12.09.2024

Gestrandet in Boulogne

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Gestrandet in Boulogne

von Tobias Müller

Juli 2024: Eine Gruppe Geflüchteter kehrt ins Camp bei Dunkerque zurück, nachdem sie vergeblich auf ein Boot gewartet haben JULIA DRUELLE
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Die Bahnhofshalle von Boulogne-sur-Mer im Morgengrauen; wo man hinsieht, bleierne Erschöpfung. In einer entfernten Ecke schlafen 11 Menschen dicht an dicht auf dem Boden, nur in ihren Klamotten, ohne Decken oder Unterlagen.

Etwas weiter, auf den Bänken unter den Anzeigetafeln, eine Gruppe junger Viet­na­me­s:in­nen, die schweigend auf den ersten Zug in Richtung Calais warten, der laut Anzeige in einer Stunde ankommen soll, um halb sieben. Auf den Plastiksitzen nahe der Eingangsfront dösen 15 Menschen, darunter vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen.

Ein etwa 30-jähriger Mann flüstert mit seinem Nachbarn. Die Gruppe kommt teils aus Syrien, teils aus dem Irak, sagt er leise. Eigentlich wollten sie auf einem Schlauchboot in Richtung England sein, das in der Nacht bei den Dünen vor der Stadt ablegen sollte. Stundenlang haben sie in einem nahen Wäldchen auf das Boot gewartet. Es war der 14. Juli, und über den Städten an der Küste – Boulogne und weiter im Norden Dunkerque und Calais – war der Himmel vom Festtagsfeuerwerk erleuchtet.

Doch das Warten war umsonst. Das Boot kam nicht. „Der Mann, der uns hierher bestellt hat, hat gelogen“, sagt der Syrer resigniert. Seit drei Wochen will er den Ärmelkanal überqueren, fünfmal hat er es schon versucht.

Die Boote, mit denen Geflüchtete nun schon seit über fünf Jahren von Calais nach Dover übersetzen wollen, sind in diesem Sommer erneut ein tägliches Thema. Vor allem auf der britischen Seite, die an der schmalsten Stelle des Kanals nur gut 30 Kilometer vom Kontinent entfernt und an klaren Tagen mit bloßem Auge zu sehen ist. Unmittelbar nach dem Sieg der Labour-Partei bei den Unterhauswahlen am 4. Juli erklärte der neue Premier Keir Starmer, der berüchtigte Ruanda-Plan der Tories – nach dem klandestin Eingereiste nach Ostafrika verfrachtet werden sollten – sei „tot und begraben“.

Jetzt will die neue Regierung 75 Millionen Pfund aus dem Ruanda-Plan dazu verwenden, ein sogenanntes Border Security Command (BSC) zu finanzieren, das Labour schon im Wahlkampf angekündigt hatte. Das dem Innenministerium unterstellte BSC soll das Zusammenwirken von National Crime Agency, Geheimdiensten, Polizei, Einwanderungsbehörden und Grenzschutz koordinieren. Mit dem Ziel, „die Sicherheit der britischen Grenzen zu verstärken und die kriminellen Schleuserbanden zu zerschlagen, die mit den Überfahrten der small boats Millionen machen“, wie die neue Innenministerin Yvette Cooper erklärte. Deshalb gelte es, sehr schnell einen „außergewöhnlichen“ Chef zu ernennen.

Während die Regierung in London an dieser Schlüsselpersonalie arbeitet, legen die Boote weiter von den Stränden Nordfrankreichs ab – jede Nacht, soweit Wellen und Wind es zulassen. Und jeden Morgen stranden an Orten wie dem Bahnhof von Boulogne die Gescheiterten, um in ihre Camps zurückzukehren.

Von Jahresbeginn bis zu Starmers Wahlsieg haben mehr als 14 000 Menschen in Schlauchbooten den Kanal überquert, die meisten von ihnen aus Afghanistan, Iran, der Türkei, aus Eritrea, Syrien und dem Irak. Das sind etwa 10 Prozent mehr als im selben Zeitraum 2023. Da die Überfahrten im Sommer stark zunehmen, könnte Ende 2024 wieder die Gesamtzahl von 2022 erreicht sein, die etwas über 45 000 lag.

Ein Bild von der Lage bietet sich nachmittags an einer Bushaltestelle in Grande-Synthe, einer Vorstadt von Dunkerque unweit der belgischen Grenze. Dunkerque liegt im äußersten Nordosten des Küstenstreifens, von dem aus Menschen aus den Krisengebieten der Welt nach Großbritan­nien zu gelangen versuchen. Im Südwesten liegt Boulogne, dazwischen Calais, dessen Elendscamp seit 2015 als „Jungle“ bekannt war und zum Symbol einer lange vergessenen Flüchtlingskrise wurde. Die wollten die französischen Behörden ein Jahr später mit der medienwirksamen Räumung des Jungles beenden. Das erwies sich, wieder einmal, als Trugschluss.

Hilfsorganisationen schätzen, dass im Raum Calais heute in kleineren Camps insgesamt 700 Personen leben. Weitere 500 dürften es im aktuell größten inoffiziellen Lager sein, das am Rande von Dunkerque liegt, etwa zehn Minuten zu Fuß von unserer Bushaltestelle entfernt. Direkt gegenüber ist die Filiale des Hypermarkts Auchan, wo sich die Camp­be­woh­ne­r:in­nen mit Lebensmitteln versorgen. Hinter der Haltestelle haben sich auf einem schmalen Bordstein ein paar Dutzend Menschen niedergelassen, darunter mehrere Kinder. Um sie herum ihre ganze Habe: Tüten und Taschen, Rucksäcke und grellorange Rettungswesten.

Alle hier wissen, was diese Menschen in der Nacht vorhaben. Doch niemand nimmt von ihnen Notiz, nicht die Radfahrerinnen, die von der Arbeit, nicht die Jugendlichen, die aus der Schule kommen, auch nicht die Busfahrer. Die Welt der klandestinen Immigration berührt sich hier mit der eines geregelten, bürgerlichen Lebens. Aber ganz kurz nur, um gleich wieder auseinanderzudriften. Die einen erwartet das Abendessen, die anderen ein Abenteuer mit höchst ungewissem Ausgang: eine 70 Kilometer lange Überfahrt, bei der alles passieren kann.

Im Lauf des Nachmittags finden sich hier immer mehr Menschen ein, alle mit minimalem Gepäck. Sie kommen in Gruppen von vielleicht 40 Personen und lassen sich hinter dem Glashäuschen der Haltestelle nieder, am Rande eines Felds. Bei einer kleineren Gruppe sind auffallend viele junge Familien mit Kinderwagen dabei. Zwei kleine Mädchen haben in der Nachmittagshitze ihre rosa Jacken ausgezogen. Ab und zu kommt jemand aus dem Supermarkt und überquert die Straße, mit einem Stapel billiger Baguettes im Arm oder mit einem Packen kleiner Wasserflaschen.

Immer dann, wenn ein Bus mit dem Zielort „Gravelines“ naht, kommt Bewegung in die Wartenden. Gruppenweise versuchen sich in den Bus zu drängen. Gravelines liegt auf halber Strecke zwischen Dunkerque und Calais. In der Nähe des Städtchen gibt es einen überaus breiten, einsamen Strand, von dem zahlreiche Boote ablegen – diesen Sommer sogar mehr als vom Dünenstreifen bei Boulogne. Im Buschland hinter dem Strand von Gravelines gibt es viele Lichtungen, wo man sich einige Stunden lang verstecken kann, bis die Schleuser das versprochene Boot bringen. Davon zeugen die Kleidungsstücke, Plastikverpackungen und Getränkedosen, die im Hinterland herumliegen, oder ein Schlafsack, eine Decke und wasserdichte Handyhüllen, die am Strand zurückgeblieben sind.

Die Boote von Gravelines machen sich am liebsten dann auf, wenn die Flut – wegen des starken Tidenhubs an der Kanalküste – den Strand deutlich schmaler macht. Wir warten seit dem Morgengauen, die Fotografin und ich. Kurz nach Sonnenaufgang tauchen oben auf dem Dünenkamm vier Silhouetten auf. Der Wind vom Vortag hat sich gelegt, die See ist ruhig, hinter den Dünen ragen die sechs Reaktoren des AKWs von Gravelines auf. Die Silhouetten kommen näher, drei Erwachsene und ein kleines Mädchen. Sie tragen Rucksäcke und Tüten, schauen sich suchend um. Am Dünenkamm taucht ein weiterer Mann mit zwei Kindern auf, nur eines mit Rettungsweste.

„Boot?“, fragt der Mann, „ist hier kein Boot?“ Er spricht kaum Englisch. Sie gehen zurück in die Dünen, wo der Rest der Gruppe wartet. Nach einigen Minuten machen sie kehrt. „Wir gehen zurück in den Jungle“, sagt ein anderer Mann, der aus Afghanistan kommt.

Der Name „Jungle“ bezeichnet nicht nur das Camp vor den Toren von Calais, wo sich bis zu seiner Räumung im Herbst 2016 manchmal mehr als 10 000 Menschen drängten. Er wurde zum Synonym für alle Camps von Geflüchteten, die auf dem Weg nach England in Frankreich feststecken, wo sie keinen Zugang zu staatlicher Hilfe haben. Schon seit 25 Jahren ist dieser Abschnitt der Kanalküste ein Knotenpunkt der Trans­mi­gra­tion. Am Anfang versteckten sich die Flüchtenden auf Lkws; dann versuchten sie, meist erfolglos, durch den Eurotunnel zu gelangen; seit Ende 2018 setzen die meisten auf Bootspassagen.

