Brief aus Jaffa
von Agnes Fazekas
Frühmorgens sitze ich auf dem Balkon. Es war eine harte Nacht: Abwechselnd haben wir unseren einjährigen Sohn durch die Nachbarschaft in Jaffa getragen. Jetzt ist mein Freund mit den Kindern auf dem Spielplatz. Der Himmel ist wieder blau, gestern hat ihn der beißende Wüstenwind gelb gefärbt. Vögel zwitschern, irgendwo wummert noch der Bass einer Party. Das Grollen über Tel Aviv dagegen ist so allgegenwärtig, dass ich es kaum noch wahrnehme. Kampfjets, vielleicht auf dem Weg nach Gaza, wahrscheinlicher in den Libanon.
Aus Gewohnheit öffne ich den Liveticker von Haaretz: „Israel at War, Day 386“ steht da. Erste Meldung: Israel hat in der Nacht Iran angegriffen. Der lang erwartete Vergeltungsschlag für einen Vergeltungsschlag. Das „Home Front Commando“, heißt es, gebe keine neuen Richtlinien raus. Wir sollen in Alarmbereitschaft bleiben.
Ich bin nicht mehr alarmbereit. Zweimal heulten bei uns in Jaffa binnen einer Woche morgens die Sirenen wegen Raketen aus dem Libanon. In vielen älteren Häusern gibt es keinen Schutzraum, stattdessen treffen sich die Nachbarn im Treppenhaus. Es sind seltsam intime Begegnungen in verwaschenen Schlafanzügen oder, wie letztens in meinem Fall, mit einer leckenden Windel auf dem Arm. Statt die vorgeschriebenen zehn Minuten abzuwarten, eilten wir mit den Booms der Abwehrraketen zurück in die Wohnung.
Tag 386. Und wir sind abgestumpft. „Resilient“ nennt es mein Freund. „Manisch-depressiv“ findet mein Frisör und bucht sich einen Aschram irgendwo in Asien. Im vergangenen Monat überschlugen sich die Ereignisse: Der Tod Nasrallahs, Beirut brennt unter Bomben, Irans Vergeltungsanschlag mit dem Hollywood-Titel „True Promise 2“, und dann wurde auch noch Jahia Sinwar in Gaza erwischt. Man könnte denken, der Krieg sei vorbei, aber es geht immer weiter. Netanjahu will den totalen Sieg, und dafür braucht es anscheinend den totalen Krieg.
Vor einem Jahr um diese Zeit radelte ich mit meiner damals anderthalbjährigen Tochter von Jaffa bis ins Zentrum von Tel Aviv, auf der Suche nach anderen Kindern – und hatte dabei immer ein Auge auf den nächsten Hauseingang, falls es Alarm geben sollte. Die Kita unserer Tochter war geschlossen, weil sie den Schutzraum erst noch bauen mussten. Die Spielplätze waren apokalyptisch leer, befreundete deutsche Mütter hatten das Land verlassen. Die letzte schickte ein Foto von sich und ihrem Sohn in einer deutschen Militärmaschine. „Sorry“, schrieb sie dazu.
Bei den nächtlichen Stillsessions mit meinem Sohn wechselte ich zwischen Nachrichtenseiten und Instagram hin und her. Irgendwann machte ich Screenshots von den Instagram-Storys meiner Bekannten auf israelischer und palästinensischer Seite – und stellte fest: So unähnlich sind sie sich gar nicht. Beide Seiten glauben, von der Welt vergessen zu werden.
Ich war froh, dass mein Freund Alltagsroutine verordnete. „Die Kinder brauchen Auslauf!“, sagte er und meinte vor allem mich. Er fand es auch übertrieben, einen Notvorrat anzulegen, wie das Heimatfrontkommando riet. „Wir wohnen mitten in der Stadt, notfalls plündern wir einen Supermarkt.“ Ich wusste, was er dachte: „Wie halte ich diese sicherheitsverwöhnte Deutsche bei Vernunft?“ Es half wenig, dass er seine früheste Kindheitserinnerung teilte: Die Erleichterung, wieder ins Tageslicht zu steigen, nachdem er 1982 während des Ersten Libanonkriegs fast zwei Monate im Bunker verbracht hatte. Zur Beruhigung kaufte ich eine Dose Milchpulver für den Babysohn.
