Mein Vorfahre, der Grabräuber
von Gabriela Wiener

Mein Leben lang habe ich mich über den Widerspruch gewundert, dass ich diesen deutschen Namen trage und zugleich dieses indigene Gesicht habe, das Gesicht eines Huaco.
Ein Huaco retrato ist eine prähispanische Keramik, die mit größtmöglicher Genauigkeit ein indigenes Gesicht abbildet. Huacos – so heißen sie wegen der Huacas, der heiligen Stätten für Zeremonien – gibt es in verschiedenen Formen, aber der Huaco retrato ist besonders ausdrucksstark, weil er das menschliche Antlitz so realistisch abbildet, um damit die Seele einzufangen. Ich bin in Peru geboren, einem Land, das immer noch vom kolonialen Erbe durchdrungen ist, und wo „cara de huaco“ (Huaco-Gesicht) eine rassistische Beleidigung ist.
Jahrelang hat man mir von diesem Urahn erzählt, dem wir unseren Nachnamen verdanken. Jeder peruanische Wiener hatte sein Foto zuhause. Aber kein einziges Foto der Ururgroßmutter.

Charles Wiener war ein jüdisch-österreichischer Forscher, den die französische Regierung Ende des 19. Jahrhunderts nach Südamerika schickte. Er sollte das Andengebiet archäologisch erkunden und die Überreste der präkolumbianischen Kulturen aus deren Blütezeit vor der Ankunft der Spanier studieren.
Derartige Missionen dienten vor allem politischen Zwecken: Die großen Kolonialmächte jener Zeit, allen voran Frankreich, finanzierten solche Expeditionen, um die Vorstellung von ihrer Überlegenheit als Nation zu festigen. Die Jahre, in denen Wiener dem französischen Staat als Beamter diente, waren entscheidend für die Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus.
Wiener wurde als „französischer“ Peruanist dafür bekannt, dass er beinahe Machu Picchu „entdeckt“ hätte. Seine präzisen Karten halfen zwei Jahrzehnte später dem US-amerikanischen Forschungsreisenden Hiram Bingham, dieses Ziel zu erreichen.
Wiener hat nicht nur ein dickes Buch geschrieben („Pérou et Bolivie“), in dem er im Stil eines Reiseberichts aus eurozentristischer und durchaus rassistisch gefärbter Perspektive von seinen Entdeckungen erzählt; er entwendete auch etwa 4500 Artefakte aus Peru, darunter viele Huacos und Skulpturen indigener Kunst. Die waren für die Weltausstellung in Paris gedacht, damals die größte internationale Messe, wo die erstaunlichsten Erfindungen vorgeführt wurden, vom Telefon bis zum elektrischen Licht.
Die Weltausstellung war jedoch auch ein Ort, an dem die koloniale Barbarei in ihrem ganzen Ausmaß zur Schau gestellt wurde: In den sogenannten Menschenzoos präsentierte man als lebende Attraktionen Bewohner der europäischen Kolonien in Afrika und Amerika. Der letzte „zoo humain“ konnte 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel besichtigt werden, wo die Belgier ein kongolesisches Dorf errichteten. Zwei Jahre später wurde ihre Kolonie im Kongo zwar unabhängig, doch die wertvollen Ressourcen wollten sie trotzdem weiterhin besitzen und ausbeuten.
In seinem Buch berichtet Wiener davon, wie er als Teil seiner „wissenschaftlichen“ Forschung ein indigenes Kind „gekauft“ hat. Er spricht über dieses Kind aber nicht wie über einen Menschen, sondern behandelt es wie einen Archetypus, an dem sich der Erfolg des europäischen Zivilisationsprozesses zeige. In diesem Bericht eines sich selbst beweihräuchernden Weißen Retters und Pioniers – eine auch heute wieder präsente Figur – schildert er, wie sich der Junge die französische Sprache angeeignet hat, was folglich bestätige, dass für den Indio Heilung möglich sei. Er sei nicht nur zivilisierbar, sondern sogar französisiert worden, wie es ihm auch selbst gelungen war.
Niemand hat Charles Wiener jemals einen Huaquero genannt. Nur ich. Wie Indiana Jones plündern Huaqueros Grabstätten auf der Suche nach Schätzen, aber weil sie aus Europa kamen und halbwegs gebildet waren, nannte man sie nicht Diebe.
