09.01.2025

Kaltgestellte Wähler

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Kaltgestellte Wähler

von Benoît Breville

Bei den vielen Wahlen 2024 war nicht zu erwarten, dass ausgerechnet die Präsidentschaftswahl in Rumä­nien so viel Aufmerksamkeit erregen würde. Seit 1989 wechselten sich dort die Sozialdemokratische Partei (PSD) und die Nationalliberale Partei (PNL), beide westlich und proeuropäisch orientiert, an der Macht ab oder regierten wie derzeit gemeinsam. Eine Überraschung schien eher unwahrscheinlich.

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Doch diese Wahl wird in die Annalen eingehen. Zum einen, weil der amtierende Premierminister Marcel Ciolacu (PSD) und sein Gegenkandidat von der PN im ersten Wahlgang ausschieden. Zum anderen, weil sie kurzerhand für ungültig erklärt wurde.

Das Ganze begann am Abend des 24. November. Călin Georgescu, dessen Umfragewerte zwischen 5 und 9 Prozent geschwankt hatten, lag auf einmal mit 23 Prozent der Stimmen an der Spitze. Er gehörte früher der extremen Rechten an, trat aber als unabhängiger Kandidat ohne Partei und Wahlkampfkasse an und lehnte jeden Fernsehauftritt ab. Stattdessen äußerte er sich auf Tiktok und Youtube zu Ernährungs- und Energiesouveränität und wetterte gegen Globalisierung, Inflation, Einwanderung, Nato, EU, Hilfen für die Ukraine und Corona-Impfungen, das Ganze garniert mit allerlei Esoterik und Jesus-Anrufungen.

Wenn so jemand die Regierung eines Landes übernimmt, durch das das ukrainische Getreide transportiert wird und das demnächst den größten Nato-Stützpunkt Europas beherbergen wird, ist mit Widerstand zu rechnen. So klagte am 28. November der vom scheidenden Präsidenten Klaus Iohannis (PNL) geleitete Nationale Verteidigungsrat, Tiktok habe Geor­gescu „bevorzugt behandelt“.

Am 4. Dezember legte Iohannis dann Geheimdienstdokumente vor, die auf eine ausländische Einmischung hindeuteten. Damit begründeten die Richter des Verfassungsgerichts, die ihre Ämter der PSD und der PNL verdanken, unter dem Beifall der westlichen Regierungen die Annullierung der Wahl.

Diese „deklassifizierten“ Unterlagen besagen: Influencer wurden bezahlt, um Werbung für Georgescu zu machen, und zwar in Höhe von 380 000 Euro – nicht sonderlich viel im Vergleich zu den 11 Millionen ­Euro, die Ciolacu für seinen Wahlkampf ausgegeben hat. Der Kandidat soll auch die koordinierte Unterstützung von 25 000 Tiktok-Konten erhalten haben, dank derer seine Videos viral gingen. Tausende von Cyberangriffen sollen sich zudem gegen die IT-­Infra­struktur der Wahl gerichtet haben. Das ist alles. Es gibt keine Beweise für eine ausländische Intervention oder eine geheime Unterstützung Geor­ges­cus.

Ob hier Moskau die Hand im Spiel hatte oder nicht, die Vorwürfe scheinen in jedem Fall geradezu lächerlich. In den USA gab Kamala Harris 140 Millionen Dollar aus, um ihre Reichweite auf Facebook und Instagram zu erhöhen, sechsmal so viel wie ihr Konkurrent – und verlor. Reichweite ist nicht alles, auch die Botschaft muss überzeugen.

Eines ist sicher: Dank ­Rumänien und der Europäischen Union können künftig alle, deren Wahlkampfreden von den Medien ignoriert werden und die in den sozialen Netzwerken wenig Reichweite generieren, Wahlen an­nullieren lassen, wenn ihnen das ­Ergebnis nicht gefällt.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 09.01.2025, von Benoît Breville