Erst viel später sprachen wir darüber, wie mein Freund seinen eigenen Armeedienst im Südlibanon Ende der Neunziger erlebt hatte. Meist seien sie im Dunkeln durch die bewaldeten Hügel gelaufen. „Es war ein Dschungel, man hat kaum was erkannt.“ Ich merkte, wie bei mir nicht nur die Kluft zu Freunden in Deutschland wächst – die entweder fragen, wieso wir nicht einfach alles stehen und liegen lassen, oder eine Lösung für den Nahostkonflikt in drei Sätzen suchen –, sondern auch zum Vater meiner Kinder.
Ich fühle mich immer noch wie ein Zaungast in diesem Konflikt. Aber ich bin nicht mehr die unbefangene Journalistin, die vom Tel Aviver Strand ins Westjordanland fährt, um Reportagen über das Leben unter der israelischen Besatzung zu schreiben. Ich bin jetzt Mutter, meine Kinder haben israelische Pässe und, wie mir immer bewusster wird, hebräische Namen.
Am 7. Oktober wachten wir im Haus meiner Schwiegereltern auf, im Kibbuz Rosh HaNikra, ganz im Norden Israels, an der Grenze zum Libanon. Im Fernseher stückelte sich fast live das grausame Ausmaß des Hamas-Angriffs zusammen. Meine kleinen Nichten fragten, ob wir wirklich zurück nach Tel Aviv wollten. Zu den „Bomben“. So stellten sie sich das vor.
Als wir am nächsten Tag im Zug saßen, lasen wir, dass wir gerade die neue Militärsperrzone zum Libanon verlassen hatten. Seitdem gehören die Geschwister meines Freunds mit insgesamt acht Kindern und den Großeltern zu den über 60 000 Evakuierten aus dem Norden.
Wie alle in Israel kennen wir über höchstens drei Ecken Opfer des Massakers oder Überlebende des Nova-Festivals. Carmel Gat, eine der Entführten – sie war am 7. Oktober im Kibbuz Be’eri bei ihren Eltern zu Besuch –, gehörte zur alten Clique meines Freunds. Seine beste Freundin war bei jedem Protest gegen Netanjahu und für die Freilassung der Geiseln dabei. Sie habe „Überlebensschuld“, sagt sie. Wir gingen nicht protestieren. Wir waren sehr müde Eltern.
Allmählich senkte sich eine Art Taucherglocke über unsere kleine Familie. In den ersten Kriegsmonaten hatte ich mir nachts noch vorzustellen versucht, wie sich die Mütter in Gaza fühlen, wo ein Angriff nicht nur die Abendroutine durcheinanderbringt, wo der Winterregen keinen Balkon überschwemmt, sondern ganze Flüchtlingslager unter Wasser setzt. Gaza liegt nur 70 Kilometer den Strand hinunter, aber es rückte immer weiter in die Ferne.
Statt manisch den Haaretz-Liveticker zu aktualisieren, stöberte ich im Internet nach Secondhandklamotten für die Kinder und schickte sie zu meinen Eltern nach München. Mein Freund guckte nachts Youtube-Videos von amerikanischen Outdoor-Nerds, die sich in der Wildnis Iglus und Baumhäuser bauen.
Irgendwann schleuderte ich ihm in einem Streit – in dem es natürlich um ganz was anderes ging – entgegen: „Und überhaupt: Es ist Krieg!“ „Es ist nicht dein Krieg“, motzte er zurück: „Benutz ihn nicht als Ausrede!“
Inzwischen bugsiere ich zwei Kinder auf meinem Fahrrad durch die Stadt, mein Sohn kann laufen, meine Tochter spricht einen lustigen Mix aus Deutsch und Hebräisch. Meine Schwiegereltern haben ein temporäres Zuhause gefunden und versuchen aus der Ferne herauszufinden, ob ihr Kibbuz noch steht. Die Leiche von Carmel Gat wurde aus einem Hamas-Tunnel geborgen. Die nie geöffnete Dose mit dem Milchpulver habe ich verschenkt. Die Kita meiner Tochter schickt ein Video, wie die Kinder wie Entlein hintereinander in den Schutzraum tapsen.
