07.11.2024

Tod am Nil

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Tod am Nil

Eine schleichende Umweltkatastrophe zerstört die Lebensgrundlagen im dichtbesiedelten Flussdelta

von Lyse Mauvais, Nada Arafat und Alex Simon

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Die Bedeutung des Nildeltas für Ägypten ist kaum zu überschätzen. In dem grünen Dreieck, das sich nördlich von Kairo auffächert und an der Mittelmeerküste 250 Kilometer breit ist, leben mehr als 40 Millionen Menschen. Das sind 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung und knapp 10 Prozent aller Ein­woh­ne­r:in­nen der arabischen Welt.

In früheren Zeiten war das Delta auch von enormer wirtschaftlicher Bedeutung. Der fruchtbare Boden ließ Ägypten zur Agrarmacht werden – und zur Wiege einer der ersten großen Zivilisationen der Menschheitsgeschichte. Das alte Ägypten mit seinen Pyramiden und Grabstätten, die uns bis heute faszinieren, ist nicht durch Sklavenarbeit und Sand entstanden, sondern vor allem aus dem Boden und dessen Bearbeitung in einem der gewaltigsten Flussdeltas der Welt.

Heute spielt das Delta für das ägyptische Selbstverständnis nur noch eine untergeordnete Rolle. An seine Stelle traten andere Faktoren: die mächtige Armee, die nahezu unermessliche Mega­city Kairo und der für den Welthandel zentrale Suezkanal. Auffällig ist allerdings, dass das Delta nicht einmal in Ägyptens Landwirtschaftspolitik eine Rolle spielt.

Stattdessen fördert die Regierung die großflächige Bewirtschaftung trockener Wüstengebiete, in denen Agrarkonzerne mit großem Bewässerungsaufwand Exportkulturen für Europa und die Golfstaaten anbauen. Eines dieser Projekte heißt „New Delta“ und liegt nur ein Stück westlich des eigentlichen Deltas. Während New Delta mit Investitionen und medialer Aufmerksamkeit überschüttet wird, krankt das echte Delta an einer maroden Infrastruktur und einer schlechten Grundversorgung – obwohl dort nach wie vor der größte Teil der ägyptischen Nahrungsmittel erzeugt wird.

Sofern die Misere des Nildeltas in der internationalen Diskussion überhaupt thematisiert wird, das vor allem mit Blick auf die Zukunft: Was geschieht mit der rasant wachsenden Bevölkerung, wenn der Spiegel des Mittelmeers weiter steigt und immer größere Teile des Tieflands versalzen? Für diese in der Tat existenzielle Frage bringen die Menschen, die im Hier und Jetzt über die Runden zu kommen versuchen, wenig Interesse auf. Denn ihre Sorgen sind noch weit dringender, zum Beispiel die Frage, wie sie ohne sauberes Trinkwasser und ohne Wasser zur Bewässerung überleben sollen.

Die Nöte des Nildeltas haben massive Auswirkungen für ganz Ägypten. Einerseits brüstet sich die ägyptische Führung mit Hightech-Agrarexporten, andererseits hat das Land immer größere Mühe, den eigenen Lebensmittelbedarf zu decken. Die Abhängigkeit von importierten Grundnahrungsmitteln – vor allem Weizen (Ägypten ist der weltgrößte Weizenimporteur) – macht das Land anfällig für Entwicklungen wie die russische Invasion der Ukraine oder der andauernde Wertverlust der eigenen Währung. Die ägyptische Normalbevölkerung hat inzwischen Mühe, genug Essen auf den Tisch zu bringen. Immer mehr Menschen müssen Abstriche nicht nur bei Luxusgütern wie Fleisch machen, sondern auch bei frischem Obst und Gemüse.

Im Mai 2024 verschärfte die ägyptische Regierung die Krise zusätzlich, als sie eine Vervierfachung der staatlich subventionierten Brotpreise ankündigte und damit ein Tabu brach. Jahrzehntelang kamen Preiserhöhungen für Ägyptens wichtiges Grundnahrungsmittel nicht infrage. Die bäuerlichen Gemeinschaften im Nildelta könnten zur Lösung der Krise beitragen. Dafür müssten sie allerdings erst einmal als Ressource erkannt werden, in die es sich zu investieren lohnt, und nicht als eine Belastung, die man ignoriert.

