07.11.2024

Reise ins Südpolarmeer

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Reise ins Südpolarmeer

von Clémence Guetté

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Auf Einladung des Polarinstituts Paul-Émile Victor (Ipev) reiste ich im Dezember 2023 mit der Arbeitsgruppe „Polarregionen“ der französischen Nationalversammlung in die Antarktis. Von Tasmanien aus sind es 2700 Kilometer nach Adélieland, dem von Frankreich beanspruchten Teil des Kontinents Antarktika.

Die Fahrt auf dem Eisbrecher „Astrolabe“ dauert gut eine Woche und führt durch turbulente Gewässer, aufgewühlt von Westwinden namens „Roaring Forties“, „Furious Fifties“ und „Screaming Sixties“. Bei den Mahlzeiten müssen wir unser Geschirr festhalten; um nachts nicht hinausgeschleudert zu werden, müssen wir uns in der Schlafkoje festbinden.

Je näher man dem antarktischen Festland kommt, umso mehr verschwimmt die Orientierung. Gigantische Tafeleisberge mit mehreren Kilometern Länge lassen sich nicht unterscheiden von der Silhouette des Kontinents am Horizont. Zu sehen ist nur noch Weiß, Blau und Grau, keine Bäume, kein Gras, kein Moos. Man muss sich an die tiefe Stille gewöhnen, die jäh von einem gigantischen Krachen unterbrochen wird, wenn ein Gletscher Risse bekommt oder kalbt.

In der Forschungsstation Dumont-d’Urville muss man sich wiederum an das unaufhörliche Dröhnen des Hubschraubers gewöhnen, dessen tonnenschwere Fracht das Überleben in dieser eisigen Abgeschiedenheit sichert. Die Station besteht aus einem Dutzend verstreut liegender Gebäude, die seit 1956 im Zuge verschiedener Forschungsmissionen auf der Adélieland vorgelagerten Pétrel-Insel errichtet wurden.

Es gibt Gemeinschaftsräume, die nur mit Hausschuhen betreten werden dürfen, biologische und seismologische Labore, Computerräume, Lager für Lebensmittel, Werkzeuge und Maschinen, die Zentrale für die Energie- und Wasserversorgung und Schlafräume. Wir brauchten ein paar Tage, um uns in einem Alltag zurechtzufinden, der unter der Mitternachtssonne des Südsommers nur durch die gemeinsamen Mahlzeiten strukturiert ist.

Überall herrscht rege Betriebsamkeit. Im Gemeinschaftsraum erzählt ein altgedienter Techniker vom letzten Defekt der Heizungsanlage und ein junger Zivildienstleistender von der Reparatur des laserbasierten Radarsystems. Eine Wissenschaftlerin erklärt beim Geschirrspülen den Erdmagnetismus, derweil das Küchenteam ohne ein einziges frisches Produkt ein Menü für 100 Personen zubereitet. So viele wohnen hier im Sommer auf der Station; im Winter sind es nur 25, vor allem Logistiker und Techniker.

Während der langen Tage in der Koje, als die „Astrolabe“ das Südpolarmeer überquerte, las ich das Expe­di­tions­tagebuch von Jules Dumont d’Ur­ville. Wie hart müssen die Reisebedingungen gewesen sein, als er 1840 die Antarktis erkundete und den Flecken Erde nach seiner Frau Adélie benannte.

Ins Pantheon der französischen Polarforscher gehört auch Paul-Émile Victor, der 1947 die Regierung überzeugte, einmal im Jahr eine Polarexpedition durchzuführen. Zu erwähnen ist auch die Forschungsgruppe um den Glaziologen Claude Lorius, die in den 1980er Jahren Eisbohrkerne untersuchte und, gemeinsam mit sowjetischen Wissenschaftler:innen, den Zusammenhang zwischen der CO2-Konzentration in der Atmosphäre und der Temperatur auf der Erdoberfläche nachgewiesen hat.

Heute betreibt das Polarinstitut Paul-Émile Victor biologische Forschungen auf den subantarktischen Inseln und unterhält drei Stützpunkte auf dem Kontinent selbst. Von der Forschungsstation Dumont-d’Urville und der dazugehörigen Robert-Guillard-Basis auf Cap André Prud’homme an der Küste von Adélieland brechen die Versorgungskonvois für die französisch-italienische Forschungsstation Concordia auf dem Eisdom Dome C auf (siehe Karte).

Zweimal im Jahr legt ein Team von zehn Personen die 1100 Kilometer zurück. Auf riesigen Schlitten ziehen sie bis zu 200 Tonnen Material, Lebensmittel und Treibstoff hinter sich her. Im großen Weiß folgen sie circa zwei Wochen lang nur den Signalen ihrer GPS-Geräte. Von ihnen und der Fähigkeit der Crew – zum Beispiel im Schneesturm beschädigte Maschinen zu reparieren – hängt das Überleben ihrer Kollegen auf der Concordia-Station ab.

Die seit 2005 durchgehend betriebene Forschungsstation ist eine von dreien, die im Innern des antarktischen Kontinents liegen. In 3200 Meter Höhe führen Wis­sen­schaft­le­r:in­nen Kernbohrungen durch, um anhand der im Eis eingeschlossenen Gasblasen das Erdklima der vergangenen Jahrtausende zu rekonstruieren. Für die letzten 800 000 Jahre ist das bereits gelungen, nun hoffen sie mit einem neuen Bohrkern noch weiter in die Vergangenheit blicken zu können: Das älteste Eis an dieser Stelle soll 1,5 Millionen Jahre alt sein.

Hinzu kommen seismologische Forschungen, etwa zu Gletscherbewegungen oder meteorologischen Veränderungen. Die Antarktis bietet ideale Bedingungen, um die Klimakrise zu verstehen und Prognosen über den Anstieg der Meeresspiegel zu erstellen. Im antarktischen Eisschild lagern rund 70 Prozent der weltweiten Süßwasserreserven, aber mit weniger als 50 Millimeter Niederschlag pro Jahr ist die Zentralantarktis auch die größte Wüste des Planeten. Es mag Millionen von Jahre gedauert haben, die tausende Meter hohen Schneeberge anzuhäufen, schmelzen könnten sie jedoch in weit kürzerer Zeit.

Das Hochplateau, auf dem die Concordia-Station liegt, bietet aufgrund der sauberen und trockenen Luft hervorragende Voraussetzungen für as­tro­no­mische Beobachtungen und die Erforschung der Atmosphäre. Allerdings sind die Bedingungen unter minus 40 Grad Celsius im Sommer und minus 70 Grad im Winter bei völliger Isola­tion noch mal sehr viel härter als in Dumont-d’Urville.

Letztes Jahr besuchten mehr als 100 000 Tou­ris­t:in­nen die Antarktis. Damit hat sich ihre Zahl seit Anfang der 1990er mehr als verzehnfacht. Sie bleiben ein paar Stunden für ein Foto auf dem Packeis – ohne Rücksicht darauf, dass sie damit die Pinguine stören – oder mehrere Nächte in aufwendig errichteten Camps. Der große Nervenkitzel Südpol ist allerdings ein sehr teures Vergnügen, die Anbieter kommen größtenteils aus dem Westen. Die meisten Schiffe werden von US-Reedereien betrieben, gefolgt von australischen, französischen und deutschen.

Bei Ponant, der größten französischen Kreuzfahrtgesellschaft für Antarktisreisen, kosten zehn Nächte in der kleinsten Kabine mehr als 10 000 Euro. Im Gegenzug rühmt sich Ponant als besonders umweltfreundlich, präsentiert alle möglichen Zertifikate und prahlt mit einem Verbot von Einwegplastik. Und das obwohl jeder Passagier mit der CO2-intensiven Reise zur Erderwärmung beiträgt und dutzende Tonnen Schnee zum Verschwinden bringt.

Auch der Fischfang gefährdet das südpolare Ökosystem. Von der antarktischen Leuchtgarnele Krill wurden in den vergangenen 40 Jahren 8 Millionen Tonnen gefischt. Trotz bestehender Fangquoten wurde 2020 mit 450 000 Tonnen ein historischer Höhepunkt erreicht. Die kleinen Krebstiere, die sich von Phytoplankton ernähren, bilden in den Eismeeren die Grundlage der Nahrungskette: Sie werden von Bartenwalen, Robben, Kalamaren, Fischen, Albatrossen oder Pinguinen gefressen.

In Dumont-d’Urville wird auch zu den Folgen der Krillfischerei geforscht. Die Station liegt in einem Pinguinbrutgebiet. Während meines Aufenthalts, der mitten in die Aufzuchtzeit fiel, war die Luft erfüllt vom Geschrei tausender Adéliepinguine. Ornithologen installieren Sensoren im Eis, beringen einzelne Tiere und harren stundenlang in der Kälte aus, um die Bewegungen der Vögel zu studieren. Sie zählen auch die verschiedenen Kolonien, die sich jedes Jahr verändern.

Trotz der Gefahren für das Ökosystem steigen die Fangkapazitäten mit den verbesserten technischen Möglichkeiten – riesige engmaschige Netze und Saugsysteme – und neuartigen Schiffen, deren Bau kürzlich von Norwegen, China und Russland angekündigt wurde. Es hat sich herausgestellt, dass der Krill eine wichtige Rolle im Kohlen­stoffkreislauf spielt, weil er CO₂ aus der Atmosphäre aufnimmt und in tiefere Wasserschichten befördert: bis zu 23 Millionen Tonnen im Jahr, das entspricht etwa den jährlichen Emis­sio­nen Boliviens. Ein Teufelskreis, denn die Erderwärmung trägt wiederum zum Rückgang der Krillpopula­tion bei.

Was die menschliche Präsenz in den sensiblen Polarregionen betrifft, sind zukunftsorientierte Überlegungen vonnöten – im Hinblick auf die Ausbeutung von Rohstoffen, die Einrichtung von Meeresschutzgebieten und Regeln für den Tourismus.

Es ist außerdem unerlässlich, dass die sogenannten westlichen Mächte ihre einseitige Interessenpolitik beenden. Denn jeder Versuch der Aneignung – oder Militarisierung – des Gemeinguts Antarktis hätte irreversible Folgen. So wie es Malaysia 1984 in seinem Beitrag zum Bericht des UN-Generalsekretärs schrieb: „Während die Konsultativ­staaten behaupten, mit der Antarktis im Interesse der Menschheit zu verfahren, ist es offensichtlich, dass das Interesse der Menschheit nur von der Menschheit selbst definiert und gestaltet werden kann.“ Für den Schutz des antarktischen Kontinents muss das internationale Recht zum Kompass werden. ⇥Clémence Guetté

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Clémence Guetté ist Abgeordnete von La France Insoumise in der französischen Nationalversammlung und Co-Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Polarregionen“.

Le Monde diplomatique vom 07.11.2024, von Clémence Guetté