Rückkehr der Austerität
von Benoît Breville
Der Begriff ist mittlerweile dermaßen diskreditiert, dass ihn kaum noch jemand in den Mund zu nehmen wagt. Als die EU im Juni gegen sieben Länder Defizitverfahren eröffnete und unter Androhung von Sanktionen zur Haushaltssanierung aufforderte, verwahrte sich der Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni gegen die Behauptung, es handele sich um Austeritätspolitik. Brüssel müsse nun mal – nach der pandemiebedingten Lockerung – strenger auftreten, aber man dürfe Zurückhaltung bei den Ausgaben, zu der Staaten mit hohem Defizit und hoher Verschuldung verpflichtet seien, nicht mit Austerität verwechseln.
Mitte Oktober sprach die französische Regierung, um ihre Etatkürzungen um 40 Milliarden Euro zu verkaufen, von einem „Haushalt der Verantwortung“ und „der Wahrheit“. Die italienische Regierung, die 13 Milliarden Euro einsparen will, begibt sich auf einen „Anpassungspfad“.
So also sieht die Rückkehr zur Austeritätspolitik aus: nicht mehr als Schocktherapie, sondern allmählich, unauffällig, ja verschämt. Seit den Rosskuren, die dem europäischen Süden nach der Finanzkrise von 2008 verordnet wurden, ist das alte Rezept in Verruf geraten. Die Folgen waren in Griechenland zu besichtigen: rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Selbstmordrate, der Kindersterblichkeit und so weiter. Die EU verlangte Geduld. 15 Jahre später herrscht immer noch Austerität im Land. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt um 30 Prozent, der durchschnittliche Jahreslohn um 25 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Und die Staatsverschuldung beträgt immer noch 159 Prozent des BIPs.
In Deutschland hat die Schuldenbremse einen Investitionsstau bewirkt. Mit der Folge, dass Brücken einstürzen und die Deutsche Bahn ständig verspätet ist. Dabei weiß man seit der Sparpolitik der Brüning-Regierung vor 1933, wie gefährlich sie ist und wie erfolglos: „Sie sucht in den Taschen derer, die das Problem nicht geschaffen haben, nach einer Lösung, die nicht funktioniert“ (Marc Blyth).
In einer Welt, in der ein neuer Weltkrieg möglich scheint und die globale Erwärmung unser aller Zukunft bedroht, ist es keine tolle Idee, den Gürtel im Namen zweifelhafter Erfolge enger zu schnallen. Wer glaubt heute noch an das Märchen von der „alternativlosen“ Politik? Nach dem Debakel von 2008 kaufte die EZB massiv Staatsanleihen auf, in Großbritannien und Island, selbst in Deutschland wurden Banken verstaatlicht, in Zypern ein Haircut für Bankeinlagen über 100 000 Euro verfügt. Mit der Coronapandemie setzte die EU ihre Haushaltsregeln aus, Frankreich und Deutschland zahlten Kurzarbeitergeld an Millionen Beschäftigte, in den USA wurden viele Privathaushalte mit 1200-Dollar-Schecks bedacht.
In Krisen gehen Regeln und Dogmen, die als unumstößlich galten, schlicht zu Bruch. Der Ukrainekrieg hat gezeigt, dass man Energiepreise deckeln kann. In Frankreich dient er dazu, um 40 Prozent erhöhte Rüstungsausgaben zu rechtfertigen: eine Art „Kriegswirtschaft“, finanziert durch einen Wirtschaftskrieg, der gegen Arbeitslose, Rentnerinnen, öffentliche Angestellte und auf Kosten öffentlicher Dienstleistungen geführt wird.
⇥Benoît Bréville