Kritik von links
von Andrés Cañizález
Bei den Wahlen 2006 fuhr Hugo Chávez sein bestes Wahlergebnis ein. Er hatte sich den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf die Fahnen geschrieben. 2024 hat sein politischer Erbe, Nicolás Maduro, den „Wahlbetrug des Jahrhunderts“ durchgezogen. Die progressive Linke weltweit steht angesichts der venezolanischen Krise vor einer Reihe schwerwiegender Fragen. Die Antworten, die sie zu geben vermag, wird für die demokratische Konstitution der Linken entscheidend sein.
Wird sie, erstens, die Entscheidungen der Wahlkommission und des Obersten Gerichtshofs hinnehmen, die der Exekutive untergeordnet sind und keine überprüfbaren Beweise für den Wahlsieg Maduros vorgelegt haben?
Wird sie, zweitens, die Menschenrechtsverletzungen im Gefolge der Wahlen verurteilen, die unter anderem den Kandidaten der Opposition, Edmundo González, ins spanische Exil getrieben haben?
Wird sie, drittens, das Wahlergebnis auch dann verteidigen, wenn es die politische Niederlage des von Maduro angeführten chavistischen Projekts und stattdessen einen Triumph jener politischen Kräfte offenbart, die die herrschenden Chavisten als „rechtsextrem“ bezeichnen?
Die Linke, in Lateinamerika wie in Europa, wird sehr genau darauf achten müssen, wie sich die progressiven Regierungen Lateinamerikas zu Maduros Abgleiten in den Autoritarismus verhalten – und zu seiner erklärten Absicht, bis 2031 im Amt bleiben und die Macht anschließend nur einem linientreuen Nachfolger übergeben zu wollen.
Dass greifbare Ergebnisse der diplomatischen Bemühungen Kolumbiens und Brasiliens ausgeblieben sind, zeugt nicht nur von deren mangelndem Einfluss, sondern auch davon, dass der Chavismus beschlossen hat, sich nach außen abzuschotten. Nicht nur wurde bei der Wahl am 28. Juli betrogen, es erfolgte auch eine sofortige institutionelle und politische Repression, um die Version von Maduros Wahlsieg zu stützen. In diesem Kontext fiel auch Maduros Bemerkung: „Was brauche ich zu verhandeln, wenn ich die Wahlen gewonnen habe?“
Genau einen Monat nach der Wahl nahm er eine Kabinettsumbildung vor; eine Maßnahme, die an die Aufstellung einer Wagenburg denken lässt. Maduro, der den venezolanischen Rekord der letzten 60 Jahre in der Anzahl politischer Gefangener hält, ernannte ausgerechnet Diosdado Cabello zum Minister für Inneres, Justiz und Frieden.
Cabello ist eine emblematische Figur des Chavismus. Obwohl er als die Nummer zwei des Regimes gilt, hatte er seit Maduros Amtsantritt kein direktes Regierungsamt inne. In seinen Funktionen als Präsident der Nationalversammlung (2012–2016) und der verfassungswidrig eingesetzten „Verfassunggebenden Versammlung“ (2018–2020) hat er jedoch in den letzten Jahren den politischen Takt vorgegeben. Von Maduro an die Spitze der PSUV berufen, bestritt er im Wahlkampf mehr öffentliche Auftritte als der Präsident selbst.
Cabello hat keine ideologische Ausbildung durchlaufen wie Maduro und andere führende Chavisten in der Kaderschule Ñico López auf Kuba. Er war einfach einer, der Chávez schon während dessen militärischer Laufbahn als treuer Untergebener persönlich nahestand. Dieses Vertrauensverhältnis verhalf ihm dann zu einer steilen Karriere; mit nicht einmal 40 Jahren wurde er Vizepräsident Venezuelas.
Kenner der verschiedenen Strömungen innerhalb des Chavismus zählen Cabello zu den Hardlinern mit großem Einfluss auf die Militärführung und auf die Richter am Obersten Gerichtshof. In den letzten Jahren hat er sich öffentlich gegen bilaterale Gespräche und jedwede Art von Verhandlungen mit den USA oder Vertretern der Opposition gewandt. Obwohl er in den Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Venezuela nicht ausdrücklich genannt wird, haben mehrere Menschenrechtsorganisationen dokumentiert, wie er in seiner wöchentlichen Fernsehshow Hass und Hetze verbreitet, die mehrfach zu Verfolgungen und sogar Verhaftungen geführt haben.
