07.05.2025

Macht der Ideen

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Macht der Ideen

Vom Christentum bis zum Neoliberalismus

von Perry Anderson

Carlo Krone, heiße luft, 2023, Acryl, Öl und Acrylharz auf Baumwolle, 180 × 140 cm Courtesy Galerie Thomas Fuchs
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Welche Rolle spielen ­Ideen bei politischen Umbrüchen von großer historischer Tragweite? Stellen sie nur die geistige Oberfläche von tiefer liegenden materiellen und sozialen Entwicklungen dar oder verfügen sie über effektive eigenständige Macht, die politisch mobilisierend wirken kann?

Die Antworten auf diese Fragen fügen sich überraschenderweise nicht in das vertraute Links-rechts-Schema. Natürlich haben viele konservative und liberale Köpfe die universale historische Bedeutung hehrer Ideale und ethischer Werte hochgehalten und ihre radikalen Gegenspieler, denen die ökonomischen Widersprüche als Motor des historischen Wandels gelten, als nichtswürdige Materialisten denunziert.

Prominente Vertreter eines solchen rechten Idealismus sind etwa Friedrich Meinecke, Benedetto Croce oder Karl Popper. Dem halten allerdings andere Geistesgrößen der Rechten entgegen, überkommene Sitten und Bräuche oder biologische Instinkte hätten einen weitaus dauerhafteren Einfluss als gekünstelte Doktrinen, die sie als rationalistische Wahngebilde abtun.

Auch waren es rechte Denker wie der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Historiker Lewis Namier oder der Ökonom Gary Becker, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln eine Theorie der materiellen Interessen formuliert haben, um den Geltungsanspruch ethischer oder politischer Werte zu zerpflücken. Die bekannteste zeitgenössische Variante dieses Ansatzes ist die „ra­tio­nal choice theory“, die in den angelsächsischen Sozialwissenschaften dominiert.

Dieselbe Dichotomie findet sich allerdings auch im linken Spektrum. So interessiert sich Fernand Braudel, einer der bedeutendsten Historiker der Moderne, überhaupt nicht für die Rolle von Ideen, während etwa R. H. Tawney deren Einfluss nachdrücklich betont. In den Reihen der britischen Marxisten stehen sich die Positionen eines Edward Thompson und eines Eric Hobsbawm gegenüber: Thompson hat Zeit seines Schaffens gegen einen „ökonomischen Reduktionismus“ polemisiert, während Hobsbawm in seinen Büchern zur Geschichte des 20. Jahrhunderts dem Wirken der Ideen nicht ein einziges Kapitel gewidmet hat.

Denselben Gegensatz finden wir, sogar noch zugespitzt, in der Politik und bei ihren Protagonisten. 1899 erklärte der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein: „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.“ Gibt es eine krassere Abwertung der Ideen oder der Prinzipien zugunsten des nackten realen Geschehens? Drei Jahre später stellte Lenin in „Was tun?“ eine ebenso berühmte Maxime auf, die das genaue Gegenteil postulierte: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“

Der Gegensatz zwischen Bernstein und Lenin ist jedoch nicht allein auf die Divergenz zwischen Reformisten und Revolutionären zurückzuführen. Eine ähnliche Differenz gab es auch innerhalb der revolutionären Linken: Für Rosa Luxemburg galt der Satz: „Am Anfang war die Tat.“ Demnach gingen die großen historischen Veränderungen nicht von vorgefassten Ideen, sondern von spontanen Aktionen der Massen aus. In diesem Punkt hatte sie die Anarchisten stets auf ihrer Seite.

Die Gegenposition vertrat Antonio Gramsci: Für ihn konnte die Arbeiterbewegung niemals dauerhafte Erfolge erzielen, wenn sie nicht ihre Ideen durchsetzen, also „eine kulturelle und politische Hegemonie“ über die gesamte Gesellschaft einschließlich ihrer Feinde errichten konnte.

Und wo die Revolution an die Macht kam? Auch hier haben wir einerseits Stalin, der beim Aufbau des Sozialismus ganz auf die Entwicklung der Produktivkräfte setzte, und andererseits Mao, der eine Kulturrevolution forcierte, die überkommenen Mentalitäten und Gewohnheiten überwinden und ersetzen sollte.