Vom Weltall sieht das Nildelta heute nicht viel anders aus als vor Jahrtausenden: ein hellgrüner Keil zwischen beigefarbener Wüste und blauem Meer, wo der längste Fluss der Welt seine rund 6800 Kilometer lange Reise beendet.

Um das Jahr 5000 v. Chr. machten Menschen sich zum ersten Mal daran, das Gebiet zu bewirtschaften. Seitdem war der Ackerbau hier gesegnet mit jahreszeitbedingten Überschwemmungen, die nährstoffreichen Schlamm ins Tiefland des Deltas trugen und so den Boden über Jahrhunderte hinweg immer wieder neu anreicherten. In Mesopotamien erlebten diverse Zivilisationen ihren Aufstieg und ihren Niedergang, auch weil dort falsch mit Wasser und Lebensmitteln umgegangen wurde. Dass Ägypten diese Zivilisationen allesamt überlebte, ist zu einem nicht unerheblichen Teil dem ewigen Kreislauf der alljährlichen Nilflut zu verdanken.

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Topografie des Deltas jedoch tiefgreifend gewandelt. Das satte Grün ist inzwischen durchgängig mit Grau durchsetzt: mit Städten und Dörfern, die durch Asphaltstraßen miteinander verbunden sind. Seit 1970 wuchs Ägyptens Bevölkerung explosionsartig von 35 Millionen auf über 110 Millionen. Nirgends war das Bevölkerungswachstum so rasant wie im Nildelta.

Und anders als früher fließen die Wassermassen des einst ungebändigten Stroms heute hauptsächlich durch zwei Mündungsarme (in der Antike waren es sieben) Richtung Mittelmeer: den Rosette-Arm im Westen und den Da­miette-­Arm im Osten.

Die ägyptische Regierung ist mitverantwortlich

Bewerkstelligt wurde diese Zähmung des Nils durch einen gigantischen Stausee, der sich fast tausend Kilometer weiter südlich befindet: den Nassersee. Benannt nach dem legendären Präsidenten, der 1971 den Assuan-Staudamm einweihte, hält der Nassersee die Fluten zurück, die früher die Dörfer überschwemmten, den Boden wässerten und das Erdreich mit Nährstoffen versorgten.

Viele Be­woh­ne­r:in­nen des Deltas erinnern sich heute nur dunkel an die Zeiten, als der Fluss noch genügend Frischwasser führte. „Es gibt nicht mehr genug Wasser“, klagt ein junger Lehrer im Gouvernement Kafr asch-Schaich während einer Rundfahrt durch schwarze, nach Kloaken stinkende Kanäle.

Diese Mangelerfahrung ist immer noch neu und für viele erschreckend: Der Wasserreichtum des Flusses ist so tief in Ägyptens DNA verankert, dass manche das ganze Land als „Geschenk des Nils“ bezeichnen. Für einen großen Teil der Normalbevölkerung bleibt der Wassermangel ein Rätsel. „Ich weiß nicht, woran es liegt“, gesteht der Lehrer. „Vielleicht daran, dass in Äthiopien und im Sudan ein Teil des Wassers abgezweigt wird.“

Auch die ägyptische Regierung führt gern die Staudämme am Oberlauf als Erklärung an und zeigt mit dem Finger auf Kräfte, auf die sie keinen Einfluss hat. Ein zweiter Faktor, der oft verantwortlich gemacht wird, ist das ungebremste Bevölkerungswachstum. Die ägyptische Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund 2 Millionen Menschen. Jeder neue Einwohner bezieht sein Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen aus dem Nil. Als dritte Ursache wird das immer heißere und trockenere Wetter ins Feld geführt, das schon jetzt dafür sorgt, dass die Nachfrage nach Wasser steigt, während zugleich immer weniger davon vorhanden ist.

Alle drei Faktoren spielen natürlich eine Rolle, aber sie verstellen auch den Blick darauf, dass der ägyptische Staat an der Verschwendung seiner kostbarsten Ressource mitwirkt.

Die Regierung schlägt einerseits Alarm wegen der Wasserknappheit und zweigt andererseits Unmengen Wasser für Projekte ab, deren Nutzen für die Allgemeinheit fraglich ist. Ein Beispiel ist die New Administrative Capital (NAC), die derzeit östlich von Kairo in der Wüste errichtet wird; ein anderes die staatliche Begeisterung für die Urbarmachung von Wüstengebieten, bei denen Wasser in eine Intensivlandwirtschaft gepumpt wird, die kaum zur Lebensmittelversorgung der ägyptischen Bevölkerung beiträgt.

So wurden rund 100 Kilometer westlich des Nassersees die Toshka-­Seen als künstliche Wasserspeicher angelegt. Mit dem vom Nil abgezweigten Wasser bauen ägyptische, emiratische und saudische Unternehmen Kulturen für den Export an.

Ein noch größere Problem für das Delta ist jedoch die Wasserverschmutzung. Die Lage am Ende des Unterlaufs hat sich von einem Segen in einen Fluch verwandelt. Heute kommt bei den Del­ta­be­woh­ne­r:in­nen nur noch das an, was die flussaufwärts lebende Bevölkerung übriglässt, nachdem sie sich aus dem Fluss bedient und ihm im Ge­genzug Müll mit auf den Weg gegeben hat.

Die Verunreinigungen werden immer stärker – durch Abwässer aus Städten, Fabriken, Krankenhäusern und aus landwirtschaftlichen Betrieben, die großzügig chemische Düngemittel und Pestizide ausbringen. „In meiner Kindheit hatte das Wasser, mit dem wir bewässert haben, eine gute Qualität“, erinnert sich ein achtfacher Familienvater im Umland von Kafr asch-Schaich. „Heute kann man sich mit diesem Wasser nicht einmal mehr die Hände waschen. In einem Kanal hier in der Nähe sammelt sich der ganze Müll aus den industriellen Hühnerfarmen. Die Büffel, die aus dem Kanal trinken, werden krank und gehen zugrunde.“

Auch von Erkrankungen bei Menschen wird berichtet. „Meine Eltern und Großeltern wurden durch das Wasser leberkrank“, berichtet der Familienvater. Zwei Frauen in der Gegend machen für ihre Nierenprobleme ebenfalls die Wasserqualität verantwortlich; bei einer der beiden musste eine Niere entfernt werden. „Riechen Sie, wie das Wasser stinkt, das aus der Pumpe kommt?“, fragt sie. Eine überflüssige Frage – der Gestank ist nicht zu leugnen. „Es raubt uns den Schlaf. Selbst unsere Büffel weigern sich, dieses Wasser zu saufen.“ Noch übler riecht der dicke gelbe Schaum, der in den Speicherbecken für die Bewässerung treibt.

Wasser und Boden im Umland von Kafr asch-Schaich sind mittlerweile so stark verunreinigt, dass manche Bewohner ihre eigenen Erzeugnisse meiden. „Die Leute in dieser Gegend essen das, was sie selbst anbauen, lieber nicht, weil sie wissen, womit es bewässert wird“, erklärt der junge Lehrer. „Wer es sich leisten kann, kauft sein Obst und Gemüse in der Stadt.“

Die ist allerdings 27 Kilometer entfernt. Das bedeutet im besten Fall eine Tagesreise im Auto über meist ungeteerte Straßen und schlimmstenfalls eine ermüdende Expedition per Kleinbus, bei der man viele Male umsteigen muss. Die Ärmsten in dieser verarmten Region essen Lebensmittel, von denen sie wissen, dass sie giftig sind.