Als Minister wird Cabello für die Nationale Bolivarische Polizei (PNB) und den Bolivarischen Nachrichtendienst (Sebin) zuständig sein, zwei Behörden, deren Beteiligung an den vom IStGH untersuchten Fällen erwähnt und auch durch den UN-Menschenrechtsrat dokumentiert wurde.
„Die angekündigte Kabinettsumbildung bestätigt, dass die Staatsmacht eine Art Wagenburg-Strategie verfolgt“, sagte mir der Journalist Jesús Chúo Torrealba, der von 2014 bis 2017 Generalsekretär des oppositionellen Wahlbündnisses Mesa de la Unidad Democrática (MUD) war. „Das ist nicht gerade eine Demonstration von Selbstvertrauen. Und ja, es ist eine Drohgebärde. Es ist ein politischer Kurs der Isolierung und der Entschlossenheit.“
Nach dem 28. Juli hat die regierende PSUV – anders als in der Vergangenheit – die von ihren Beobachtern gesammelten Auszählungsbögen nicht vorgelegt. Die vorliegenden Wahlprotokolle – 85 Prozent sind zugänglich – zeigen ein Verhältnis von etwa 70 zu 30 zugunsten von Edmundo González Urrutia.
Die venezolanische Bischofskonferenz bezeichnet González deshalb als „Kandidat mit den meisten Stimmen“. Auch Papst Franziskus übernahm diese Position und stärkte Bischöfen mit der Bemerkung den Rücken, dass „Diktaturen nichts taugen und früher oder später schlecht enden“. Eine erstaunlich frontale Kritik seitens eines Papstes, dem wegen seiner politisch eher linken Positionen in Venezuela einiges Gewicht zukommt.
Angesichts des Wahlausgangs hat die Regierung Maduro eine dreifache Strategie entwickelt, die den Chavismus bis zum 10. Januar definieren wird, wenn die gewählte Regierung laut Verfassung die Amtsgeschäfte übernimmt.
Erstens: Verhaftungen. NGOs wie der Foro Penal haben darauf hingewiesen, dass wir gegenwärtig die umfangreichsten politisch motivierten Verhaftungen seit der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez (1948–1958) erleben.
Die rasche und massenhafte Festnahme von Menschen, die am 29. und 30. Juli zu spontanen Protesten gegen das verkündete Wahlergebnis auf die Straße gingen, sollte ein Exempel statuieren und jede Initiative im Keim ersticken. Zum jetzigen Zeitpunkt wird nicht mehr massenhaft, sondern gezielt verhaftet. Obwohl Dutzende junge Leute freigelassen wurden, befinden sich laut Foro Penal noch immer rund 60 Jugendliche in Haft. Auch das eine weitere traurige Neuerung in Venezuela.
Zweitens: Verhinderung. In den Wochen vor und nach dem 28. Juli erlebten wir in Venezuela eine allmähliche und systematische Zersetzung der Führungsebenen der politischen Parteien, die auf einen Wandel durch Wahlen hingearbeitet hatten. Das geschah durch Verfolgung und Festnahmen sowie durch repressive Maßnahmen gegen ihre Kampagnenprofis. María Corina Machado, die einst führende Persönlichkeit der Opposition, wurde Opfer einer Desinformationskampagne, die sie als „Ultrarechte“ diskreditierte (und ihren Ausschluss von der Wahl begründete). Denn obwohl Machado durchaus auf Verbündete unter den Ultrarechten zählen kann, verfolgt sie ihren eigenen Kurs, früher eher staatsfern-liberal, mittlerweile eher in der rechten Mitte.
Ziel ist es nicht nur, die Opposition einzuschüchtern, sondern auch, ihre politische Arbeit schlicht unmöglich zu machen, indem man bekannte Stimmen zum Schweigen bringt oder ins Exil zwingt. Die Flucht von González Urrutia nach Spanien ist nur die bekannteste und symbolträchtigste. Diejenigen, die im Land bleiben, tun dies unter sehr strengen Sicherheitsmaßnahmen, die ihren politischen Handlungsspielraum stark einschränken.
