Audis aus Györ
Die äußerst lukrativen Verflechtungen der deutschen Autoindustrie mit dem Orbán-Regime
von Petra Thorbrietz

Stimmt es wirklich, dass die deutsche Autoindustrie Viktor Orbán hilft, seine Macht zu stabilisieren? Die ungarische Opposition behauptet das; immer wieder kommt das Thema in Gesprächen auf: Ohne die intensive Lobbyarbeit der Branche hätte sich Orbán nicht so lange in der EVP-Fraktion gehalten, obwohl die Demokratie in Ungarn immer weiter abgebaut wurde. Das könnte auch erklären, warum die Entscheidungen in der Kommission stets viel ungarnfreundlicher waren als die anhaltend kritischen Standpunkte des Europäischen Parlaments.
Alle großen Marken sind hier mit Produktionslinien vertreten, erst Suzuki und Audi, dann Mercedes und BMW und bald auch BYD. „Wir haben Ungarn zum Zentrum der Fahrzeugherstellung in Mitteleuropa gemacht und sind nun auf dem Weg, das Fahrzeugentwicklungszentrum der Region und führend bei E-Autos zu werden“, sagte Viktor Orbán stolz bei der Einweihung eines Batteriewerks in Göd, nördlich von Budapest.
Mit einem Gesamtvolumen von 33,5 Milliarden Euro (im Jahr 2023) ist der Automobilsektor das Zugpferd der ungarischen Wirtschaft: Während allein die Fahrzeugproduktion bereits 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, erreicht der gesamte Sektor fast das Doppelte. 145 000 Arbeitnehmer sind hier beschäftigt. Bei den Exporten entfällt ein Sechstel auf die Automobilbranche.

Die Bedingungen sind für die internationalen Unternehmen günstig: Der Körperschaftssteuersatz ist mit 9 Prozent in Ungarn so niedrig wie in keinem anderen EU-Land. Eine Arbeitsstunde kostete dort 2023 durchschnittlich nur 12,80 Euro und nicht 41,30 Euro wie im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland. Gewerkschaften sind in ihrer Arbeit eingeschränkt und haben nicht viele Mitglieder. 2018 unterzeichnete der damalige Staatspräsident János Áder zudem das sogenannte Sklavengesetz: Es erhöht die jährlich erlaubte Anzahl an Überstunden auf 400 und gestattet Unternehmen, sich mit der Vergütung dafür drei Jahre Zeit zu lassen.
Dagegen können sich die ausländischen Konzerne über üppige Förderungen freuen. Um BMW den Standort Debrecen schmackhaft zu machen, zahlte die ungarische Regierung einen Zuschuss von 31 Millionen Euro für den Bau der Fabrik und weitere 35 Millionen für die Errichtung einer weiteren Akkumulatorenfabrik, in Kooperation mit dem chinesischen Konzern EVE Energy.
Hinzu kommen Hunderte Millionen für Infrastruktur wie Zufahrtsstraßen, Wasserversorgung oder Bahnlinien. Allein die Entwicklung des Industrieparks rund um die Fabrik kostet den ungarischen Staat rund 330 Millionen Euro. Von diesen öffentlichen Ausschreibungen profitieren gleichzeitig – nach bekanntem Muster – regierungsnahe Firmen.
„Da Viktor Orbán Politik, Gerichte und Verwaltung des Landes weitgehend kontrolliert“, schreibt die Kölner AutoZeitung, „gibt es zudem keinen offenen Widerspruch gegen Großbauprojekte – Genehmigungen werden in Rekordzeit erteilt. Auch die ungarischen Medien liegen auf Linie des autoritären Politikers, kritische Fragen bleiben ungestellt.“
Dass die Ungarn so stolz auf die Prämienmarken sind, die in ihrem Land produziert werden, hängt auch mit der Geschichte zusammen. Vor dem Ersten Weltkrieg war Ungarn eine Erfindernation und zusammen mit den Tschechen der Fortschrittstreiber in der Doppelmonarchie. Aber dann verlor es den Krieg und musste enorme Reparationen zahlen. 25 Jahre später demontierten die Sowjets große Teile der Industrie und transportierten sie in die UdSSR. Den Ungarn wurde die Autoproduktion untersagt, sie wurden zu Zulieferern degradiert – und das ist im Prinzip bis heute so geblieben.