Der Familienvater sinniert über die dramatische Entwicklung, die er selbst im Laufe seines Lebens beobachten konnte: „Das, was ich selbst anbaue, verkaufe ich, um Geld zu verdienen. Für meinen eigenen Bedarf kaufe ich Lebensmittel aus anderen Gouvernements. Das ist traurig.“ Die Vorstellung, dass jemand durch seine Erzeugnisse Schaden nimmt, belaste ihn. „Ich fühle mich auch schlecht, wenn ich sehe, dass meine Enkelkinder sub­ven­tio­nier­te Nudeln essen, obwohl sie Reis von meinem eigenen Grund und Boden essen könnten. Aber ich kann nichts dagegen machen. Wovon soll ich leben, wenn ich nichts mehr anbaue?“

Die Verschmutzung wird durch ein weiteres Problem verschärft: die Versalzung. Während aus dem Oberlauf Chemikalien kommen, sickert vom Meer Salzwasser ein. Infolge des steigenden Meeresspiegels verunreinigt es das küstennahe Grundwasser. Das lässt sich beispielsweise im Gouvernement al-Buhaira beobachten, das im westlichen Teil des Nildeltas liegt und nach wie vor die produktivste Agrarre­gion Ägyptens ist. In der Umgebung der Guavenplantage eines älteren Bauern ist das Grundwasser so salzhaltig und steht so nah unter der Oberfläche, dass Nachbarn Gruben zur Salzgewinnung gegraben haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass es für weite Teile des Ackerlandes im Delta keine funktionierende Entwässerungsinfrastruktur gibt, weshalb manche Felder regelrecht mit Salz verkrusten. Der Fachbegriff „Salinität“ bezieht sich auf alle wasserlöslichen Mineralien: Je mehr „gelöste Feststoffe“ das Wasser enthält, umso salinischer ist es – und umso schlechter geeignet für die Landwirtschaft und andere Zwecke. Durch Verdunstung nimmt die Salinität weiter zu, weil die Mineralien sich in dem nicht verdunsteten Wasser konzentrieren.

Der Salzeintrag macht sich im Nildelta großflächig bemerkbar – in der oberen Bodenschicht ebenso wie in den verschrumpelten Pflanzen, die darauf wachsen. Wegen des heißen Klimas müsste das Salz sorgfältig aus den bewässerten Felder herausgespült werden, weil sich sonst immer mehr davon ansammelt. Der Landwirt bringt es auf den Punkt: „Letztlich ist für unsere ganzen Probleme die schlechte Entwässerung verantwortlich.“

Trotz all dieser Probleme wirkt das Delta bei oberflächlicher Betrachtung nach wie vor relativ üppig. Herumliegender Müll wird schnell von dichter Vegetation überwuchert. Erfahrene Landwirte bauen vielfältigste Nutzpflanzen an, die traditio­nellen Grundnahrungsmittel der Del­ta­be­woh­ner:in­nen: Reis, Weizen, Saubohnen, saisonales Gemüse und Obst. Es ist die Art lokal verankerter, diversifizierter Landwirtschaft, die viele von uns im Sinn haben, wenn sie von nachhaltiger Lebensmittelproduktion reden – im Gegensatz zu den export­orientierten Monokulturen, die in anderen Teilen Ägyptens und weltweit gefördert werden.

Der Eindruck einer funktionierenden lokalen Landwirtschaft ist im Delta jedoch mehr und mehr ein Trugbild. Damit sie auf dem zunehmend ausgelaugten und versalzten Boden auch weiterhin Pflanzen anbauen können, greifen die Bauern notgedrungen immer häufiger zu Chemikalien – und treiben die Salinität damit noch weiter in die Höhe.

Dieser Teufelskreis ist nicht nur in Ägypten, sondern weltweit ein verbreitetes Problem. Die Bauern im Nildelta haben es allerdings schwerer als die meisten anderen: Sie müssen nicht nur mit vergifteten Böden und Wasser, sondern auch mit bitterer Armut und winzigen Anbauparzellen zurechtkommen. Die meisten können sich weder Brachzeiten noch unterirdische Entwässerungsanlagen leisten. Beides wäre gut für die Bodenerhaltung. Stattdessen machen sie weiter wie bisher, obwohl sie wissen, dass es ihnen auf lange Sicht schadet. Für einen Umstieg gibt es kaum oder keine Unterstützung.

