Wiedersehen mit Eisenhüttenstadt
von Jens Malling

Im Lautsprecher knackt es: „Nächste Station Eisenhüttenstadt.“ Der Zug fährt durch ein riesiges Industriegebiet, dem die Stadt ihren Namen verdankt. Rauchende Schlote und Fabrikhallen gleiten vorüber. Zu DDR-Zeiten beschäftigte die hiesige Eisenhütte ungefähr 12 000 Menschen, jetzt sind es nur noch 2700. Doch bis heute ist es das Werk, das mit seinen Arbeitsplätzen und den Steuern, die es in die Stadtkasse spült, Eisenhüttenstadt am Leben hält.
Das 1950 gegründete Eisenhüttenstadt ist eine der jüngsten und faszinierendsten Städte Deutschlands. Die „sozialistische Wohnstadt“ entstand am Reißbrett, um Unterkünfte für die Werksarbeiter und ihre Familien zu schaffen. Das gab den ostdeutschen Bauherren nicht nur die Möglichkeit, Gebäude, Straßen und Plätze als ein einzigartiges architektonisches Ganzes zu entwerfen; an etlichen Stellen integrierten sie auch baubezogene Kunst in die Planung.
Mit ihren Skulpturen, Mosaiken, Friesen, Statuen, Monumenten, Bleiglasfenstern und Wandgemälden – teils naiv-anmutende Idealisierungen der DDR und des Sozialismus – gilt Eisenhüttenstadt heute als besonders stimmiges und erhaltenswertes Bauensemble.
Den totalitären Charakter des DDR-Regimes und die aktuellen sozialen Probleme der Stadt sollte man sicherlich nicht ausblenden. Dennoch könnten heutzutage, wo Immobilienprojekte und Stadtplanung – wenn sie denn überhaupt stattfindet – weitgehend von Marktkräften und Gentrifizierungsprozessen getrieben werden, einige der ursprünglichen Ideen, die damals in Eisenhüttenstadt realisiert wurden, eine neue Bedeutung gewinnen.
Wer heute in diese Stadt kommt – und daran gewöhnt ist, dass überall ärmere Menschen aus den Stadtzentren verdrängt werden und auch die Mittelschicht sich die extrem gestiegenen Mieten nicht mehr leisten kann –, für den erscheint es geradezu überwältigend, dass eine ganze Stadt mit dieser Qualität an Architektur und Wohnraum vor allem für einfache Leute errichtet wurde.
Ein Besuch in Eisenhüttenstadt fühlt sich an, als schlendere man durch eine riesige Freiluftausstellung, die dem Versuch der Verwirklichung des Sozialismus gewidmet ist. Die Atmosphäre einer unerfüllten Utopie durchdringt alles. Die Straßen tragen noch immer die Namen berühmter Kommunistinnen und Kommunisten.
Die ehemalige, als Magistrale angelegte Leninallee wurde in Lindenallee umbenannt – schnell ausgesprochen hört man kaum einen Unterschied. Hier, am ehemaligen Kaufhaus Magnet, befindet sich eines der wichtigsten Wahrzeichen Eisenhüttenstadts: das monumentale Wandmosaik „Produktion im Frieden“ (1965) von Walter Womacka, einem der beliebtesten Künstler der DDR-Führung.
Der heute 96-jährige Herbert Härtel war zwischen 1958 und 1968 Chefarchitekt von Eisenhüttenstadt. Er hat es schon immer genossen, in der von ihm und seinen Kollegen gestalteten Lindenallee zu sitzen und das Leben zu beobachten – am liebsten auf einer der Bänke unter dem riesigen Mosaik.
In seiner Funktion sorgte Härtel auch für die außergewöhnliche Integration von Kunst und Architektur: „Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu Oberbürgermeister Max Richter. Er hat mich persönlich beauftragt, an den Kunsthochschulen junge Künstler zu rekrutieren, die bereit waren, herzuziehen und die Stadt mitzugestalten“, sagt der grauhaarige Mann mit den dunklen Augen und den buschigen Augenbrauen.
Von allen Projekten, an denen er mitgewirkt hat, liegt Härtel die Lindenallee besonders am Herzen. Zweifellos hat die Magistrale Ähnlichkeit mit anderen Vorzeigeboulevards in der ehemaligen staatssozialistischen Welt wie der Karl-Marx-Allee in Berlin oder dem Chreschtschatyk in Kyjiw. Nur das Format ist kleiner und an eine Einwohnerzahl von 53 000 angepasst, die Eisenhüttenstadt kurz vor der Wende 1989 erreichte.

Deutschlands größtes Flächendenkmal
Die Ladenarkaden auf beiden Seiten der Allee sind allerdings in viel höherem Maße von einem ansprechenden und progressiven Spätmodernismus geprägt. Ein herausragendes Objekt ist das ehemalige Möbelhaus mit der Hausnummer 24, das mit Fliesen in Grün- und Blautönen aus der Meißner Porzellanfabrik verkleidet ist.
Der Wandel vom sozialistischen Klassizismus zur sozialistischen Spätmoderne, der sich in Eisenhüttenstadt deutlich nachvollziehen lässt, habe mit den Entwicklungen in der Sowjetunion zu tun, erklärt Härtel: „Nach dem Tod Stalins 1953 versuchte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow einen neuen Kurs einzuschlagen. Das betraf auch den Bereich der Architektur, und das schwappte natürlich auch in die DDR über.“ Im Zuge dieser Entwicklung wurde der ursprüngliche Name Stalinstadt 1961 in Eisenhüttenstadt geändert.
Eine der treibenden Kräfte hinter der Wiederbelebung und dem zunehmenden Interesse am Erbe der Stadt in den letzten Jahren ist zweifellos der 1982 hier geborene Architekt und Fotograf Martin Maleschka. Er organisiert Führungen, Workshops, Ausstellungen und Vorträge und hat den 2021 erschienenen Architekturführer „Eisenhüttenstadt“ verfasst.
„Die Stadt bildet das größte zusammenhängende Flächendenkmal Deutschlands“, erklärt Maleschka. „Sie ist die erste und letzte sozialistische Planstadt auf deutschem Boden. Sie ist einzigartig, das will ich den Leuten vermitteln.“
Maleschka, der seine ganze Kindheit in Eisenhüttenstadt verbracht hat, das er wie seine Westentasche kennt, hat viel recherchiert und versucht, die Stadt fotografisch zu dokumentieren: „Hier, wo wir gerade sitzen, war früher ein Restaurant, wo du Broiler essen konntest. Auf alten Postkarten kann man sehen, wie toll der Raum früher aussah, mit Raumteilern und Lampen aus den 1960er Jahren. Dort um die Ecke, wo früher der Haupteingang war, wurden die Gäste von einem Wandbild empfangen.“
Heute hängt an der Stelle eine Werbetafel, die ein großes Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee zeigt. Doch dahinter verberge sich noch immer das Gemälde, das eine Hafenszene darstellt. „Eine Aufputz-Malerei“, erklärt Maleschka, „also direkt auf den Putz gemalt.“ Der Kapitalismus lege sich sozusagen über die Überbleibsel der DDR, meint er: „Lieber ein billiges Plakat statt ein handgepinseltes Wandbild. Das ist so hirnrissig, denn es raubt der Stadt ein Element, das ein Gefühl der Verbundenheit, der Zugehörigkeit und des Zuhauseseins schafft.“
Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 hat Eisenhüttenstadt tausende Arbeitsplätze verloren und die Einwohnerzahl ist um mehr als die Hälfte auf 25 000 gesunken. Während einige Stadtteile – vor allem im Zentrum – saniert wurden, wie etwa der Wohnkomplex II, befinden sich andere Gebäude in verschiedenen Stadien des Verfalls.
Wohnblöcke mit fast 7000 Wohnungen wurden in den letzten Jahrzehnten dem Erdboden gleichgemacht. Der gesamte Wohnkomplex VII, in dem Maleschka aufgewachsen ist, wurde abgerissen. Es war das Gefühl des Verlustes, das ihn dazu bewegte, sich mit dem baukulturellen Erbe der DDR zu beschäftigen.
Maleschkas Heimatviertel wurde in den 1970er und 1980er Jahren von Herbert Härtels Tochter, der Architektin Gabriele Haubold, mitgeplant. Anfang der 2000er Jahre arbeitete sie für die Stadtverwaltung und wurde als Expertin für die Plattenbauweise mit dem Abriss des Wohnkomplexes beauftragt: „Der Leerstand stieg rasant an, in den frühen 2000ern lag er bei über 30 Prozent, was in keiner Weise vertretbar war“, erzählt die 70-jährige Haubold.
Wenn sie mit ihrem kleinen Auto durch die Stadt fährt, sind auch heute noch vielerorts Bagger am Straßenrand zu sehen. Sie sind damit beschäftigt, nicht erhaltenswerte Reste der DDR in Schutthaufen zu verwandeln – notwendige Maßnahmen, um anderswo wertvollere Teile retten zu können, meint sie.
Haubold fühlt sich mit Eisenhüttenstadt genauso verbunden wie Maleschka. „Mein Vater nahm mich oft mit auf die Baustellen. Er lud seine Kollegen und deren Kinder in unsere Wohnung ein. Die Themen Städtebau, Architektur und Probleme beim Bauen waren ständig präsent“, erinnert sich Haubold.
Eine Besonderheit in Eisenhüttenstadt überzeugt sie besonders: „Nach den 16 Grundsätzen des Städtebaus, die in der DDR galten, musste die Architektur demokratisch sein. Das bedeutete unter anderem, dass das soziale Gefüge ausgeglichen sein sollte. Also wohnte Arbeiter neben Arzt, Arzt neben Bürgermeister, und Bürgermeister neben Wäscherin und so weiter. Es gab keine Privilegien für bestimmte Gruppen.“
Jens Malling ist Journalist.