Eigentlich könnte der Umstieg auf erneuerbare Energien die Osteuropäer auf ein neues Niveau der Wertschöpfungskette heben und sie von Facharbeitern zu Entwicklern machen, so der Wirtschaftsanalyst Bloomberg. Aber es ist fraglich, ob Ungarn unter diesen Bedingungen Schritt halten kann. Vielleicht will das die Regierung auch gar nicht. Kreativität ist zu unberechenbar. Und die Hersteller scheinen auch kein Problem damit zu haben, solange sie mit einer kostengünstigen Workforce kalkulieren können.
Der rasche technologische Wandel durch Digitalisierung und Automatisierung erfordert immer weniger Arbeitskräfte, die aber immer besser ausgebildet sein müssen, um flexibel mit den Robotern interagieren zu können. Mercedes in Kecskemét hat statistisch gesehen einen jährlichen Output von 50 Autos pro Arbeiter. Im neuen BMW-Werk bei Debrecen werden es bereits 150 sein. Jetzt werben Subunternehmer in Kasachstan und der Mongolei Arbeitskräfte für Ungarn an, und die sind, sagen Experten für Personalwesen, zwar teurer, aber sie arbeiteten effizienter als die Ungarn.
Durch seine Fokussierung auf die Kfz-Branche hat Ungarn sich abhängig gemacht, auch von der deutschen Wirtschaft. „Erst haben wir uns an die Deutschen gekettet, und jetzt sind wir erstaunt, wenn wir mit ihnen untergehen“, kritisiert das ungarische Nachrichtenportal Telex.
Es gab Zeiten, da waren die ungarisch-deutschen Beziehungen noch richtig herzlich.
Mal abgesehen von der historischen Freundschaft zwischen Ungarn und Deutschen hatten auch die Sozialisten gute Beziehungen zu Deutschland, das ihnen unter anderem mit einem 500-Millionen-D-Mark-Kredit aus der wirtschaftlichen Notlage half. Schon in den 1980er Jahren war die Bundesrepublik nach der UdSSR der zweitwichtigste Handelspartner. Die Regierung unter József Antall – die erste frei gewählte nach der politischen Wende von 1989 – baute darauf auf und strebte danach, vor allem deutsche Unternehmen ins Land zu holen. In vier Jahren verzehnfachten sich die deutschen Investitionen. Aber schon damals hieß es warnend: „Wenn Deutschland niest, dann fröstelt Ungarn.“
Unter Gyula Horn, dem nächsten reformsozialistischen Ministerpräsidenten (1994–1998), wuchs der deutsche Einfluss weiter. Horn sorgte für eine beschleunigte Privatisierung der Staatsunternehmen, von denen viele in deutsche Hand übergingen. RWE zum Beispiel kaufte mehrere Energieversorger, Axel Springer übernahm einen Teil der Regionalpresse und die deutsche Telekom erwarb Schritt für Schritt den Telekommunikationsanbieter Matáv. Und die Bayern LB sicherte sich die Mehrheit der wichtigsten ungarischen Handelsbank MKB.
Auch Viktor Orbán setzte zunächst diesen Kurs fort. Der investigative Journalist Szabolcs Panyi hat sich speziell mit der ungarischen Beziehung zur deutschen Autoindustrie befasst unter der Frage, wer in diesem Verhältnis eigentlich Fahrer und wer Beifahrer ist. Für das Portal direkt36 hat er eine umfangreiche und preisgekrönte Recherche dazu unternommen. Er schildert eine Beziehung voller Abhängigkeiten und gegenseitigem Nutzen.
Sie begann spätestens in der Nacht von Orbáns erstem Wahlsieg, am 24. Mai 1998. „Rufen Sie den Grafen an und sagen Sie ihm, dass wir ihn besuchen möchten!“, sagte Viktor Orbán zu Gergely Prőhle, dem Leiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Budapest. Vier Tage später traf man sich in Bonn – mit Otto Graf Lambsdorff, dem liberalen Mentor von Orbán, der dessen Laufbahn von Anfang an verfolgt und begleitet hatte. Anwesend waren auch Führungskräfte großer deutscher Unternehmen wie Audi, Bosch und Siemens. Viktor Orbán, dessen sozialistischen Vorgängern es nicht gelungen war, die turbulenten Folgen der Wende zu kanalisieren, warb für sein Land. Man werde alles tun, sagte er, um ausländischen Investoren ein stabiles Umfeld zu bieten.