Wie lässt sich dieser historisch überkommene Gegensatz austarieren? Ideen treten in sehr unterschiedlicher Gestalt auf. Wo sie zu großen historischen Veränderungen beigetragen haben, waren sie in der Regel systematisch ausgearbeitete Ideologien.

Für den konservativen amerikanisch-britischen Dichter und Denker T. S. Eliot besteht jedes umfassendere Glaubenssystem aus einer Hierarchie von Versionen unterschiedlicher Komplexität. Auf oberster Ebene sind dies äußerst subtile intellektuelle Konstrukte, die sich nur einer Bildungselite erschließen. Darunter liegt eine mittlere Ebene von breiter angelegten und weniger ausgefeilten Glaubenssätzen und ganz unten die Ebene grobschlächtiger und simpelster Versionen für das gemeine Volk.

All diese Ebenen von „Kultur“ – oder eben „Ideologie“ – bilden für Eliot jedoch eine Einheit, die durch ein gemeinsames Idiom und ein Ensemble symbolischer Handlungen zusammengehalten wird. Nur ein derart totalisiertes System könne den Begriff einer echten Kultur für sich beanspruchen und vermöge große Kunstwerke hervorbringen.

Als Paradebeispiel eines solchen Systems schwebte Eliot natürlich das Christentum vor, das überaus obskure theologische Spekulationen mit altbekannten ethischen Geboten und naivem Aberglauben verbindet und seine Lehren auf Erzählungen und Bilder stützt, die einem gemeinsamen Kanon heiliger Schriften entstammen.

Um die Hypothese von der Rolle der Ideen bei großen historischen Umbrüchen auf den Prüfstand zu stellen, bieten sich die Weltreligionen, die sich in der sogenannten Achsenzeit herausgebildet haben – nach Karl Jaspers der Zeitraum zwischen dem 9. und dem 3. vorchristlichen Jahrhundert –, als erster und überaus geeigneter Testfall an.

Der enorme Einfluss dieser Glaubenssysteme – räumlich über weite Teile der Welt und zeitlich über mehrere Jahrtausende – steht außer Zweifel. Allerdings ist es ziemlich schwer, die Ursprünge der Lehren – etwa von Konfuzius, Buddha (Gautama) oder Platon – in vorausgehenden materiellen oder sozialen Umbrüchen aufzuspüren, die den umwälzenden Wirkungen und der Verbreitung dieser Lehren entsprochen hätte.

Man kann allenfalls sagen, dass die Ausbreitung eines universalistischen Monotheismus – etwa des Christentums – durch die Vereinheitlichung des Mittelmeerraums unter dem Imperium Romanum begünstigt wurde. Oder in Bezug auf den Islam, dass eine militarisierte Nomadenkultur, die in einer Wüstenregion einem ständigem demografischen Druck ausgesetzt war, irgendwann eine eigene Religion hervorbringen würde.

Beide Beispiele verweisen freilich auf ein Missverhältnis zwischen ermittelbaren Ursachen und Folgen, das stark dafür spricht, den Ideen – zumindest für diese Epoche – eine bemerkenswerte, ja außerordentliche autonome Macht zuzubilligen. Wobei der politische Einfluss der verschiedenen Religionen natürlich nicht direkt zu vergleichen ist.

Das Christentum hat ein bestehendes Weltreich schrittweise von innen umgewandelt, ohne die sozialen Strukturen wesentlich zu verändern. Aber mit der Kirche entstand parallel zu dem Staat, der den Zusammenbruch des Imperiums überlebt hatte, ein weiträumiges Geflecht von Institutionen, das eine minimale kulturelle und politische Kontinuität im Übergang zur Epoche des Feudalismus garantierte. Im Gegensatz dazu hat der Islam die politische Landkarte des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens mit seinem militärischen Eroberungsfeldzug handstreichartig neu gezeichnet.