Charles Wiener ist, falls das bisher noch nicht klar geworden sein sollte, mein mutmaßlicher Ururgroßvater. Es ist anzunehmen, dass er in der kurzen Zeit, die er in Peru verbrachte, eine flüchtige Begegnung mit meiner Ururgroßmutter hatte, und ich sage mutmaßlich, weil es keinen Beleg für unsere Verbindung gibt außer einer zerschlissenen Kopie der Taufurkunde des ersten peruanischen Wiener, den Charles aber nie kennengelernt hat. Darum gibt es auch kein einziges Foto von Charles mit seinem Sohn, dem Vater meines Großvaters.
Ich weiß inzwischen, dass ich von einer Linie abwesender oder nur halb anwesender Väter abstamme. Mein eigener Vater ist so einer, der typische untreue lateinamerikanische Ehemann, der zwei Familien hatte, jeweils mit Töchtern, ohne dass die eine Familie von der Existenz der anderen wusste. Eines Tages beschloss ich, gegen diese Lügen zu rebellieren und offen polyamor zu leben. Dabei musste ich allerdings feststellen, wie wenig dekonstruiert ich in der Liebe bin und wie wenig dekolonisiert. Und auch dass ich kein Recht habe, jemanden zu verurteilen oder den ersten Stein zu werfen ohne einen Hauch von Verständnis und Selbstkritik.
Dass mein Vater mir das Buch meines Ururgroßvaters vererbte, löste eine radikale Kehrtwende aus, hin zu meiner Herkunft, der widersprüchlichen und geheimen Geschichte meiner mestizischen Genealogie. Ich wiederholte Charles’ Reise, aber in umgekehrter Richtung, von Amerika nach Europa.
Das Ergebnis war ein ganz anderes als bei ihm. Wiener war ebenfalls Migrant, und zudem Jude in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus. Ihn heute zu lesen, ist für mich deshalb so, als würde ich Salsa mit ihm tanzen: mich ihm annähern und gleich wieder entfernen, mich drehen, bis ich in seinen Armen lande, und schnell wieder daraus entfliehen. Charles machte sich weißer: Er änderte seine Religion und konvertierte zum Katholizismus, nahm die französische Staatsbürgerschaft an, tarnte sich mit Macht. Er legte seinen Namen Karl ab und nannte sich Charles. Und in seinem Bemühen, nicht das Opfer zu sein, wurde er zum Henker.
Um die Figur des Familienpatriarchen zu stürzen, muss man zuvor den Ritus des Erkennens durchlaufen, der immer auch Selbsterkenntnis beinhaltet. Doch im Gegensatz zu Charles will ich mich nicht länger weißwaschen, ich will den Rassismus nicht weiter in mir tragen.
Wir sind Nachkommen von Opfern und Tätern, durch unsere gewaltsame Mestizisierung fließt in unseren Adern zugleich das Blut des Huaco und des Huaquero, der Kolonisierten und der Kolonisatoren. Wir sind wie Malinche, die Geliebte und Dolmetscherin des Eroberers Cortés, wie sie haben wir uns entschieden zu bleiben – im Europa der Abschiebelager, der Grenzzäune und der gewollten Schiffbrüche im Mittelmeer. Wir widerstehen, indem wir eine Version von uns verkörpern, die kein dumpfer Panflöten-Indio ist, keine wehrlosen Sudakas, für die man paternalistische Zuneigung hegt. Wir sind nicht gekommen, um einen Spanier oder einen Deutschen zu heiraten, wir sind gekommen, weil ihr uns etwas schuldet, weil uns etwas zusteht, die Rückgabe unseres Goldes. Wir können auch gefährlich sein.
Alles begann mit einer leeren Vitrine in einem Pariser Museum, in der ich eines schönen Tages mein Huaco-Gesicht gespiegelt sah. Daneben stand mein Nachname, denn hier wurde noch ein Teil jener Sammlung ausgestellt, die mein Vorfahre meinem Land geraubt hatte. Ich wurde körperlos, ich wurde objektifiziert, wurde Huaco. Von den Weißen wurden wir wie Objekte behandelt und werden es noch.
Es gibt eine Identifikation der mestizischen Nachkommen der Kolonisatoren mit den entweihten Gegenständen, die aus ihren Kontexten gerissen und isoliert in den Vitrinen jedes beliebigen westlichen Museums bestaunt werden können. Da sie ohne wissenschaftliche Kriterien zusammengerafft wurden, landen Huacos ohne Verweis, ohne Kontext, ohne klare Herkunft in den dunklen Magazinen der modernen Museen, fernab vom Publikum, denn sie lassen sich auf nichts und niemanden zurückführen.
Und wie bei den Tausenden geraubter Huacos stützt sich auch unsere Identität auf fragwürdige Annahmen. In Lateinamerika oder vielmehr Abya Yala geht es vielen von uns wie diesen geraubten Huacos, wir kennen unsere genaue Herkunft nicht. Das von Charles geraubte Kind war Teil jenes „Schatzes“, den er nach Europa brachte. Wiewohl ich mich diesem Kind manchmal näher fühle als dem Plünderer.
Wir haben mehr als genug Erzählungen über die Patriarchen und wissen nichts von den Frauen und Kindern, denn Geschichte ist eine Frucht der Macht, auch innerhalb der Familien. Darum interessiert mich die Geschichte des Alltags, die inoffizielle Geschichte, wie die der Ururgroßmutter, von der es nicht ein einziges Foto gibt. Die meiner Urgroßmütter, meiner Großmütter und meiner Mutter. Die Geschichte all dieser geraubten und im Stich gelassenen Kindheiten.
Wir sind die Verkörperung des kolonialen Zivilisationsprozesses, der Mestizisierung heißt. Es ist nicht nur meine Wunde, es ist die offene Wunde unseres Kontinents, gleichermaßen historisch, kollektiv und intim. Es sind Wunden, die wir im Laufe der Jahrhunderte geteilt haben. Wir sind die nicht anerkannten Kinder von europäischen Patriarchen, die das Land leergeräumt haben und uns dann mit nichts als einem Nachnamen zurückließen, den wir weder aussprechen können noch verstehen. Die traumatische Erfahrung von Gewalt und das Urtrauma der Verlassenen werden von Generation zu Generation weitergegeben und bestimmen die Art und Weise, wie wir den Fragen unserer Zeit als Individuen begegnen.
Ja, Geschichte ist die Frucht der Macht. Sie ist die Geschichte der Sieger. Die geplünderte Erinnerung zu erzählen, indem ich meine Familiengeschichte rekonstruiere, ist eine Art, die offizielle Erzählung anzufechten. Erzählen ist für uns eine Ausgrabung, erzählend gehen wir den Dingen auf den Grund, untergraben sie. Aber diese Bewegung ist gegenläufig zur Plünderung, die Raub und Diebstahl ist. Den Schutt der Zeit und des Vergessens zu beseitigen ist eine Wiederherstellung. Wir reparieren die Mumien unserer Familien.
Auch wenn wir mit den Fingernägeln schürfen, finden wir uns nicht in den aus West-Indien geraubten Archiven, keine Urkunde dokumentiert unsere Herkunft, wir haben weder Schilde noch Wappen, unsere Existenz wurde ausgelöscht und zugeschüttet. Denn wenn man die Massengräber der Geschichte nur ein kleines Stück öffnet, entsteigt ihnen der Pesthauch von Sklaverei, Ausbeutung, Vergewaltigung und Verlassenwerden – was die Mächtigen immer leugnen wollten.
Deshalb werden wir als Historikerinnen des Imaginären wiedergeboren, die in der Lage sind, die Leerstellen der Erinnerung mit Fiktion zu füllen. Nur die Literatur erlaubt dieses Spiel, zu erschaffen, was nie existiert hat. Oder ausgelöscht wurde.
In meiner Geschichte ist der wahre Schurke aber nicht Charles Wiener. Der wahre Bösewicht ist Europa. Die zeitgenössische Fetischisierung der Differenz ist nur eine weitere Form des Ausschlusses. Das rassifizierte und sexualisierte Andere wird dabei zu einem Sammlerstück, genau wie zuvor in den Museen und Menschenzoos.
Es gibt allerdings noch mehr aktive Formen der Kolonisierung. Die subalterne Person macht sich weiterhin selbst zum Objekt und schließt sich aus. Das Andere, einst der Wilde, der Kannibale, das Monster, ist heute der Migrant, der unter das Ausländergesetz fällt und auf den die Hassreden niedergehen.
Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
Gabriela Wiener ist eine peruanische Journalistin und Schriftstellerin. Auf Deutsch erschien: „Unentdeckt“, Berlin (Kanon Verlag) 2025.
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