„An uns denkt niemand“, sagt ein Landarbeiter in Kafr asch-Schaich. Er steht an einem mit Wasserhyazinthen zugewachsenen Graben. Manche Einheimische nennen das Gewächs „Wasserkrebs“, weil es sich so aggressiv ausbreitet. „Die Politiker kommen angereist, versprechen uns allerlei und verschwinden wieder. Es gibt weder NGOs noch andere gemeinnützige Organisationen. Außer Gott hilft uns niemand.“

Das Gefühl, alleingelassen zu werden, haben viele Landwirte im Nildelta: „Die staatlichen Stellen lassen sich bei uns nicht blicken“, klagt ein Bauer mittleren Alters in al-Buhaira. „Die sitzen von 10 bis 13 Uhr in ihren Büros – sonst tun sie nichts.“

Manche wären froh, wenn der Staat sich bei ihnen einfach nur raushalten und ihnen das Leben nicht zusätzlich mit Gebühren und Abgaben schwermachen würde, obwohl er seine Grundaufgaben nicht erfüllt. Gegen die Familie der Frau, die in Kafr asch-Schaich vor lauter Gestank kaum schlafen kann, haben die Behörden ein Bußgeld verhängt, weil sie Abwasser in einen nahegelegenen Kanal eingeleitet habe.

Diese Bußgelder sind nicht nur hoch, sondern auch unvermeidbar, weil der Staat sich weigert, das ungenehmigte Haus der Familie an das Abwassernetz anzuschließen. Auch die als korrupt geltenden Genossenschaften und Landwirtschaftsbanken vor Ort sind keine Hilfe. Ein Landwirt erzählt, der Chef einer Genossenschaft habe den Bauern subventionierte Düngemittel zu überhöhten Preisen verkauft und den Differenzbetrag in die eigene Tasche gesteckt.

Verstärkt wird das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, durch die Erinnerung an jene Zeiten, als der Staat den Bauern im Land mächtig unter die Arme griff. Als Gamal Abdel Nasser Mitte der 1960er Jahre den Staatsaufbau mit Hochdruck vorantrieb, flossen 23 Prozent der staatlichen Investitionen in die Landwirtschaft und Bewässerung – ähnlich lief es in anderen arabischen Staaten auf Modernisierungskurs, etwa in Syrien und im Irak. Anbauflächen wurden neu verteilt, Bewässerungsanlagen ausgebaut, die Menschen auf dem Land erhielten technische und finanzielle Hilfe.

Diese großzügige Unterstützung währte jedoch nicht lange. In den späten 1960er Jahren und frühen 1970er Jahren geriet Ägyptens Wirtschaftswachstum ins Stocken und die Staatsverschuldung explodierte. Ein Grund war der desaströse arabisch-israelische Krieg von 1967 und die darauf folgende Schließung des Suezkanals. Auf der Suche nach Hilfe wandte sich Ägypten an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank und musste im Gegenzug die Staatshilfen kürzen. Als 1977 Präsident Anwar Sadat schmerzhafte Einschnitte bei den Subventionen für Weizen, Speiseöl und andere Grundnahrungsmittel angekündigte, kam es zu Unruhen, bei denen etwa 80 Menschen starben.

Nach dem Aufstand nahm Kairo die Einschnitte zurück, über die sich die Menschen am heftigsten empört hatten, aber im Grundsatz wurde die vom IWF verordnete Liberalisierung fortgesetzt. Der Anteil der staatlichen Investitionen, die in den Agrarsektor fließen, hatte Mitte der 1960er Jahre den Spitzenwert von 23 Prozent erreicht, war Mitte der 1970er Jahre auf 8 Prozent abgestürzt und beträgt heute nur noch 4 Prozent. Liberalisierung, Steuererhöhungen und die fortschreitende Abwertung des ägyptischen Pfunds treiben überdies die Kosten für Pestizide und Düngemittel in astronomische Höhen.

Der Kollaps der Staatsfinanzen plagt nicht nur die Landwirte, sondern auch die Beamten in den Kommunalbehörden, die für ihre Unterstützung zuständig sind. „Den letzten staatlichen Forschungszuschuss bekam ich in den 1990er Jahren“, berichtet ein 73-jähriger Ingenieur.

Er sitzt an seinem leeren Schreibtisch in einem landwirtschaftlichen Forschungsinstitut in einem Vorort von Alexandria, der größten Stadt im Nildelta. Von den Wänden blättert die Farbe, aus den Steckdosen ragen Drähte ohne Isolierung, und die alten Bücher sind von einer Staubschicht bedeckt. Computer sind nirgends zu sehen. Wie die meisten seiner Kollegen – gebrechliche, weißhaarige Männer mit hängenden Schultern – ist er schon seit Jahren in Rente. Einen Nachfolger gibt es nicht, deshalb kommt weiterhin zu seiner früheren Arbeitsstelle, um auf eigene Kosten zu forschen. „Heute sind wir auf private Geldquellen angewiesen. Die Projekte, die mich persönlich interessieren, finanziere ich aus eigener Tasche.“

So viel privates Engagement ist bewundernswert, kann den Staat aber nicht ersetzen. Auch die Bauern zeigen große Einsatzbereitschaft und Solidarität, kommen damit aber ebenfalls nicht allzu weit. In Kafr asch-Schaich zum Beispiel legte die Bevölkerung ihr Geld zusammen und kaufte ein Stück Land, damit der Staat dort eine dringend benötigte Wasseraufbereitungsanlage bauen kann. „Das Grundstück ist seit mehr als sieben Jahren bereit“, sagt der junge Lehrer. „Aber die Regierung hat ihren Versprechungen bis heute keine Taten folgen lassen. Uns selbst fehlt das Geld für den Bau der Anlage.“

Während auf der einen Seite verarmte Gemeinden beim Staat vorstellig werden, um ihr Recht auf sauberes Wasser durchzusetzen, wurde im Zuge des sogenannten New-Delta-Projekts 2023 der Bau der größten Wasseraufbereitungsanlage der Welt verkündet.

Viele Bauern fühlen sich nicht nur alleingelassen, sondern regelrecht verhöhnt. „Wenn wir den Staat um Hilfe bitten“, sagt der Familienvater in Kafr asch-Schaich, „bekommen wir zu hören: ‚Das ist euer Grund und Boden – und der ist eben so, wie er ist.‘ Im Klartext heißt das: Wir sollen aufhören, uns zu beschweren. Und wenn uns die Situation, in der wir sind, nicht gefällt, sollen wir uns etwas anderes ­suchen.“

In der Tat scheint es so, dass in der Agrarvision des ägyptischen Staats für Kleinbauern kein Platz ist. Weit weg von den schwarzen, mit Chemikalien versetzten Gewässern von Kafr asch-Schaich geben die Beamten in Kairo Geld für englischsprachige Werbemittel aus, in denen Ägyptens führende Stellung bei der „Präzisionslandwirtschaft“ und beim „E-Commerce“ mit Lebensmitteln hervorgehoben wird.

Das bringt die ägyptische Landwirtschaftspolitik auf den Punkt: Für Großkonzerne, die in der Wüste Obst und Gemüse für den Export anbauen wollen, ist genügend Wasser und Kapital vorhanden. Die Kleinbauern, auf die die ägyptische Bevölkerung angewiesen ist, geraten dagegen immer mehr aus dem Blick.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Lyse Mauvais ist Umweltjournalistin. Nada Arafat arbeitet als Journalistin für Mada Masr. Alex Simon ist Mitbegründer von Synaps und Programmdirektor für Umweltthemen. Synaps ist eine Informationsagentur in Beirut, die junge For­sche­r:in­nen aus der Re­gion ausbildet. Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Mada Masr und erschien zuerst auf Englisch auf synaps.network.

© Synaps; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.11.2024, von Lyse Mauvais, Nada Arafat und Alex Simon