In beiden Fällen jedoch kam das neue Glaubenssystem bei der „Eroberung“ der Region ohne das aus, was man in späteren Epochen als „Kampf der Ideen“ bezeichnet. Zwischen Heiden und Christen wie auch zwischen Christen und Muslimen gab es zwar ideologische Dauerfehden. Aber die Konversion zum neuen Glauben vollzog sich – in Rom wie in Kairo – vornehmlich durch Osmose oder Gewalt, ganz ohne die Artikulation ideologischer Kontroversen.

Das änderte sich mit dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Die protestantische Reformation war, anders als die Lehre Christi oder Mohammeds, von Beginn an ein ausformuliertes System – oder besser ein Ensemble von Doktrinen –, das Luther, Zwingli und Calvin in ihren Streitschriften ausformulierten, bevor es zum Instrument politischer respektive institutioneller Macht wurde.

Da die Reformation noch nicht so weit zurückliegt, lassen sich ihre sozialen und materiellen Entstehungsbedingungen leichter ermitteln, als da sind: die Korruption der katholischen Kirche in der Renaissance, das Aufkommen von Nationalgefühl, der ungleiche Zugriff der europäischen Staaten auf den Vatikan oder die Verbreitung des Buchdrucks.

Das ikonoklastische Arsenal der Aufklärung

Aufschlussreicher ist jedoch, was auf die Reformation folgte. Die Gegenreformation innerhalb der katholischen Kirche eröffnete einen totalen ideologischen Kampf zwischen den Glaubenslagern, und das sowohl auf der höchsten Ebene einer metaphysischen und intellektuellen Debatte als auch mit dem Instrumentarium der volkstümlichen „Propaganda“ (das Wort entstammt dieser Epoche).

Das Ergebnis war eine heillose Serie von Aufständen, Kriegen und Bürgerkriegen in allen Ecken Europas. Nie zuvor gab es eine Epoche, in der Ideen so direkt historische Umwälzungen ausgelöst und beeinflusst haben. Auch keine der späteren Revolutionen ging so direkt auf intellektuelle Überzeugungen zurück wie die ersten großen Erhebungen, die in Europa zur Entstehung einer ganzen Reihe von modernen Staaten führten: der Aufstand der Niederlande gegen Spa­nien (1568–1609) sowie in England der Bürgerkrieg (1642–1651) und die „Glorreiche Revolu­tion“ von 1688/89.

Direkter Auslöser der Revolution war in allen drei Fällen eine wilde Eruption theologischer Streitigkeiten. In den Niederlanden war es der „Bildersturm“ auf katholische Kirchen im Namen der „Reinheit der Schrift“; beim Englischen Bürgerkrieg die umstrittene Einführung eines neuen Gebetsbuchs für Schottland (1637); bei der Revolution von 1688 der ewige Streit um die Toleranz gegenüber den englischen Katholiken.

Im Kontrast dazu war der Ausbruch der Amerikanischen und der Französischen Revolution im 18. Jahrhunderte weit stärker durch materielle Faktoren determiniert. Die erste Attacke gegen die alte Ordnung wurde in beiden Fällen nicht durch eine ausformulierte Ideologie inspiriert. Auslöser der Rebellion gegen die britische Monarchie in den nordamerikanischen Kolonien war vielmehr das ökonomische Eigeninteresse der Siedlerbevölkerung: die Weigerung, Steuern zu zahlen, mit denen die englische Krone die militärischen Aktionen – gegen die indigene Bevölkerung und gegen die Franzosen – finanzieren wollte.

In Frankreich wiederum führte die Krise der Staatsfinanzen, mit verursacht durch die Unterstützung der amerikanischen Rebellen, zunächst zur Einberufung der „Generalstände“. Doch die anvisierte Reform dieser überholten feudalen Institution wurde hinfällig, als sich in Stadt und Land der Volkszorn ausbreitete, der durch eine schlechte Ernte und hohe Getreidepreise angeheizt wurde.

In beiden Fällen war der Zusammenbruch der alten Ordnung kein bewusst angestrebtes Ereignis, sondern eine Entwicklung, die eher durch materielle Missstände als durch ideologische Zwistigkeiten vorangetrieben wurde. Im Hintergrund des Geschehens stand jedoch die gesamte kritische Kultur der Aufklärung mit all ihren potenziell explosiven Ideen, die gleichsam nur darauf warteten, durch solche einmaligen historischen Konstellationen aktiviert zu werden.

Nur dank dieses schon vorhandenen ikonoklastischen Arsenals konnte die Auflösung der bestehenden in die revolutionäre Erschaffung einer neuen Ordnung überführt werden – und ein ideologisches Panoptikum entstehen, in dem wir uns bis heute bewegen.

Die zentrale Hinterlassenschaft der Weltreli­gio­nen war ein metaphysischer Universalismus, die der Reformation wiederum der Individualismus. Das ideologische Erbe, das die Revolutionen in der Epoche der Aufklärung hinterlassen haben, sind vor allem die Begriffe der Volkssouveränität und der Bürgerrechte. Beide benennen freilich nur die formalen Voraussetzungen für eine freie Gestaltung der Gesellschaft.

Die entscheidende Frage lautete damit, wie genau diese gesellschaftliche Gestalt – im Kern also das Gemeinwohl – aussehen sollte. Darauf gab es seit Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert drei ganz unterschiedliche Antworten.

Das ideologischen Kampfterrain dieses Zeitalters war seit 1848 abgesteckt. Mit dem „Kommunistischen Manifest“ wurde ganz Europa vor die Wahl gestellt, die später für die ganze Welt galt: Kapitalismus oder Sozialismus? Die Menschheit stand zum ersten Mal vor zwei klar umrissenen, radikal antithetischen Entwürfen gesellschaftlicher Organisation.

Doch deren theoretische Ausformulierung war asymmetrisch. Der Sozialismus erarbeitete sich eine umfassende, differenzierte, selbstbestimmte „theoretische Basis“, die zugleich Anleitung für die politische Bewegung und Bestimmung des historischen Endziels war. Dagegen bekannte sich der Kapitalismus im 19. und weitgehend auch im 20. Jahrhunderts nur in Ausnahmefällen zu seinem Namen; selbst der Begriff war ja im Grunde eine Erfindung seiner Gegner.

Die Verfechter des Privateigentums – und Hüter des Status quo – beriefen sich vielmehr auf konservative oder liberale Prinzipien, statt eine explizit kapitalistische Ideologie zu propagieren. Allerdings blieben die Ersatzbegriffe „konservativ“ und „liberal“ eher im Vagen. Nicht wenige konservative Denker – wie Thomas Carlyle oder Charles Maurras – ereiferten sich gegen den Kapitalismus; und einige liberale Theoretiker – etwa John Stuart Mill oder Léon Walras – beurteilten mildere Versionen des Sozialismus durchaus mit Wohlwollen.

Insgesamt entfaltete die sozialistische Idee im 19. Jahrhunderte eine weitaus größere mobilisierende Kraft als ihre ideologischen Widersacher; das gilt vor allem für die Version mit der konsequentesten materialistischen Grundlage: den Marxismus.

Dass in dieser Zeit von einer „kapitalistischen Bewegung“ kaum die Rede war, ist kein Zufall. Die bestehende Ordnung beruhte noch weit stärker auf Traditionen, festen Gewohnheiten und Macht als auf irgendeiner Sammlung theoretischer Ideen. Die Idee des Sozialismus dagegen hatte Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Einfluss über größere geografische Räume ausgedehnt, als es eine der Weltreligionen je geschafft hatte.

Das ideologische Universum bestand allerdings nicht nur aus diesen beiden Polen. In derselben Epoche entstand eine weitere Triebkraft ganz anderer Art. Der Nationalismus erwies sich – bereits seit dem Aufbruch von 1848 – als eine Bewegung, die in Europa die Massen noch stärker mobilisieren konnte als der Sozialismus.

Als politische Idee wies der Nationalismus von Beginn an zwei Eigentümlichkeiten auf. Zum einen brachte er nur sehr wenige bedeutende oder originelle Denker hervor (bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Johann Gottlieb Fichte). Die ausgearbeitete Doktrin war unvergleichlich dünner und dürftiger als seine beiden ideologischen Zeitgenossen.

