevölkerung kennt aus eigener Erfahrung das Gefühl, von aller Welt alleingelassen zu werden. Dennoch sollte man die früheren Übergriffe gegen die Palästinenser nicht vergessen, zumal schon lange vorher eine der ältesten irakischen Religionsgemeinschaften ein ganz ähnliches Schicksal erlitten hatte.
Die Juden des Irak bildeten über mehr als zwei Jahrtausende eine blühende Gemeinschaft, deren führende Persönlichkeiten bei den Sultanen in Istanbul und bei den Paschas im osmanischen Bagdad hohe Achtung genossen. Scheich Sasson Ben Saleh Sasson, der Patriarch der jüdischen Gemeinde von Bagdad, wurde 1781 vom osmanischen Pascha zum Stadtkämmerer ernannt. Und der Bagdader Bankier Ezekiel Gabbay war Schatzmeister und Berater von Sultan Mahmud II. (1808–1839).
Bis zur Gründung des israelischen Staats zeigte die große Mehrheit der 135 000 irakischen Juden nur wenig oder gar kein Interesse für das zionistische Projekt. Noch weniger kam ihnen in den Sinn, ihre Heimat aufzugeben und in einen ethnisch exklusiv jüdischen Staat umzusiedeln. Im Januar 1948 demonstrierten die Bagdader Juden Seite an Seite mit ihren muslimischen und christlichen Nachbarn gegen die irakische Regierung und gegen die Unterzeichnung des Portsmouth-Vertrags, der die irakische Monarchie faktisch zu einem britischen Protektorat machte. Dieser Aufstand namens al-Wathba („der Sprung“) zwang den Premierminister Salih Jabr zum Rücktritt und den Regenten und Kronprinzen Abd ul-Ilah zur öffentlichen Distanzierung von dem Vertrag.

Mit Schmerz hinreichend versorgt
Doch das Regime nahm blutige Rache, nach Angaben des Historikers Hanna Batatu wurden damals hunderte Zivilisten getötet. Kinos in jüdischem Besitz wurden geschlossen, Alkoholläden mussten den Ausschank stoppen, und die Lichter in der Ar-Raschid-Straße im Zentrum von Bagdad „blieben zum Zeichen der allgemeinen Trauer sieben Nächte lang abgeschaltet“, wie die Historikerin Orit Bashkin 2016 in einem rückblickenden Essay schrieb.
In seinen „Memoirs of an Arab Jew“ (London, 2024) schildert der Historiker Avi Shlaim das Bagdad seiner Kindheit in den 1940er Jahren als „eine multiethnische Metropole, die Heimat für unterschiedliche Minderheiten war, übersät mit Moscheen, Kirchen und Synagogen“. Die Beziehungen mit den christlichen und muslimischen Nachbarn waren „von religiösen Differenzen unbelastet“, schreibt Shlaim, dessen Familie damals in einem alten Stadtviertel in der Nähe des Tahrir-Platzes wohnte. Am westlichen Ende dieses Platzes steht das 1961 errichtete Freiheitsdenkmal (Nasb al-Hurriyah)mit seinen 14 Bronzereliefs, die auf einer rechteckigen, 50 Meter breiten Kalksteintafel montiert sind.
Die Reliefs schildern, von rechts nach links gelesen wie eine arabische Gedichtzeile, die Geschichte der Revolution von 1958, die der probritischen Monarchie ein Ende setzte. Es war ebenfalls der Tahrir-Platz, auf dem im Oktober 2019 Zehntausende zusammenströmten, um für ein freies Irak zu demonstrieren. Die Antwort der Staatsmacht waren Gewehrkugeln und Gasgranaten.
Fünf Jahre später, im Sommer 2024, sah ich zu, wie ein Autokonvoi mit jubelnden Mitgliedern der al-Haschd asch-Scha’bi um den Tahrir-Platz kreiste. Begleitet von lauter Musik, reckten die Männer ihre Gewehre in die Luft, sie feierten den zehnten Gründungstag ihrer paramilitärischen Organisation.
Der Haschd war 2014 gegründet worden, nachdem der Islamische Staat (IS) ganze Landstriche im Nordwesten des Irak erobert hatte – ein tödliches Versagen des Staats, für das viele Menschen bis heute einen hohen Preis zahlen, weil sie zu Vertriebenen wurden.
