Das Klima-Rollback
von Manfred Kriener
2024 war nicht nur das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturmessungen. Es war auch das Jahr, in dem die Messlatte von 1,5 Grad erstmals gerissen wurde. 1,5 Grad Celsius, das war seit Paris 2015 das heilige Eichmaß der Klimapolitik, das immer wieder beschworen wurde. Doch dass wir schon jetzt 1,6 Grad Anstieg verzeichnen, löste keine heißen Debatten aus. Achselzucken statt Empörung.
Das passt zum Gesamtbild. Während sich die globale Erwärmung rasant beschleunigt und das Katastrophenrisiko von Jahr zu Jahr wächst, nimmt die Klimapolitik eine Auszeit. Im Bundestagswahlkampf war das Thema fast komplett verschwunden. Mit der AfD triumphierte eine Partei, die Elektroautos für Sondermüll hält, die das Verbrenner-Aus und den Kohleausstieg stoppen, Windkraftanlagen abreißen und wieder Öl und Gas von Putins Russland importieren will.
Auch auf der internationalen Bühne ist das klimapolitische Rollback unübersehbar. In Europa soll der von der EU proklamierte „Green Deal“ sukzessive abgewickelt werden. In den USA regiert ein Präsident, der den Klimawandel leugnet und „Drill, baby, drill!“ für die energiepolitische Zukunft hält. Und in China, lange Champion der Energiewende, entstehen wieder mehr Kohlekraftwerke.
In Deutschland sind die Sicherheitspolitik und die Migration die beherrschenden politischen Themen. Doch selbst bei der Diskussion um Migration wird weitgehend ignoriert, was längst nicht mehr zu leugnen ist: dass schon bald fast eine Milliarde Menschen in überhitzten, nicht mehr bewohnbaren Regionen leben und dieser Hölle nur durch Flucht entkommen können.
Es fällt schwer, in solchen Zeiten zuversichtlich zu bleiben. Auf die heilende Kraft von Katastrophen können wir jedenfalls nicht vertrauen. Weder Hochwasser oder Hurrikane noch Dürren oder Feuersbrünste, wie zuletzt in Los Angeles konnten die Klimapolitik befeuern. Es sind eher die schon eingeleiteten Wendemanöver, die sich zu klimapolitischen Selbstläufern und Hoffnungsträgern entwickelt haben. Dazu gehören der weltweit forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien, die Umstellung von Millionen Heizungen auf Wärmepumpen oder der Siegeszug des Elektroautos. Auch die CO2-Bepreisung ist unumkehrbar.
Das wird zwar nicht reichen, um uns aus der Klimakrise herauszukatapultieren. Aber zumindest sind einige Fundamente gelegt. In jedem Schulbuch, in jedem TV-Abendprogramm, in alltäglichen Diskussionen sind Themen wie Klima und Nachhaltigkeit präsent. Wir wissen heute nicht nur, dass die Erde schon wärmer ist als je zuvor in der Geschichte menschlicher Zivilisation. Wir wissen auch, dass wir diesen tödlichen Prozess stoppen müssen, dass es hundertmal teurer wird, alles so laufen zu lassen und später für die katastrophalen Folgen doppelt und dreifach zu zahlen.
Politische Themen haben Konjunkturen – auch die globale Erwärmung. Die nächste Klimawelle wird kommen. Noch rechtzeitig? „Dieses Jahrzehnt bietet die letzte Gelegenheit, das Ruder herumzureißen“, sagt Johan Rockström, Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.
Manfred Kriener