Brief aus Lagos
von A. Igoni Barrett
Die ganze Nacht hingen drohende Regenwolken über Lagos. Und als ich am Morgen erwachte, tobte ein Sturm in meiner Familie. Meine Tante war an Nierenversagen gestorben, eine Frau mit sanftem Blick und weicher Stimme, 65 Jahre alt, die jüngere Schwester meiner Mutter ... Diese übermittelte die Nachricht aus dem fernen London, wo sie die letzten 15 Jahre gelebt und ihre Familie in Nigeria immerzu vermisst hat. Ihre Stimme klang gespenstisch in dem glasklaren Whatsapp-Anruf. „Nene ist von uns gegangen“, sagte sie.
Selbst wenn man mit dem Tod rechnet, trifft einen die Nachricht wie ein Schlag, der einem den Atem raubt. Aber der Tod meiner Tante kam plötzlich und unerwartet – wir hatten uns nicht verabschieden können, keine Floskeln gesprochen, die uns auf die große Leere vorbereiten. Nie wieder würde ich die Gelegenheit haben, meiner Lieblingstante zu sagen, dass sie ein Fixstern im Universum meiner schönsten Kindheitserinnerungen gewesen war.
An jenem wolkenverhangenen Oktobermorgen, als ich von ihrem Tod erfuhr, konnte ich mit allen sprechen, nur nicht mit ihr, mit der ich so gern gesprochen hätte. Als ich all die unbeholfenen Telefonate mit meinen trauernden Verwandten überall auf der Welt erledigt hatte, waren die Regenwolken verschwunden, und am Himmel über Lagos brannte die auferstandene Sonne am weiten blauen Himmel.
Meine Tante hatte ihr ganzes Leben in Port Harcourt verbracht, der Stadt, die dem Grab ihrer Eltern am nächsten liegt. Sie war eine zufriedene Stubenhockerin gewesen, mit wenig Lust auf Abenteuer. Nach Lagos war sie einmal für die Hochzeit ihres Neffen gereist, und nach Abuja nur, um alle ihre vier Kinder auf einmal zu besuchen. Und auch das nur mit Widerwillen, wenn ihre große Schwester, meine Mutter, sie überredet und bedrängt hatte. „Nene muss mal ein bisschen rauskommen“, hatte meine Mutter gesagt, als wir das letzte Mal vor ihrem Tod über meine Tante gesprochen hatten.
Meine Mutter hatte eigentlich vorgehabt, ihre zuckerkranke Schwester dazu zu bewegen, dass sie nach Warri zu einer anderen Schwester fährt, deren Mann eine urologische Spezialklinik betreibt. Dort hätte Nene sich wegen ihres leichten Fiebers behandeln lassen und danach nach Abuja weiterreisen sollen, um sich in der Obhut ihrer Kinder zu erholen. Meine Mutter war sicher, dass ihr Plan noch perfekter wäre, würde ich meine Tante davon überzeugen, auch noch einen Zwischenstopp bei mir in Lagos einzulegen.
Wir führten dieses Gespräch zu einem Zeitpunkt, als das landesweite Stromnetz gerade zum neunten Mal innerhalb eines Jahres zusammengebrochen war. Die Folge war eine Serie von Stromausfällen, wie wir sie noch nicht erlebt hatten, obwohl Nigerias Bevölkerung schon daran gewöhnt ist, kein Licht am Ende des langen Tunnels verfallender Infrastruktur zu sehen.
Das Fleisch und die Meeresfrüchte in meiner Tiefkühltruhe verschmolzen zu blutigem Matsch; mir ging das Wasser aus, weil die Pumpe für den Dachtank ohne Strom war; und die horrenden Benzinpreise, die sich innerhalb weniger Monate vervierfacht hatten, brachten meinen lärmenden Generator fast gänzlich zum Schweigen. Ich sagte meiner Mutter die beschämende Wahrheit, dass ich zu beschäftigt war mit den Alltagssorgen in einer modernen Stadt ohne Strom, um für meine Tante den Gastgeber zu spielen.
Drei Wochen später, auf der ersten Etappe ihrer von meiner Mutter für sie geplanten Genesungsreise, lag Nene leblos in der Klinik ihres Schwagers in Warri. Solange sie am Leben war, war sie den gut gemeinten Ratschlägen anderer gefolgt. Und jetzt planten wir, die wir das Glück hatten, noch am Leben zu sein, schon wieder eine Reise für sie.