Lambsdorff, den mit Orbán eine echte Freundschaft verband, war ein wichtiger Garant für den jungen ungarischen Ministerpräsidenten, auch wenn der schon in den 1990er Jahren und noch als Oppositionspolitiker zunehmend rechtskonservative Positionen vertreten hatte. Der liberale Ansatz lasse sich in Ungarn nicht umsetzen, soll er Lambsdorff gegenüber argumentiert haben. Deshalb traf er sich auch mit Bundeskanzler Helmut Kohl, der damals schon 16 Jahre im Amt war. Das faszinierte Orbán. Er ließ sich von Kohl erklären, wie Politik funktioniert.
Währenddessen startete die Autoindustrie in Ungarn durch. Schon 1991 hatte das Suzuki-Werk in Esztergom eröffnet. 1992 ging Opel in Szentgotthárd in Betrieb, ab 1999 wurde die Montage auf Motoren reduziert. Bei Audi in Györ war es umgekehrt: Dort wurde aus Motoren 1999 schließlich der Sportwagen Audi TT; später kamen Motorräder hinzu. Györ, ein kulturelles Zentrum zwischen Wien und Budapest, wurde zu einem der weltweit wichtigsten Produktionsstandorte für Audi. Martin Winterkorn, damals CEO, erhielt für seine Aufbauarbeit das Verdienstkreuz der Republik Ungarn.
Das Mercedes-Werk vor den Toren von Kecskemét, einer wunderschönen Stadt in der südlichen Puszta, war das erste osteuropäische Werk der Schwaben und auch das erste unter den Autokonzernen, das mit ungarischer Staatshilfe errichtet wurde. Inzwischen fertigt Mercedes auch elektrische Modelle vor Ort. Das Schlusslicht war BMW, das 2025 ein Werk für E-Autos in Debrecen eröffnet. 2026 startet ganz im Süden des Landes bei Szeged die chinesische E-Mobil-Konkurrenz: BYD.
So wie sich ein wesentlicher Teil der deutschen Automobilbranche in Süddeutschland konzentriert – Mercedes und Bosch, Audi und BMW – so gibt es dort auch besonders enge Beziehungen zu Ungarns wirtschaftlicher und politischer Elite, vor allem in Baden-Württemberg. Ein Verbündeter Ungarns war der Stuttgarter Günther Oettinger, 2017 bis 2019 EU-Haushaltskommissar und heute Co-Vorsitzender eines ungarischen Nationalen Rats für Wissenschaftspolitik. Zur Ungarn-Seilschaft zählte auch der Freiburger Wolfgang Schäuble. Man kann sich vorstellen, dass dieses christdemokratische Netzwerk daran beteiligt war, in Deutschland wie in der EVP allzu starke Kritik an Viktor Orbán abzubiegen.
Eine Hand wäscht die andere.
Gegenüber dem ungarischen Journalisten Panyi prahlten Informanten aus der deutschen Autoindustrie, man habe die ungarische Regierung in der Tasche und den direkten Draht zum Außenhandelsminister, sprich seine Telefonnummer. Was durchaus sein kann. Bis heute kommt es vor, dass Konflikte und dringende Angelegenheiten in der Wirtschaft übers Telefon gelöst werden, anstatt sich an einen Konferenztisch zu setzen und eine Papierspur zu hinterlassen.
Ab 2010, Viktor Orbán hatte gerade seine erste Zweidrittelmehrheit erzielt, begann er, die Wirtschaft umzubauen. Er entwickelte damals das Konzept der Nationalen Zusammenarbeit und den Plan, alle wichtigen Branchen zurückzuholen. Ein Instrument dafür waren Sondersteuern, die Orbán gegen tendenziell „böse“ Multis einsetzte, das waren die Ausländer im Energie-, Medien- oder auch Bankensektor. Sie wurden nun mehr oder weniger unsanft vom Markt gedrängt.
Damals wurde auch einer der wichtigsten Bausteine der Demokratie verkauft – die Medienfreiheit: Unter dem Druck der ungarischen Regierung gab Axel Springer seine Beteiligungen an Regionalzeitungen auf und die Magyar Telekom trennte sich von der beliebten Nachrichtenseite Origo. Der Verkauf war ein wichtiger Schritt in der Demontage der Medien.
Die Autohersteller wussten, dass sie von Übernahmen nicht betroffen waren, weil sie zu groß waren, um geschluckt zu werden. Im Gegenteil: Während Unternehmen wie die Telekom zunehmend unter Druck gerieten, begann die ungarische Regierung deutsche Autokonzerne mit Subventionen geradezu zu überschütten.
Mercedes, das schon von den Sozialisten verwöhnt worden war, erhielt für den Standort Kecskemét bis 2022 insgesamt rund 130 Millionen Euro. Auch Opel, die erste deutsche Autofabrik in Ungarn, kam nicht zu kurz. Fast 20 Jahre nach deren Gründung zahlten die Ungarn 15,3 Millionen Euro an Opel. Audi bekam ähnlich wie Mercedes in zehn Jahren 100 Millionen Euro. In diese Beträge eingerechnet sind nicht die örtlichen Subventionen und die Entwicklung der Infrastruktur. Auch unzählige größere oder mittelständische deutsche Zulieferer profitierten von erheblichen Steuersenkungen und staatlichen Subventionen.
Seit 2012 verfolgt die ungarische Regierung eine Politik der „strategischen Abkommen“ mit den verschiedensten Unternehmen. 96 davon sind laut Telex bis zum Herbst 2024 geschlossen worden und wenig ist über die gegenseitigen Verpflichtungen und Vorteile bekannt. Das ist vermutlich einer ihrer wichtigsten Vorteile, dass unter Berufung auf das Betriebsgeheimnis kaum etwas an die Öffentlichkeit dringt. Nur so viel ist laut Transparency International bekannt: Zwischen 2010 und 2019 gingen mehr als ein Drittel der staatlichen Industriehilfen an die Autobranche.
Vieles spricht dafür, dass es dabei weniger um das wirtschaftliche Wohl der Autoindustrie und ihrer Arbeiter ging. Sondern darum, sich den politischen Einfluss dieser wichtigen Branche zu sichern. So leistete die ungarische Regierung zum Beispiel auch finanzielle Hilfestellung während der Coronapandemie, offiziell zur Sicherung der Arbeitsplätze: Aus der Fahrzeugindustrie erhielt Continental rund 22 Millionen Euro, Audi 3,3 Millionen Euro und Mercedes sogar über 40 Millionen Euro. Im Vergleich zu ungarischen Unternehmen, zum Beispiel der leidenden Gastro- und Hotelbranche, erhielten die deutschen Autohersteller überproportional viel Unterstützung. Obwohl, wie die Statistik zeigt, völlig unabhängig von der Pandemie in der Autoindustrie kontinuierlich Arbeitsplätze abgebaut wurden.
Die Kollaboration von deutscher Autoindustrie und ungarischer Regierung hat ihren Preis. Orbán hat damit erreicht, dass sich die Unternehmen nicht in seine Politik einmischen, sondern sie sogar stützen, indem sie die Opposition meiden.
Im Herbst 2019 lud die deutsche Botschaft in Budapest ungarische Journalisten zu einem Hintergrundgespräch ein, um ungeschützt über die Mediensituation in Ungarn zu sprechen. Einige Teilnehmer beschwerten sich über die Haltung deutscher Unternehmen, die mit der Regierung Geschäfte machten und gleichzeitig die Probleme der ungarischen Pressefreiheit ignorierten. Szabolcs Panyi fragte nach und erhielt von der deutschen Botschaft die Auskunft: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat keinen Einfluss auf die Werbepolitik von Unternehmen.“
Petra Thorbrietz ist Journalistin und Autorin. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus ihrem neuen Buch, das am 13. März erscheint: „Wir werden Europa erobern! Ungarn, Viktor Orbán und die unterwanderte Demokratie“, München (Kunstmann) 2025. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.