Zum anderen aber war der Nationalismus, eben aufgrund seiner relativen gedanklichen Armut auch außerordentlich formbar, das heißt: Er konnte höchst vielfältige Verbindungen entweder mit dem Kapitalismus oder mit dem Sozialismus eingehen. Auf der einen Seite brachte der Nationalismus den Chauvinismus hervor, der 1914 den Weltkrieg zwischen den imperialistischen Mächten entfachte, wie auch den Faschismus, der 1939 den nächsten Weltkrieg entfesselte. Auf der anderen Seite stiftete er aber auch die revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.

Wenn die Idee der Nation auf der ganzen Welt triumphieren konnte, so zeigt uns dies, dass zwischen der intellektuellen Qualität und Reichweite einer Ideologie und ihrer mobilisierender Kraft in der modernen Welt keinerlei zwingende Korrespondenz besteht. Das lässt sich anhand der bedeutsamen Revolutionen zeigen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhundert in Schlüsselstaaten an der Peripherie der imperialistischen Welt stattfanden.

Am größten war der Einfluss von Ideen auf Verlauf und Ergebnis des revolutionären Prozesses in Russland und China. Die Mobilisierung des Volks war am stärksten in Mexiko und Russland, der nationalistische Impuls am mächtigsten in der Türkei.

In China ist die republikanische Revolution von 1911 zwar gescheitert, aber das intellektuelle Ferment, das sie zum Gären gebracht hatte, wirkte weiter und trug so zum Erfolg der kommunistischen Revolution von 1949 bei. Bei der Gründung der kemalistischen Türkei dagegen spielten Ideen – bis auf die der „Rettung der Nation“ – kaum eine Rolle. Erst als das neue Regime etabliert war, importierte Atatürk eine Reihe eklektischer Reformideen.

Der auffälligste Kontrast besteht zwischen der mexikanischen und der russischen Revolution, die auch die größten Umwälzungen dieser Periode brachten. Die gewaltige gesellschaftliche Konvulsion, die 1910 in Mexiko einsetzte und bis 1920 andauerte, entsprang weder einer größeren Idee, noch hat sie eine solche hervorgebracht. Die einzige umfassende Ideologie propagierten nicht die Revolutionäre, sondern das gestürzte diktatorische Regime von General Porfirio Díaz, das sich in seiner Spätphase auf einen „wissenschaftlichen“ Positivismus berief.

Zugespitzt könnte man sagen: In Mexiko fand ein Umsturz von epochaler Bedeutung statt, der sich auf wenig mehr als elementare Begriffen von institutioneller und sozialer Gerechtigkeit gründete. Darin liegt eine eindringliche Lehre für alle, die eine allzu intellektualistische Sicht auf dramatische historische Umwälzungen pflegen.

Nach völlig anderem Muster verlief die Russische Revolution. Die Zarenherrschaft wurde von einer spontanen Volkserhebung gestürzt, die durch Hunger und kriegsbedingtes Elend ausgelöst worden war. Zu Beginn dieser Revolution ging es also noch viel weniger um Ideen als beim mexikanischen Aufstand von 1911.

Dass die Bolschewiken binnen weniger Monate an die Macht kamen, verdankten sie ihrer erfolgreichen Agitation mit elementaren Forderungen, wie sie auch die mexikanischen Revolu­tio­näre Emiliano Zapata oder Pancho Villa erhoben hatten: Brot, Land und Frieden. Doch als Lenin und die Bolschewiken einmal an der Macht waren, verfügten sie über eine Ideologie, die umfassender und systematischer angelegt war als alle Ideengebäude ihrer Epoche.

Im russischen Fall war die Beziehung zwischen Gründen und Inhalt der Revolution – sprich das Spannungsverhältnis zwischen materiellen Ursachen und ideellen Zielen – ein ähnliches wie im Fall des Jakobiner-Regimes im Jahr zwei der Französischen Revolution. Doch die Folgen waren weit extremer, und das gilt für die Errungenschaften wie auch für die Verbrechen des von den Bolschewiken errichteten Sowjetstaats. Dessen Untergang sieben Jahrzehnte später war der Preis, der am Ende für einen ideologischen Voluntarismus von epischen Ausmaßen fällig wurde.