Zehn Jahre später saßen viele schwarz gewandete Frauen, die man mit Bussen nach Bagdad gekarrt hatte, auf ihren Klappstühlen und klatschten Beifall. Ich musste daran denken, was sich alles seit den Kindheitstagen von Shlaim geändert hat. Der schreibt in seinen Memoiren, dass die meisten Häuser im alten Batawin-Viertel (südlich des Tahrir-Platzes) private Villen mit großen Gärten waren. Als ich jetzt durch die Straßen dieser vormals reichen, von Menschen unterschiedlicher Herkunft bewohnten Gegend wanderte, sah ich im Schatten einer Zeltplane einen toten Menschen liegen. Offenbar die Leiche eines Obdachlosen, umringt von uniformierten Polizisten.
Nicht weit von hier lebte Sha’ul Hakham Sasson. Er war der Sohn von Sasson Kaduri, der bis zu seinem Tod im Jahr 1971 Oberrabbiner von Bagdad und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde war. Kaduri versuchte Zeit seines Lebens, seine sterbende Gemeinschaft von den Ausstrahlungen des Palästinakonflikts abzuschirmen. Sein Sohn Sha’ul wollte den greisen Vater nicht allein lassen und blieb mit ihm auch dann noch in ihrem Bagdader Familienanwesen, als 1951 die meisten irakischen Juden das Land verließen. Auslöser dieses Exodus war die wütende Reaktion ihrer arabischen Nachbarn auf den Verlust von Palästina.
Kurz nach dem Militärputsch unter Führung der Baathisten, der im Juli 1968 die korrupte Arif-Herrschaft beendet hatte, wurde Sha’ul verhaftet und in das berüchtigte Verhörzentrum Qasr al-Nihaya im Westen von Bagdad verbracht. In diesem „Palast des Endes“ wurde er gefoltert und wäre fast gestorben.
1999 hat Sha’ul Hakham Sasson seine Memoiren auf Arabisch veröffentlicht. Darin beschreibt er die fortwährend schrumpfende Welt der Juden und Jüdinnen, die unter den misstrauischen Augen des Staats im Irak geblieben waren. Und er schildert, wie er die „365 Tage im Palast des Endes“ überlebt hat, den er im Titel seines Buchs „die Hölle von Saddam Hussein“ nennt.
„Am Schluss hielt ich es einfach nicht mehr aus und begann, meinen Körper gegen die Tür zu werfen, wohl wissend, dass man mich dafür bestrafen würde. Aber ich wollte allem ein Ende machen, selbst wenn sie mich hinrichten würden.“ Am Ende kam er wieder frei. Der „Palast des Endes“ wurde 1973 geschlossen, nachdem ein Putsch von Saddams damaligem Geheimdienstchef Nadhim Kazar gescheitert war.
Doch seitdem haben sich die Bagdader Juden von ihren uralten Wurzeln getrennt, einer nach dem anderen. So auch der Dichter Mir Basri, der nach dem Tod von Sasson Kaduri das Amt des Gemeindevorstehers übernommen hatte. Mir Basri wanderte 1974 aus, zunächst nach Amsterdam und dann nach London, wo er ein Gedicht schrieb, in dem er den Wunsch ausdrückte, im Leben nach dem Tod wieder in seine Heimat zurückzukehren, „in den Schatten von Dattelpalmen / wo die Träume der Jugend wie Tränen in die Augen steigen“.
Mir Basri starb 2006, wie so viele Menschen aus dem Irak dazu verdammt, sein Leben großenteils im Exil zu verbringen.
Bei meiner Rückkehr nach Bagdad besuchte ich auch ein von der französischen und der deutschen Botschaft organisiertes Kurzfilm-Screening. Die Veranstaltung fand im Abbasiden-Palast statt. Der aus dem 12. Jahrhundert stammende Bau hat einen wunderbaren schlanken Torbogen, der auf das Tigrisufer weist und sich nach innen zu zweistöckigen, von Stalaktitengesims überwölbten Arkaden öffnet, die einen offenen Innenhof umrahmen, in dessen Mitte eine große Brunnenschale steht.
Auf dem Dach des Arkadengangs standen Security-Leute. Die deutsche Botschafterin sprach in ihrem Grußwort vage von „Hoffnung“. Als Erstes wurde ein Film von Mohammed Alghadhban gezeigt, der 2022 entstand. Unter dem Titel „Earth is Weeping, Its Water are Tears“ beschäftigt er sich auf recht klischeehafte Weise mit dem irakischen Trauma und zielt offenbar auf ein europäisches Publikum ab. Die Kamera bleibt auf das Gesicht des Protagonisten gerichtet, wie er zwischen Ruinen umherwandert. Viele der Iraker:innen im Publikum gingen, noch bevor der 15-minütige Film zu Ende war. Mit Schmerz auf der Leinwand oder im Fernsehen ist man hinreichend versorgt, und irgendwann reicht es einfach.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Nabil Salih ist Autor und Fotograf aus Bagdad. Er lebt in New York.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin