Panik in Brüssel
von Benoît Breville
Der Sieg Donald Trumps bei den US-Wahlen verbreitet Panik unter den Staats- und Regierungschefs Europas. Man fürchtet die Umsetzung seiner Aussagen im Wahlkampf: Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine, Ende des militärischen Schutzschirms, Überprüfung der traditionellen Bündnisse, aggressiver Protektionismus. Diese Maßnahmen würden die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete internationale Ordnung durcheinanderbringen, und darauf ist die EU nicht vorbereitet.
Deshalb beschwören die politisch Verantwortlichen ihre Einigkeit. „Wir haben gezeigt, dass Europa Verantwortung übernehmen kann, indem es zusammensteht“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, und der französische Präsident Emmanuel Macron verkündete ein „einigeres, stärkeres und souveräneres Europa“ dank „strategischer Autonomie“. Schöne Worte, denen aber niemand mehr wirklich Glauben schenkt.
Zum einen, weil solche Versprechen bereits bei vielen Gelegenheiten gemacht wurden – beim Fall der Berliner Mauer, bei der US-Intervention im Irak, in der Finanzkrise von 2008/09, zu Beginn von Trumps erster Amtszeit –, ohne dass sich am Vasallenstatus Europas gegenüber den USA irgendetwas geändert hätte.
Zum anderen, weil die Europäer gar nicht über die Mittel dafür verfügen. Würde Washington seine Unterstützung für die Ukraine einstellen oder auch nur verringern, wären sie nicht in der Lage, die Lücke zu füllen. Aus einer jahrzehntelangen Abhängigkeit vom US-Militärkomplex, mit seinem Know-how, seinen Waffensystemen, seiner logistischen Infrastruktur, seinen Geheimdiensten und Produktionskapazitäten kommt man eben nicht so leicht heraus.
Der Ukraine wird dann nichts anderes übrigbleiben, als die Bedingungen eines zwischen den USA und Russland ausgehandelten Friedens zu akzeptieren, der voraussichtlich mit Gebietsverlusten einhergehen wird. Für die europäischen Staatschefs, die so viel Geld und politische Glaubwürdigkeit in einen ukrainischen Sieg als einzig möglichen Kriegsausgang investiert haben, wäre das eine saftige Ohrfeige.
Deshalb versuchen sie verzweifelt, Trump davon abzubringen, seine Drohungen wahrzumachen, indem sie ihm anbieten, was er sich wünscht. Sei es, dass Ursula von der Leyen in Aussicht stellt, mehr US-Gas zu kaufen, sei es, dass Annalena Baerbock den deutschen Verteidigungshaushalt auf über 2 Prozent des BIPs erhöhen will oder dass die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas eine härtere Gangart gegenüber China fordert.
Zudem kann man auf Einigkeit nicht zählen. Die Europäer haben sich als unfähig erwiesen, nach dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu mit einiger und starker Stimme zu sprechen. Österreich, Ungarn und Tschechien lehnten die Gerichtsentscheidung ab, Belgien, Irland und Spanien unterstützten sie. Frankreich und Deutschland eierten herum und erklärten, sie würden sie „zur Kenntnis nehmen“ und „prüfen“. Abgesehen von der deutschen „Staatsräson“ liegt das Dilemma darin, entweder den USA gefällig zu sein – oder die internationale Gerichtsbarkeit zu respektieren.Benoît Bréville