Die Auswirkungen der Oktoberrevolution waren natürlich nicht auf Russland beschränkt. Marx hatte gegen Ende seines Lebens die Möglichkeit erörtert, dass Russland die volle kapitalistische Entwicklung überspringen und mit einer Volkserhebung eine revolutionäre Kettenreaktion in Europa in Gang setzen könnte. Und Engels spekulierte 1885, dass sich Russland „seinem 1789 nähert“.

Auf dieser Vorstellung beruhte im Grunde auch die Strategie Lenins. Er glaubte nicht daran, den Sozialismus in einem isolierten und rückständigen Russland aufbauen zu können; er hoffte vielmehr, dass das sowjetische Beispiel proletarische Revolutionen in ganz Europa zum Ausbruch bringen würde. In Gesellschaften also, in denen aufgrund hoher industrieller Produktivität bereits die materiellen Voraussetzungen für eine freie Assoziation der Produzenten gegeben waren.

Doch die Geschichte verlief genau in die Gegenrichtung: Im entwickelten Westen waren alle revolutionären Aussichten blockiert, während sich die Revolution in Gesellschaften des Ostens durchsetzte, die noch rückständiger waren als die russische.

Damit hatte der enorme politische Erfolg des Marxismus seine eigenen theoretischen Annahmen offenbar eindeutig widerlegt. Dieser Theorie zufolge war der „Überbau“ durch den ökonomischen „Unterbau“ determiniert, die Ideen also ein Reflex der materiellen Entwicklungen. Doch die Ideologie des Marxismus-Leninismus – in einer mehr oder minder stalinistischen Version – schien imstande zu sein, Gesellschaften ohne kapitalistische Voraussetzungen und jenseits des Kapitalismus aufzubauen.

Die Marxschen Erkenntnisse waren allerdings nicht ohne weiteres umzustülpen. Am Ende nahmen die Produktivkräfte ihre historische Rache. Der Zusammenbruch der UdSSR bedeutete, dass die höhere ökonomische Produktivität der Länder, in denen Marx die Revolution erwartetet hatte, über die Länder obsiegte, in denen sie stattgefunden hatte.

Aber welche Rolle spielten die Ideen auf der Gegenseite? Als Mitte des 20. Jahrhunderts der Kalte Krieg ausbrach, erforderte dieser Allfrontenkampf zwischen den beiden antagonistischen Blöcken eine ideologische Aufrüstung des Westens auf ein neues Niveau. Um die Durchschlagskraft in diesem Ideenwettstreit zu erhöhen, wurde der Ost-West-Antagonismus begrifflich umetikettiert: Statt „Kapitalismus gegen Sozialismus“ hieß es jetzt „Demokratie gegen Totalitarismus“, oder: „Die freie Welt gegen 1984“.

Die heuchlerische Dimension dieser Formel ist offensichtlich, denn natürlich gehörten zur „freien Welt“ zahllose Militär- und Polizeidiktaturen. Dennoch waren damit die Vorzüge der westlichen Allianz gegenüber dem stalinisierten Osten realistisch benannt. In der Konkurrenz der Blöcke war das Banner der Demokratie ein entscheidendes Plus – allerdings dort, wo es am wenigsten gebraucht wurde. Denn die breite Bevölkerung der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften musste von den Vorzügen ihrer eigenen Lebensbedingungen nicht groß überzeugt werden.

Der komparative Vorteil der freien Welt

Weit weniger erfolgreich war die neue Formel – verständlicherweise – in den vormals kolonialen oder noch halbkolonialen Ländern, die kurz zuvor unter der Herrschaft der westlichen Demokratien gelitten hatten. In Osteuropa dagegen, und in geringerem Maße auch in der Sowjetunion, fanden die von Orwell inspirierten Bilder größere Resonanz. Und sicherlich haben die Sendungen von Radio Free Europe oder Radio Liberty, in denen die Vorzüge der US-amerikanischen Demokratie gepriesen wurden, schlussendlich zum Sieg des Westens im Kalten Krieg beigetragen.