Drittens: Verzweiflung. Außer dem Versuch, ein Klima der Angst zu erzeugen, besteht die offizielle Strategie darin, die venezolanische Bevölkerung, die am 28. Juli friedlich und in großer Zahl zur Wahl gegangen ist und weiß, was in den Wahllokalen wirklich passiert ist, völlig verzweifeln zu lassen. Die venezolanische Gesellschaft hat massive Repressionen nach den Straßenprotesten von 2014 und 2017 erlebt. Bei den jetzigen Wahlen hat sie erneut Tapferkeit bewiesen, eine stillere und zivilere, aber darum nicht minder bewundernswerte Tapferkeit, an der Millionen Menschen teilhatten, als sie mit ihrer Stimmabgabe für einen Wandel durch Wahlen eintraten.
Der Chavismus entstand als eine heterogene Bewegung mit linken, nationalistischen und militaristischen Zügen, die erst durch die charismatische Figur von Hugo Chávez zusammengeführt wurde. Die Kritik und der Vorwurf des Autoritarismus, die Hugo Chávez jahrelang entgegenschlugen, wurden von der hiesigen Linken regelmäßig mit der Antwort gekontert: In Venezuela gebe es Wahlen, und das Volk wähle mehrheitlich Chávez. Was auch stimmte.
Was jetzt in Venezuela geschieht, ist nicht bloß Wahlbetrug; es ist der Verrat an einem zentralen Wert des Chavismus: die Legitimation durch freie Wahlen. Die Verantwortung dafür trägt Nicolás Maduro.
Die internationale Linke steht nun mit Blick auf Venezuela vor einem zweifachen Dilemma. Argentiniens frühere Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat sich zu Venezuela nur knapp, aber sehr symbolträchtig geäußert: „Ich fordere – nicht nur um des venezolanischen Volkes, der Opposition und der Demokratie, sondern auch um des Vermächtnisses von Hugo Chávez willen –, dass die Wahlprotokolle veröffentlicht werden.“
Doch die internationale Linke muss nicht nur die Offenlegung und Überprüfung der nach Wahllokalen aufgeschlüsselten Ergebnisse fordern, sie muss sich auch klar und eindeutig von den gravierenden Menschenrechtsverletzungen distanzieren.
Als Hugo Chávez sich Mitte der 1990er Jahre für den Weg freier Wahlen entschied, war die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) seine Verbündete der ersten Stunde. Im vergangenen Jahr distanzierte sie sich öffentlich von Maduro und fasste ihre Entscheidung in dem Satz zusammen: „Die Verteidigung der [von Chávez 1999 per Referendum eingeführten] Verfassung und des Rechtsstaats ist kein Faschismus.“
Auch der internationalen Linken sollte dieser Satz zur Orientierung dienen: Das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Verfassung ist mit dem Eintreten für soziale Gerechtigkeit zu vereinen. Nach den Zahlen von Foro Penal erfolgten von den 1834 Festnahmen, die zwischen dem 28. Juli und dem 18. September stattfanden, etwa 90 Prozent in ärmeren Wohngegenden, in denen (was Maduro vermutlich am wenigsten ertragen konnte) in der Vergangenheit stets zugunsten des Chavismus abgestimmt wurde. Diese Repression gegen die unteren Bevölkerungsschichten darf nicht hingenommen und zur Normalität werden.
Das haben die links-progressiven Regierungen Mexikos, Kolumbiens und Brasiliens mit der in solchen Fällen üblichen diplomatischen Mäßigung betont, stellen aber in ihrem Kommuniqué unmissverständlich klar: „Die Achtung der Menschenrechte muss unter allen Umständen Vorrang haben.“ Das sollte als Leitsatz dienen, um das Venezuela dieser Tage richtig zu verstehen und zu beurteilen. Wählen ist ein Menschenrecht, ebenso wie auf die Straße zu gehen.
⇥Andrés Cañizález
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Andrés Cañizález ist Publizist und Politikwissenschaftler an der Universidad Católica Andrés Bello, Venezuela.
© El Dipló, Cono Sur; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin