SOS aus der Arktis
Was ein sowjetischer Eisbrecher mit Antonio Gramsci zu tun hatte
von Peter Kammerer

In Zeiten allgemeiner Desorientierung, in denen gängige Narrative zu Sackgassen werden, aus denen herauszukommen verordnete Lesarten so wenig nützen wie das Pfeifen im Wald, wird Erzählen zur letzten Hilfe. Walter Benjamin, der in den 1930er Jahren eine Krise des Erzählens diagnostizierte, liebte die Geschichten von Johann Peter Hebel. Eine beginnt mit dem programmatischen Satz: „Es ist nichts lehrreicher als die Aufmerksamkeit, wie in dem menschlichen Leben alles zusammenhängt, wenn man es zu entdecken vermag.“
In diesem Geist begann die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg ihre Streifzüge durch die Geschichte der sich auflösenden Sowjetunion. Wobei sie Bilder fand, die unerwartete Zusammenhänge stifteten. In der Kühle des Arktis- und Antarktismuseums von Sankt Petersburg fotografierte sie Schaukästen zur Geschichte des Eisbrechers „Krassin“.
Dass dieser Eisbrecher im Mai 1928 weltberühmt wurde, verdankte er dem neuen Medium Radio. Erstmals wurde eine dramatische Abfolge von Katastrophe und Rettung weltweit übertragen. Erstmals hielt die technisch zivilisierte Menschheit gemeinsam den Atem an, bangte um das Schicksal der Nordpolexpedition von Umberto Nobile.
Am 24. Mai hatte der Pionier der italienischen Luftfahrt mit seinem 100 Meter langen Luftschiff „Italia“, das Mitte April von Mailand aufgebrochen war, von Spitzbergen aus den Pol erreicht. Wegen der schlechten Wetterverhältnisse konnte er jedoch nicht landen und lediglich die italienische Trikolore und ein von Papst Pius XI. gesegnetes Kreuz abwerfen.
Auf dem Rückweg dann die Katastrophe: Die „Italia“ verlor, durch Vereisung zu schwer geworden, stark an Höhe. Zehn Besatzungsmitglieder wurden mit der Gondel aufs Packeis geschleudert, weitere sechs verschwanden mit dem nicht mehr steuerbaren Luftschiffwrack – für immer.
Von den Abgestürzten fand einer den Tod. General Nobile und der Mechaniker Natale Cecioni lagen mit gebrochenen Knochen auf dem Eis. Doch die anderen sieben Überlebenden fanden über die Unglücksstelle verstreut Reste der Gondel, darin Proviant, ein rotes Zelt, nautische Geräte und ein kleiner Kurzwellensender.
Der Bordfunker Giuseppe Biagi schafft es, den Sender in Betrieb zu nehmen und SOS zu funken. Doch die Hilferufe verhallten. Die Suche nach den Verschollenen wurde nach wenigen Tagen aufgegeben. Doch dann fing am 2. Juni ein russischer Amateurfunker, Lehrer im winzigen Ort Wochma bei Archangelsk, den Notruf auf. Es folgte eine bis dahin nie gesehene internationale Rettungsaktion, mit Schiffen, Flugzeugen und Schlittenmissionen, die aus Norwegen, Finnland, Schweden und der Sowjetunion aufbrachen.
Der verstümmelte Notruf „SOS… rao… rao… Foyn“ mit der Position der Absturzstelle unweit der Insel Foynøya im Spitzbergenarchipel wurde 1929 zum Titel der ersten erhaltenen Hörspielproduktion des deutschen Rundfunks. Autor war der Arzt, Schriftsteller und engagierte Kommunist Friedrich Wolf. Die Radiozeitschrift Funkschau schrieb damals: „Ohne Funk, vor allem aber die unerhörte Leistung der kurzen Welle, wäre die ganze Expedition wohl auf ewige Zeiten verschollen geblieben, wie das mit unzähligen anderen Expeditionen früherer Jahre der Fall war.“
Schon 1926 hatte der Norweger Roald Amundsen, der 1911 erstmals den Südpol erreicht hatte, zusammen mit Nobile und dem Amerikaner Lincoln Ellsworth im Luftschiff „Norge“ den Nordpol überflogen. Beim Wettstreit um den Ruhm war es zwischen Amundsen und Nobile zu Unstimmigkeiten gekommen. Nun aber brach Amundsen am 18. Juni 1928 zusammen mit dem Piloten Leif Dietrichson in einem winzigen Flugboot auf, um Nobile zu suchen. Die beiden und die vierköpfige französische Besatzung kehrten nicht zurück.
Glücklicher verlief der Flug des schwedischen Oberstleutnants Einar Lundborg, der am 24. Juni die Verunglückten erreichte. Dass er auftragsgemäß den widerstrebenden Nobile und seine Hündin Titina als Erste ausflog, sollte den Ruf Nobiles schwer beschädigen.

Mit dem Luftschiff an den Pol
Als Lundborg bei seinem zweiten Einsatz havarierte, stellte Schweden seine Rettungsaktion ein. Die letzten Überlebenden der „Italia“ wurden so erst am 12. Juli durch den russischen Eisbrecher „Krassin“ gerettet. Der damals größte Eisbrecher der Welt – noch in der Ära der Zaren auf einer englischen Werft gebaut – war 1919 von den Briten konfisziert, aber 1921 durch Vermittlung des Volkskommissars Leonid Krassin von der Sowjetunion zurückgekauft worden.
Von den vielen zur Suche ausgesandten Schiffen war nur die „Krassin“ in der Lage, die Unglücksstelle zu erreichen. Dabei rettete sie auch die drei Expeditionsmitglieder, die sich nach dem Absturz von der Gruppe getrennt hatten, um zu Fuß das Festland zu erreichen. Die drei wurden immer wieder durch die Eisdrift zurückgeworfen; der schwedische Meteorologe Finn Malmgren hat die Strapazen nicht überlebt. Bis heute hält sich die Vermutung, die beiden Geretteten hätten sich mit dem Fleisch des toten Gefährten vor dem Hungertod bewahrt.
Als die „Krassin“ kurz darauf, am 24. Juli, auch das deutsche Passagierschiff „Monte Cervantes“ mit 1825 Menschen an Bord aus Seenot rettete, wurde der Eisbrecher endgültig zur Legende. Seinen Tauchern war es gelungen, das von einem Eisberg leckgeschlagene Schiff zu reparieren.
Für einen kurzen Augenblick wurde die „Krassin“ auch für Antonio Gramsci zu einem Hoffnungsschimmer. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) – und bedeutende marxistische Theoretiker – saß seit November 1926 im Gefängnis. Ein faschistisches Sondergericht hatte ihn im Juni 1928 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Gramscis Schwägerin Tatjana Schucht schrieb ihm am 25. Juli 1928: „Hast Du gesehen, wie tüchtig die ‚Krassin‘ war? Das wird uns nützlich sein, erinnerst Du Dich?“
Damit drückte Tatjana die Hoffnung aus, Gramsci könnte durch einen Gefangenenaustausch zwischen der Sowjetunion und dem faschistischen Italien gerettet werden. Eine vatikanische Vermittlung war ergebnislos verlaufen. Nun aber versuchte Gramscis Nachfolger Palmiro Togliatti in seinem Moskauer Exil, die Situation zu nutzen.
Einen Tag nachdem die „Krassin“ die Mitglieder der Nobile-Expedition aus dem Packeis gerettet hatte, regte Togliatti in einem Brief an den Komintern-Vorsitzenden Nikolai Bucharin Folgendes an: Die Mannschaft der „Krassin“ solle Nobile auffordern, von Mussolini die Freilassung Gramscis und dessen Ausreise in die Sowjetunion zu erbitten. Und zwar mit dem Hinweis, dass der chronisch kranke Gramsci „vielleicht im Gefängnis sterben wird“.