Doch der Hauptgrund für den Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus war ein anderer. Es war letztlich die Attraktion eines höheren materiellen Konsumniveaus, die nicht nur die unterprivilegierten Massen, sondern auch die bürokratischen Eliten des sowjetischen Blocks unaufhaltsam in den Bannkreis des Westens zog – und die Privilegierten vielleicht noch mehr als die Armen. Schlichter formuliert: Der komparative Vorteil der freien Welt, der den Ausgang des Konflikts entschied, betraf eher die Wahlmöglichkeiten beim Shoppen als an der Urne.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich diese Konstellation wiederum völlig verändert. Erstmals in der Geschichte bekannte sich der Kapitalismus zu seinem Begriff – in Gestalt einer Ideologie, die verkündete, dass die Menschheit am Ende ihrer sozialen Entwicklung angelangt sei. Dass also jenseits der geschaffenen idealen, auf der freien Marktwirtschaft basierenden Ordnung eine wirkliche Verbesserung nicht mehr vorstellbar sei. Genau dies ist die Kernbotschaft des ­Neoliberalismus, jenes hegemonialen Glaubenssystems, das seit nahezu 50 Jahren die Welt regiert.

Der Aufstieg der neoliberalen Ideologie war eine Reaktion auf die Nachkriegsära. Damals stand der Westen einerseits unter dem Trauma der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, andererseits unter dem Eindruck einer neu erstarkten Arbeiterbewegung, die sich aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs erhob. Um eine neue Wirtschaftskrise zu verhindern und den Druck der Arbeiterbewegung abzufedern, verfolgten Regierungen überall auf der Welt eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die darauf angelegt war, den Konjunkturzyklus zu regulieren, Arbeitsplätze zu sichern und den ärmeren Schichten eine gewisse materielle Absicherung zu bieten.

Diese Kombination von keynesianischer Angebotspolitik und sozialdemokratischem Wohlfahrtsstaat wurde zum Leitbild der gesamten Nachkriegszeit. Das Ergebnis war ein Niveau von staatlicher Regulierung der Wirtschaft und steuer­licher Umverteilung, das für die kapitalistische Welt einmalig war.

Gegen die neue herrschende Lehre rebellierte eine kleine Minderheit radikaler Denker, die jeglichen „Dirigismus“ als tödliche Gefahr für die ökonomische Dynamik und die politische Freiheit denunzierten. Führender Kopf und Cheforganisator der neoliberalen Dissidenten war der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek.

Anfang der 1980er Jahre hatte in den USA und in Großbritannien die radikale Rechte die Macht übernommen, und Regierungen weltweit setzten zur Krisenbewältigung auf neoliberale Rezepte: Senkung der direkten Steuern, Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, Schwächung der Gewerkschaften und Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen.

Der Prophet ohne Volk, der Hayek bis Ende der 1960 Jahre gewesen war, wurde nun von Rea­gan, Thatcher und anderen Staatsoberhäuptern zum epochalen Visionär verklärt.

Doch den Zenit seines Einflusses erreicht der Neoliberalismus erst in den 1990er Jahren, als das Freund-Feind-Schema des Kalten Kriegs ausgedient hatte. Jetzt setzten Mitte-links-Regierungen, die in Europa und Nordamerika an die Macht gekommen waren, die neoliberale Politik ihrer Vorgänger bedenkenlos fort – wenn auch mit gebremster Rhetorik und einigen kleineren Konzessionen.

Ob eine Ideologie zur politischen Hegemonie wird – im Unterschied zu bloßer Dominanz –, entscheidet sich an ihrer Fähigkeit, die Gedanken und Handlungen auch ihrer Gegner zu beeinflussen. Bill Clinton, Tony Blair oder Gerhard Schröder kamen in den 1990er Jahren an die Macht, weil sie die in den 1980er Jahren dominierenden neoliberalen Doktrinen ablehnten. Doch in der Praxis hielten sie an ihnen fest oder haben sie sogar weiterentwickelt.