An diesem grauen Oktobermorgen in Lagos galt mein erster egoistischer Gedanke, als ich von Nenes Tod erfuhr, den unzähligen Gefahren und unerschwinglichen Kosten, die eine Reise zwischen Bundesstaaten in meiner krisengeschüttelten Heimat bedeutet.
Nenes Leichnam war in Warri, während ihr Leben, ihr Hab und Gut und alles, was sie zurückgelassen hatte, in Port Harcourt waren, wo sie auch begraben werden sollte. Keines ihrer Kinder lebte in der Stadt, die sie ihr Zuhause genannt hatte. Ihre zwei Töchter und ihre zwei Söhne waren in ihren Dreißigern, unverheiratet und kinderlos, zu jung, um ihre Mutter zu verlieren.
Eine Tochter war in die sonnenlose Prärie Kanadas ausgewandert und hatte ihre Mutter seit zwei langen Jahre nicht mehr umarmt, auch wenn sie jeden Tag auf Whatsapp gechattet hatten. Ihre andere Tochter und ihre beiden Söhne lebten seit vielen Jahren unter der sengenden Sonne von Abuja, einmal quer durch das halbe Land von Port Harcourt, weit entfernt von den frittierten Kochbananen und dem gepfefferten Fisch ihrer Kindheit an der Küste.
Meine jüngeren Cousinen und Cousins anzurufen, denen ich einst die verrotzten Kindernasen geputzt hatte, und ihnen mein Beileid auszusprechen, war schwer genug. Es fühlte sich leichter an, einfach nach Abuja zu fahren, um ihnen beizustehen: Nenes Babys. Und ihnen bei den unzähligen nötigen Vorbereitungen für die Beerdigung der Frau zu helfen, die sie so gern zur Großmutter gemacht hätten. Ich wollte alle meine Gefühle – Trauer, Mitleid, Nostalgie – in Taten umsetzen.
In den letzten Jahren ist es in Nigeria für jeden, der sich einen Flug leisten kann, unvorstellbar geworden, mit dem Auto oder dem Bus in den Norden des Landes zu fahren. Allzu oft werden Reisende von Banditen überfallen oder entführt. Aber die steigende Nachfrage nach Flugtickets hat den Preis, den man zahlen muss, um über alle Ängste und Sorgen hinwegzuschweben, explodieren lassen; vor allem in den letzten anderthalb Jahren, seit ein neuer Präsident alle mit der Abschaffung der Treibstoffsubventionen schockierte.
Der Mindestlohn in Nigeria – er gilt nur für Beschäftigte im öffentlichen Sektor, für die Mehrheit der im Privatsektor Angestellten wurde er nie durchgesetzt – lag bis Juli dieses Jahres bei 30 000 Naira. Nach Protesten und einem landesweiten Streik erreichten die Gewerkschaften, dass er auf 70 000 Naira angehoben wurde. Das sind 39 Euro pro Monat: der Preis eines T-Shirts bei Zara. Gleichzeitig stieg der durchschnittliche Preis für ein Oneway-Flugticket von Lagos nach Abuja auf 143 000 Naira, etwa 80 Euro. Im letzten Jahr hatte es noch 51 000 Naira gekostet.
Für den Flug nach Abuja zu meinen trauernden Cousins und Cousinen hätte ich zwei Monatsgehälter eines Grundschullehrers hinblättern müssen, den Preis für einen Restaurantbesuch in Berlin. Verglichen damit, wie viel billiger es wäre, den Landweg zu nehmen, fühlte es sich viel zu viel an, um es für Gefühle auszugeben … vor allem, weil ich ja zwei Wochen später auch noch für die Beerdigung nach Port Harcourt würde fliegen müssen.
Meine geliebte Tante stirbt, und sofort denke ich an Geld – den Preis meiner guten Absichten, den monetären Wert meiner Anteilnahme. Selbst angesichts des Todes sinniere ich reflexartig über Nigerias endlose Lebenshaltungskostenkrise. Ein Funfact für alle, die den Klimawandel leugnen: Selbst wenn du schon immer mit ihr gelebt hast – eine Krise bleibt eine Krise.