Diese Anregung blieb folgenlos. Kurz darauf verlor Bucharin auf Geheiß Stalins den Vorsitz der Kommunistischen Internationale. Aber selbst wenn die Idee Nobile erreicht hätte, hätte dieser bei Mussolini kaum Gehör gefunden. Zwar wurde der Forscher bei seiner Rückkehr am 31. Juli in Rom von einer riesigen Menge gefeiert, doch führende Kreise der Armee und Regierung intrigierten gegen ihn und gaben ihm die Schuld am Scheitern der Expedition.
Der einst vom faschistischen Regime gefeierte Nobile wurde der Feigheit bezichtigt, weil er von Lundborg als Erster ausgeflogen worden war. Eine alles andere als unabhängige Untersuchungskommission fällte ein Verdikt, das den General zwang, um seine Entlassung zu bitten. Als Experte für Luftfahrt bekam er Angebote aus der Sowjetunion, den USA und Spanien, die er zeitweise annahm. Nach Italien zurückgekehrt, wurde er 1945 rehabilitiert und im Juni 1946 auf der Liste der PCI in die verfassunggebende Versammlung gewählt.
Noch vor der „Italia“-Tragödie hatte Gramsci am 18. April 1927 aus dem Gefängnis an seine Frau Giulia in Moskau geschrieben: „Erinnerst Du Dich an die Reise Nansens an den Nordpol? Und weißt Du noch, wie sie vonstatten ging?“ Und dann schilderte er, wie Nansen auf Grund seiner Studien im Arktischen Meer und in Grönland die Idee entwickelte, er könnte zum Pol oder wenigstens in dessen Nähe gelangen, indem er sein Schiff von den Eisbergen transportieren ließ: „So ließ er sich vom Eis einschließen und dreieinhalb Jahre lang bewegte sich sein Schiff nur dann, wenn sich das Eis ganz langsam weiterbewegte. Mein seelischer Zustand ist mit dem von Nansens Matrosen auf dieser fantastischen Reise vergleichbar, die mich stets durch ihr wahrhaft episches Konzept beeindruckt hat.“
Gramscis Brief bezog sich auf Nansens Expedition der Jahre 1893 bis 1896. Damals war es der „Fram“, dem vom Eis eingeschlossenen Schiff, nicht gelungen, Nansen bis nahe an den Nordpol zu bringen. Doch diese Expedition gilt bis heute in der Geschichte der Forschungsreisen als herausragendes Beispiel für wagemutige Klugheit.
Gramsci, der im Gefängnis Eingeschlossene, hatte sich dieses Bild der Vergeblichkeit zu eigen gemacht. Zutreffend, wie sich zeigen sollte: Am 25. April 1937 erlangte er zwar formal seine Freiheit zurück, konnte aber das Bett nicht mehr verlassen und starb zwei Tage später in der Klinik Quisisana in Rom.
Die „Krassin“ liegt heute als Museumsschiff auf der Newa in Sankt Petersburg. Auf Porträtfotos sieht man die Männer der ehemaligen Besatzung: hochqualifizierte Seeleute, Techniker, Taucher, Piloten, Wissenschaftler. Von der Mannschaft, die 1928 in der ganzen Welt geehrt wurde, hat keiner das Jahr 1938, den Höhepunkt der Stalin’schen Säuberungen, erlebt.
Im Zweiten Weltkrieg begleitete die „Krassin“ Konvois in den arktischen Gewässern. Ende der 1950er Jahre wurde sie in der DDR modernisiert und blieb bis zum Jahr 1972 in Dienst. Noch während der Nobile-Rettung hatte der Kameramann Wilhelm Bluwstein an Bord der „Krassin“ Szenen gedreht, die 1928 von den Brüdern Wassiljew zu dem Film „Eisbrecher Krassin“ (deutscher Titel: „Das weiße Geheimnis“) montiert wurden. 1969 strickte auch der sowjetisch-italienische Film „Das rote Zelt“ an der Legende (mit Sean Connery, Claudia Cardinale und Hardy Krüger).
Umberto Nobile starb 1978 im Alter von 93 Jahren in Rom. Das rettende Funkgerät hängt als Votivgabe in der Wallfahrtskirche Divino Amore in der römischen Campagna.
Peter Kammerer ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino.
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