Um die Jahrtausendwende waren Hayek- oder Friedman-Fans in praktisch jedem Finanzministerium zu finden, von La Paz bis Peking, von Auckland bis Neu-Delhi, von Moskau bis Pretoria und von Helsinki bis Kingston.

Etwa zur selben Zeit begann, angeführt von den USA und der EU, der Kreuzzug für die Menschenrechte. Die neoliberale Ordnung lehnte durchaus nicht jede Art von Intervention ab: Zwar wurden ökonomische Eingriffe, die etwa auf Umverteilung aus waren, scharf missbilligt, doch militärische Interventionen wurden beifällig begrüßt wie nie zuvor.

Das Irak-Embargo der 1990er Jahre, samt den von Bill Clinton und Tony Blair angeordneten Bombenangriffen im Dezember 1998, war noch als rein „humanitäre“ Strafaktion deklariert. Anders im gleichzeitig stattfindenden Balkankrieg, in dem es die Nato nicht mehr für nötig befand, ihre Luftangriffe gegen Serbien mit dem Feigenblatt einer UN-Resolution zu versehen. Damit wurde das Völkerrecht im Namen der Men­schenrechte einseitig umdefiniert, unter Missachtung der Souveränität jedes kleineren Staats, der in Washington und Brüssel Anstoß erregt hatte.

Die neoliberale Hegemonie zeigt sich nicht so sehr darin, dass sie ein konkretes Programm von Neuerungen vorgibt, das von Land zu Land sehr verschieden ausfallen kann; sie äußert sich vielmehr in der Fähigkeit, die Grenzen des Möglichen für alle festzulegen.

Welche Lehren ergeben sich aus diesem historischen Rückblick für die Linke? Die erste und wichtigste lautet, dass Ideen politisches Handeln und den resultierenden historischem Wandel sehr wohl beeinflussen. Bei den drei erörterten Beispielen aus der Neuzeit – Aufklärung, Marxismus und Neoliberalismus – wirkte der ideologische Einfluss nach ungefähr demselben Muster: Am Anfang stand ein System von Ideen, das sich zu einer extrem ausgefeilten Theorie entfaltete, wenn auch zunächst in Isolation und sogar in einem Spannungsverhältnis zu den empirischen politischen Gegebenheiten, also ohne große Hoffnung auf unmittelbare Wirkung.

Das änderte sich erst mit einer größeren realen Krise, für deren Ausbruch die Ideensysteme in keiner Weise verantwortlich waren. Erst jetzt erlangte das subjektive intellektuelle Kapital, das sich vorab in ruhigeren Zeiten allmählich angesammelt hatte, seine ungeheure Kraft in Form von Ideologien, die einen direkten mobilisierenden Einfluss auf das politische Geschehen hatten. Nach diesem Muster verliefen sämtliche historischen Krisen der 1790er wie der 1910er und der 1980er Jahre.

Heute haben wir die Situation, dass im größeren Teil der Welt noch immer eine einzige Ideologie die herrschende ist. Politischer und intellektueller Widerstand ist zwar keineswegs tot, aber von einer systematischen und konsequenten Ausformulierung weit entfernt. Doch die nötige theo­re­tische Anstrengung kann – nach allen Erfahrungen – nicht mit einer verdeckten Hinnahme oder gar Versöhnung mit den real existierenden Verhältnissen einhergehen.

Nötig ist vielmehr eine völlig andere geistige Haltung, die nicht über Nacht entstehen wird: eine kompromisslose und, wo nötig, schonungslose Analyse der Welt, wie sie ist. Eine Analyse ohne Konzessionen an die anmaßenden Positionen der Rechten, an die konformistischen Mythen der Zentristen oder an die frommen Wünsche eines Großteils der sogenannten Linken.

Ideen, die nicht in der Lage sind, die Welt zu schockieren, sind auch nicht in der Lage, sie zu verändern.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Perry Anderson ist Historiker. Die Langversion dieses Textes ist auf Englisch erschienen in: New Left Review, Nr. 151, London, Januar/Februar 2025.

© New Left Review; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2025, von Perry Anderson