Es ist eine der wenigen jüdisch-arabischen Kitas im arabisch geprägten Jaffa. Zu Pessach filzen die Erzieherinnen kleine Moses-Babys im Schilfbett, zum islamischen Opferfest wuschelige Schafe. Die vielen Ferien bringen uns Eltern zur Verzweiflung, aber natürlich wärmt es das Herz und war nie wichtiger, dass arabische und jüdische Kinder gemeinsam in beiden Sprachen singen, ihre Eltern miteinander sprechen. Ich hoffe, dass sich etwas davon im Unterbewusstsein meiner Tochter verankert.
Auf unseren Wegen durch das jüdische Tel Aviv, zum Kindersingen, an den Strand, ins Freibad, merken wir an den zugepflasterten Laternenmasten und Ampelpfeilern, wie lange der Krieg schon andauert. Meine Tochter ist fasziniert von all den Frauen und Männern, deren Gesichter ihr auf Augenhöhe begegnen.
Erst sind es nur Porträts der Verschleppten und Ermordeten des Hamas-Angriffs. Versehen mit ein paar Worten: „Wir vermissen dich!“ oder „Vergesst mich nicht!“ Doch allmählich verblassen die Gesichter, der Platz geht aus, sie werden verdrängt von neuen Gesichtern: Sie gehören den gefallenen Soldaten, in Gaza und jetzt auch im Libanon.
Die meisten Nachmittage verbringen wir im Süden von Jaffa. Unser Lieblingsspielplatz liegt an der Aza Street, weshalb wir Eltern ihn „Aza“ nennen: Gaza. Niemand spricht über die bittere Ironie, dass das kleine „Aza“ in Jaffa zu unserem Ankerpunkt wird, während in Gaza die Kinderleichen aus dem Schutt gezogen werden. Auf dem Spielplatz trifft sich die ganze gemischte Nachbarschaft. Arabische Eltern verteilen Süßigkeiten. Unvergessen bleibt der Nachmittag, als ein arabischer Nachbar im angrenzenden Hundepark sein Pferd zuritt. Nicht ohne zuvor jedes Kind, dessen Eltern mutig genug waren, für ein Foto aufsitzen zu lassen.
Zu Beginn des Kriegs fragten sich viele, wann es in Jaffa zu Protesten gegen das Bombardement in Gaza kommen würde. Doch die arabischen Israelis sitzen nicht nur zwischen den Stühlen, sie haben doppelt Angst: vor den Raketen und vor der rechtsextremen Regierung. Zu Recht, wie sich am 1. Oktober zeigte.
An diesem Nachmittag treffen wir uns nicht auf dem Aza-Spielplatz. Schon den ganzen Tag rumoren Gerüchte, dass Teheran in den nächsten Stunden den großen Vergeltungsschlag ausüben wird. Wir kochen gerade Pasta, als draußen die Polizeisirenen aufheulen. Zwei Terroristen, heißt es, zögen mordend durch die Straßen rund um unseren Spielplatz. Es ist genau die Zeit, in der wir uns normalerweise auf den Heimweg machen.
Minuten später bekommt ganz Israel eine Push-Nachricht: Wir sollen uns unverzüglich in einen Schutzraum begeben. An diesem Abend feuern die iranischen Revolutionsgarden 200 ballistische Raketen auf Israel. Fast eine Stunde sitzen wir im Treppenhaus.
Am nächsten Tag sprechen wir Eltern aus der Nachbarschaft nur über den Anschlag in Jaffa. Gewissermaßen hat uns die Attacke Irans davor bewahrt. Zu den sieben Todesopfern gehört eine junge Mutter. Ihr Baby konnte sie mit ihrem Körper schützen. Die Attentäter waren Palästinenser aus dem Westjordanland, die Hamas reklamiert den Anschlag für sich.
Die Verletzten, Juden wie Araber, waren noch nicht versorgt, da zeigte sich Israels ultrarechter Polizeiminister Itamar Ben-Gvir am Tatort und beschuldigte die muslimische Gemeinde von Jaffa. Tatsächlich waren die Terroristen vor der Schießerei in eine Moschee eingedrungen, die gegenüber von unserem Spielplatz liegt, und hatten die Anwesenden bedroht. Die betenden Muslime gehörten zu den Ersten, die die Polizei riefen.
Seit ein paar Tagen tragen die Laternenmasten in Jaffa auch Aufkleber mit der Aufschrift: FCK BNGVR. Die Vokale muss man sich dazudenken.
Agnes Fazekas ist freie Journalistin in Tel Aviv-Jaffa.
© LMd, Berlin