Geisterwirtschaft im Niemandsland
von Atossa Araxia Abrahamian

Schon mein Leben lang hatte ich das Gefühl, dass an der Stadt meiner Kindheit irgendetwas seltsam war. Ich spreche von der Stadt Genf in der Schweiz, wobei ihr Standort längst nicht alles sagt. Genf beherbergt die Vereinten Nationen, die Weltgesundheitsorganisation und hunderte weitere internationale Organisationen und NGOs sowie tausende Diplomaten, Konsuln, ausländische Arbeitskräfte und ihre Familien. Es gibt dort mehr multinationale Konzerne, als ich auflisten kann. Fast die Hälfte der Genfer Bevölkerung stammt ursprünglich nicht aus der Schweiz. Ohne Auswärtige wäre die Stadt nichts.
Ich bin und bleibe ein Teil dieser Welt für sich – einer Welt, die von einer gewissen Ortlosigkeit geprägt ist. Die Jobs meiner Eltern – mein Vater war Ökonom in der Unctad, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, und meine Mutter Konferenzdolmetscherin – vermittelten mir das Gefühl, irgendwo anders zu sein. Meine Mitschüler schienen alle paar Jahre umzuziehen, wodurch für mich der Eindruck entstand, als würde auch ich ständig umziehen, obwohl ich die Stadt damals so gut wie nie verließ.
Doch es gab noch einen anderen, weniger offensichtlichen Grund für mein Unbehagen in Bezug auf Genf. Er betraf die Regeln: wer sie machte, wer sie befolgte und wo und für wen sie nicht galten. Als Jugendliche beobachtete ich, wie die Diplomatenkinder von der Immunität profitierten, die mit dem Status ihrer Eltern einherging: Sie kamen stets ungeschoren davon, wenn sie von der Polizei beim Rasen erwischt wurden oder beim Grasrauchen im Park. Ein weiteres Privileg war der steuerfreie Einkauf: Wer als Ausländer in eine bestimmte Beschäftigungskategorie fällt, für den ist die ganze Welt ein Duty-free-Shop.

Die Diplomaten, stellte ich fest, waren nur der sichtbare Teil der Genfer Sonderregelungen. In der Hauptgeschäftsstraße der Stadt lagerten Privatbanken Informationen, zu denen nicht einmal die Schweizer Regierung Zugang hatte: über die Geheimkonten abgesetzter Monarchen und die unrechtmäßig erworbenen Gewinne multinationaler Steuerhinterzieher und -vermeider. Und unweit des Freibads, in dem ich schwimmen gelernt hatte, befand sich das Genfer Zollfreilager, das außerhalb der Schweizer Zollbehörden agierte. Einerseits steht die Zusammensetzung der Stadt für eine vertraute, greifbare, unvollkommene, oftmals liebenswürdige Internationalität, die Menschen aus allen Ländern zur selben Zeit am selben Ort in friedlicher Harmonie zusammenführt.
Doch gleichzeitig ist hier noch etwas anderes im Gange – etwas, das man nicht sehen kann, dessen Einfluss auf seine Umgebung aber genauso mächtig ist wie der Globalismus in Fleisch und Blut. Ich nenne es die Geisterwirtschaft: die abgehobenen, abgefahrenen und doch erstaunlich lukrativen Transaktionen, die nicht in Genf, sondern von Genf aus getätigt werden. Die Stadt ist voller Kanäle und Zwischenlager für einen Kapitalismus, der aus der Ferne gelenkt wird. Sie fungiert weniger als Ort, an dem Dinge geschehen, denn als Durchgang zu anderen Welten. Und es gibt noch viele andere Orte, die ganz ähnlich funktionieren.
Erst nachdem ich von Genf nach New York gezogen war, ging ich daran, all die Puzzleteile zu einem größeren Ganzen zusammenzusetzen. Ich begriff allmählich, dass Räume, die einer überraschenden oder unkonventionellen Gerichtsbarkeit unterstehen – Botschaften, Freihäfen, Steueroasen, Containerschiffe, arktische Archipele und tropische Stadtstaaten –, das Herzblut der globalen Wirtschaft und ein bestimmender Teil unseres Alltags sind.
Betrachten wir den Welthandel: Trotz ihrer rohen Materialität ist die Schifffahrt abhängig von abstrakten Konstrukten, die spezielle Wirtschaftszonen schaffen, ausländischen Unternehmen die Kontrolle der Häfen gewähren, Binnenstaaten erlauben, Gefälligkeitsflaggen zu verkaufen, und Reedereien Schlupflöcher öffnen, um billige Arbeitskräfte anzuheuern. Die Transaktionen, die die Bewegungen dieser Güter finanzieren – die stille Verschiebung schamlos hoher Summen auf Bildschirmen –, folgen ebenfalls nicht zwangsläufig einer gradlinigen Geografie. Die Routen, auf denen Menschen, Gelder und Dinge Länder und Meere durchqueren, sind nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Orten. Sie sind gewunden, stockend und umständlich – und das hat Methode.
Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 193 aktive „Freihandelszonen“, die von den Zollvorschriften befreit sind. Sie beschäftigen um die 460 000 Menschen und sehen im Laufe eines Jahres Waren im Wert von mehreren hundert Milliarden Dollar kommen und gehen – von Autoteilen bis hin zu Pharmazeutika –, die dort gelagert, umfunktioniert oder zusammengebaut werden. In einer Welt, die laut aktueller Zählung aus 192 Ländern besteht, gibt es schätzungsweise dreitausend solcher speziellen Zonen.
In China tragen Sonderwirtschaftszonen nach Schätzung der Weltbank 22 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, 45 Prozent zum Gesamtvolumen ausländischer Direktinvestitionen und 60 Prozent zu den Exporten.
Oder nehmen wir die Kultur. In speziellen zollfreien Depots werden neben Kisten voller Wein stapelweise Gold und Truhen voller Schmuck auch Kunstwerke im Wert von vielen Milliarden Dollar vermutet. Der Schaden ist hier zweifach: Nicht nur, dass niemand vor Ort ist, um die weggesperrten Monets und Picassos zu bewundern, zu studieren und zu verstehen, ihre Besitzer halten sie möglicherweise aus ruchloseren Gründen versteckt, zum Beispiel, um Steuern zu vermeiden oder einen Rechtsstreit zu umgehen.
Als Donald Trump zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war, schwadronierte er davon, dem „Globalismus“ ein Ende setzen zu wollen. Narendra Modi, Victor Orbán, Jair Bolsonaro und Rodrigo Duterte hatten mit unverhohlen nationalistischen Parolen die Wahlen in Indien, Ungarn, Brasilien und auf den Philippinen gewonnen. Die Briten bereiteten sich darauf vor, den Brexit einzuleiten, während europäische Staaten sich mühten, ihr propagiertes Engagement für Menschenrechte mit einer großen Zahl Asylsuchender in Einklang zu bringen, die an ihren Grenzen aufschlugen.
Experten proklamierten das nahende Ende der Ära unbekümmerter Globalisierung, und nationalistische Politiker warfen ihnen Brocken zu in Form von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und dem einen oder anderen Schutzzoll.
In einschlägigen Zeitungen wie der Financial Times, dem Economist, auf den CNBC-Nachrichtenkanälen sowie auf dutzenden Webseiten sagten Kolumnisten den „Männern von Davos“ Lebewohl. Der Nationalstaat ist zurück, Schätzchen!