Lagos platzt aus allen Nähten und leidet schon länger unter Preissteigerungen, als ich auf dieser Erde wandle. Nehmen wir zum Beispiel den Wohnungsmarkt: In Lagos witzeln die Leute über die Scharen von Ratten und Kakerlaken, die mietfrei in unseren maroden Wohnblocks leben. Diese Mitbewohner sind die wahren Eigentümer unserer Immobilien, ihre wuselnden Nachkommen die wahren Erben dieser Erde.
In den 16 Jahren, die ich in Lagos lebe, bin ich siebenmal umgezogen. Und die einzige Konstante in jeder neuen Wohnung war nicht etwa eine stabile Stromversorgung oder dass sauberes Wasser aus dem Hahn kam, sondern der erbitterte Kampf darum, meine Wohnung von hinterlistigen Nagern zu befreien – und meine endlosen Massaker an herumhuschenden Kakerlaken und sirrenden Moskitos, die sich trotz abgedichteter Fenster und regelmäßigem Ausräuchern ihren Weg nach drinnen bahnten.
Abgesehen von der Schädlingsbekämpfung kann ich nach 16 Jahren als Mieter in Lagos auch eine Chronik der Immobilienpreise schreiben, die in meinen Land immer nur steigen – allen ökonomischen Prinzipien, Marktblasen und dem bloßen Gesetz der Schwerkraft zum Trotz – und egal wie stark im selben Zeitraum der Lebensstandard ihrer Bewohner gesunken ist.
Obwohl hauptberuflich Schriftsteller auf dem umkämpften internationalen Buchmarkt, gehöre ich zu der glücklichen Minderheit, die sich die Mieten in jenen besseren Vierteln leisten kann, die Lagos zieren wie Zuckerguss einen geschmacklosen Kuchen. In Berlin wäre ich ein Habenichts; in Lagos bin ich ein Prinz.
Den Status eines Prinzen hat hier jeder, der genug verdient, um sich ernähren zu können, ohne sich etwas zu borgen, der seine Miete bezahlen kann, ohne bei Fremden in der Schuld zu stehen, der seine Müllrechnung pünktlich begleicht und der genug übrig hat, um das Flugzeug zu nehmen, weil die Straßen unsicher sind.
So unsicher, dass der verlässliche SUV meiner Tante, der ihren Leichnam die 200 Kilometer von Warri nach Port Harcourt transportieren sollte, vor den Schlaglöchern kapitulierte und im Nirgendwo liegenblieb. Ihr ältester Sohn, der seine Mutter auf ihrer letzten Reise begleitet hatte, gestand mir später am Telefon, müde, aber tapfer kichernd, dass es sich fast so angefühlt hatte, als wüsste das Auto, dass seine Besitzerin nicht mehr war.
Schließlich hatte ein Abschleppdienst den heißen, unter der Sonne brütenden Geländewagen nach Port Harcourt geschafft, mit dem Leichnam seiner Besitzerin auf dem Rücksitz. Als sie nach Mitternacht ankamen, mussten sie jedoch feststellen, dass die Leichenhalle sich in den Stunden seit der vereinbarten Zeit bis auf den letzten Platz gefüllt hatte.
Die Stimme meines Cousins zitterte, als er mir davon erzählte, wie sich das Abschleppgespann einem Trauerzug gleich durch die schlafenden Straßen der von seiner Mutter so geliebten Stadt gequält hatte. Es dämmerte schon, als sie eine Leichenhalle fanden, die bereit war, Nenes Leichnam über Nacht zu kühlen. Danach galt es die unzähligen üblichen Angelegenheiten zu regeln – das Auto reparieren, das Haus seiner Mutter in Ordnung bringen, ihr Bankkonto auflösen.
„Bist du ganz allein da?“, fragte ich meinen Cousin. Aber seine Antwort war unwichtig, denn ich hatte mich schon entschieden, den Flug von Lagos nach Port Harcourt mit dem Honorar für diesen Liebesbrief zu bezahlen.
Aus dem Englischen von Anna Lerch
A. Igoni Barrett ist Schriftsteller in Lagos. Auf Deutsch erschienen: „Blackass“, Berlin (InterKontinental) 2022. In Kürze erscheint die Fortsetzung „Whyteface“.
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