Die sogenannten Globalisierungsgegner agierten dabei im Grunde ausgesprochen global. Donald Trump betrieb weltweit Hotels und Golfplätze und zeigte überdies eine gewisse Schwäche für ausländische Frauen. Auch seine profilierte Entourage schien ständig mit einem Fuß im Ausland zu sein. Peter Thiel, vom libertären Investor zum konservativen Großspender mutiert, hatte sich just zum Zeitpunkt, da er Trumps America-First-Ideologie propagierte, die neuseeländische Staatsbürgerschaft erkauft. Steve Bannon, in der Presse oft als Trumps Superhirn ausgemacht, tat sich mit Nationalisten aus anderen Ländern zusammen, um seine Vision von geschlossenen Grenzen zu globalisieren – und das alles in einem italienischen Schloss.
Die Kluft zwischen dem, was die Männer und Frauen in Trumps Entourage nach außen darstellten, und dem, was sie tatsächlich taten – nicht nur in ihrem Privatleben, auch mit ihrem Geld und beruflich –, scheint mehr zu verraten als nur opportunistische Heuchelei. Die Diskrepanz suggeriert, dass das System, in dem wir alle leben, nur dazu dient, geschlossene Grenzen mit der kapitalistischen Maxime eines freien Handels zu versöhnen.
Ich stieß auf Orte, an denen diese Versöhnung stattfinden konnte. Sie liegen versteckt, über, unter und manchmal auch innerhalb von Nationen, in speziellen Rechtsräumen, die größtenteils im Verborgenen liegen, und in Gesetzen, die sich so weit über die Grenzen eines Landes hinaus dehnen, dass sie physisch außer Reichweite sind.
Weil es diese Orte gibt, können Politiker über Grenzen, Zölle und Mauern sprechen, ohne die Wirtschaft zu verprellen. Dieses Himmel-und-Hölle-Spiel, so der Ökonom Ronen Palan 2003 in seinem hellsichtigen Buch „The Offshore World“, biete Staaten „einen politisch annehmbaren, wenn auch ungeschickten Weg, die wachsenden Widersprüche zwischen ihrer territorialen, nationalistischen Ideologie und ihrer Befürwortung einer kapitalistischen Akkumulation im globalen Maßstab in Einklang zu bringen“.
Diese Orte sind nicht unbedingt geheim, liegen aber so weit verstreut, dass sie auf den ersten Blick nicht als ein Netz oder System, sondern als kuriose Einzelphänomene wahrgenommen werden. Das ist einer der Gründe, warum sie vor unser aller Augen so unsichtbar bleiben.
Wir neigen dazu, uns als Bürger oder zumindest als Bewohner eines Landes zu begreifen. Schließlich beinhalteten die Lektionen, die den meisten von uns in der Schule begegneten, eine Weltkarte. Darauf waren, mittels Linien fest umrissen, verschiedene Staaten eingezeichnet. Jeder Staat, erfuhren wir, habe eine Regierung; und jede Regierung lenke ihr Land, seine Angelegenheiten und seine Bevölkerung.
Das Modell „ein Land, ein Gesetz, ein Volk, eine Regierung“ ist vorherrschend, mächtig und oft auch zutreffend. Es bildet die Grundlage für einen Großteil des nationalen und internationalen Rechts.
Das Konstrukt Niemandsland ist gleichsam die Umgestaltung dieser Karte mit zunehmend mehr Spalten und Zugeständnissen, vorübergehenden Aufhebungen und Abstraktionen, Ausnahmen, Freizonen und anderen Orten ohne Nationalität im herkömmlichen Sinn, die sich vom Meeresboden bis ins Weltall erstrecken. Dieses Niemandsland ist eine gewinnsüchtige Weltordnung, in der die Befugnis, Gesetze zu machen und zu gestalten, gekauft, verkauft, gehackt, neu gestaltet, ent-territorialisiert, re-territorialisiert, transplantiert und neu gedacht wird.
Es ist die über die Grenzen eines Staates hinauskatapultierte Staatsmacht. Es ist auch der selektive Verzicht eines Staates auf bestimmte Befugnisse innerhalb seiner Zuständigkeit: Enklaven, die nicht ohne Gesetze sind, sondern anderen Gesetzen unterstehen.
Der Wunsch nach Ausnahmen von der Regel ist nicht neu: Gemeinschaften haben schon immer gesonderte Orte geschaffen – Orte der Kontemplation, des Rituals und des Gebets. Die Kelten nannten sie „dünne Orte“, weil dort der Abstand zwischen Himmel und Erde angeblich kürzer war.
Heutzutage sind unsere Anderswos oder Nirgendwos nicht dem Opfer, sondern der Flucht vorbehalten. Sie erinnern uns an die Neuheit unserer Welt der umgrenzten unabhängigen Staaten – eine Gussform, deren Inhalt erst nach der Entkolonialisierung allmählich aushärtete – und an ihre Verwundbarkeit gegenüber mächtigeren Kräften.
Kapitalisten, unentwegt auf der Jagd nach Profit, betrachten Offshore-Rechtsräume als ihr Niemandsland. Doch ist das kein unbekümmertes System offener Grenzen.
Während es den Anschein hat, als untergrabe die Existenz von Niemandsland den Mythos von der sinnhaften, geeinten Nation, ist das Konzept der Nation viel zu beharrlich und politisch zu gut verwertbar, um es gänzlich abzuschaffen. Das Konstrukt Niemandsland kann sogar dem allerfremdenfeindlichsten, allerausgrenzendsten Nationalismus Vorschub leisten. Und solche Strategien sind nicht nur der politischen Rechten vorbehalten: Konservativ oder liberal, die Regime zielen darauf ab, die richtigen Leute hineinzubringen und die falschen draußen zu halten.
Das Niemandsland hemmt die Leben derjenigen, die auf dieser Welt am wenigsten Rechte haben: die Insassen der Offshore-Asyllager in der Karibik und im Pazifik, die verarmten Arbeiter in Indien, die in zollfreien Produktionszonen Güter für den Export fertigen, die Seeleute und Asylsuchenden, die wegen fehlender Papiere auf Schiffen festsitzen.
Wann immer ein Mensch nicht in der Heimat bleiben kann und im Ausland unerwünscht ist, endet er möglicherweise an einem dritten Ort: weder hier noch dort. Diese Orte zu erkennen, hat meine Sicht auf die Welt grundlegend verändert.
In einer Zeit, da Geld überproportional von ärmeren Ländern in reiche transferiert wird und nicht umgekehrt, müssen wir über die Mechanismen nachdenken, die dergleichen ermöglichen. Wenn Waren zu 90 Prozent auf Schiffen transportiert werden, die ihre Verantwortung für Kohlendioxidemissionen oder Arbeitsbedingungen ganz einfach umgehen können, werden unsere Meeresfrüchte am Ende von Sklaven verarbeitet, erreichen uns unsere Waschmaschinen mit einem Packen Umweltverschmutzung als Zugabe. Eine permanente Flüchtlingspopulation, ganz gleich wo, wirft einen dunklen Schatten auf unser Engagement für Menschenrechte und Anstand – einen dunklen Schatten auf uns alle, die wir in demokratischen Staaten leben.
Eine Rückkehr zum Nationalismus ist nicht die Lösung. Um zu wissen, wo wir stehen – politisch, wirtschaftlich und auch physisch –, müssen wir die Risse zwischen den Grenzen ausleuchten. Nur dort erkennen wir unser wahres Spiegelbild in dieser Welt – und können damit beginnen, eine bessere zu bauen.
Atossa Araxia Abrahamian ist eine in New York lebende schweizerisch-iranisch-kanadische Journalistin. Dieser Text ist eine gekürzte Fassung der Einleitung zu ihrem Buch, das am 28. Mai erscheint: „Schmutzige Geschäfte im Niemandsland“, aus dem Englischen von Irmengard Gabler, Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2025. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.