Im Vereinigten Königreich lockt nicht nur die Aussicht auf ein neues Leben in Freiheit, sondern auch auf Arbeit, notfalls ohne Papiere. Dass es jenseits des Kanals keine Ausweispflicht gibt, trägt ebenfalls zu der Hoffnung bei, dass man leichter in der Masse untertauchen kann. Auch haben viele Geflüchtete dort bereits Familienangehörige und sprechen schon etwas Englisch. All das zusammengenommen hat einen Mythos erzeugt, der nicht unbedingt der Realität entspricht; aber er wird von den Schleusern, die Überfahrten organisieren, im eigenen Interesse am Leben gehalten.

Der Jungle von Dunkerque, zu dem die Gruppe nach dem vergeblichen Warten zurückkehren will, ist ein unübersichtliches Areal westlich des Hafens. Es erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer Brach- und Buschland zwischen Schnellstraßen, Industriezonen und dem Canal de Bourbourg.

Dies hier ist umkämpftes Gebiet, im doppelten Sinne. Zum einen haben die Behörden letztes Jahr einen Großteil des Geländes präventiv mit drei Meter hohem dunkelgrünen Maschendraht umzäunt, damit hier keine Zelte mehr aufgeschlagen oder Behausungen aus Baumstämmen und Plastikplanen entstehen können. Zum anderen sind gerade die Camps um Dunkerque seit Langem das Territorium von Schleuserbanden, die hier ihre Machtkämpfe austragen.

Das Gewerbe der Schleuser hat sich speziell in den letzten Jahren stark verändert. Als im Winter 2018/19 die Überfahrten begannen, waren die Boote zum Teil noch gestohlen. Inzwischen hat sich ein stark professionalisierter Unternehmenszweig entwickelt, mit Netzwerken, die als „Lieferketten“ funktionieren und sich über mehrere Länder und tausende Kilometer erstrecken.

Da per Boot wesentlich mehr Personen die britische Küste erreichen als zuvor per Lkw, sind die Gewinnmargen enorm angestiegen. Umso härter ist heute der Konkurrenzkampf. Ein Iraner aus dem Jungle von Dunkerque berichtete letzten Herbst von Schüssen, die in der Nacht häufig zu hören seien. Ähnliche Aussagen gibt es von anderen Zeugen.

Schüsse fallen auch an einem windigen Nachmittag Mitte Juli. Am Rand des Jungles gibt es ein Stück Brachland, das die Hilfsorganisationen distribution point nennen. Hier steht ein Kleinbus mit einer mobilen Arztpraxis, es gibt Wasserhähne, provisorische Duschen, Internetzugang und Steckdosen, um Telefone aufzuladen. Hel­fe­r:in­nen teilen warmes Essen aus, Kinder können sich mit Spielen die Zeit vertreiben.

Die Schüsse kamen irgendwo aus der Nähe, warnt ein Mitglied einer NGO per Telefon. Niemand soll sich zu weit vom distribution point entfernen. Ein Mann will dennoch zurück zu seiner Unterkunft, die gleich hinter der ersten Buschreihe liegt. Rashid Ahmad – 40 Jahre alt, ergrauende Locken – kommt wie viele in diesem Camp aus dem kurdischen Nordirak. Rashid, seine Frau und sein Bruder sind seit einer Woche in Dunkerque, zweimal wollten sie schon die Überfahrt wagen. Beide Male wurden sie von der Polizei abgefangen, die das Schlauchboot mit Messern aufschlitzte. Von Vorfällen wie diesem hört man beinahe täglich.

Rashid Ahmad war selbst Polizist, genauer gesagt, Grenzpolizist. „Im Irak hab ich an der Grenze zur Türkei gearbeitet. Aber ich hatte ein politisches Problem, deshalb musste ich fliehen.“ Nun steckt er selbst an einer Grenze fest, wo sich seit Jahren das gleiche Bild bietet: Menschen, die auf stillgelegten Gleisen hocken, die Köpfe zusammenstecken, warten, irgendwann aufbrechen, dann enttäuscht zurückkommen. Und das Ganze immer wieder: „Wir bereiten uns jetzt auf einen neuen Versuch vor“, sagt Rashid Ahmad ruhig, ehe er geht.

Ein anderer irakischer Kurde nimmt die Situation nicht so gelassen. Er stellt sich als Adam Husain vor, auch er ist mittleren Alters, hat einen Trainingsanzug an und eine Kippe im Mundwinkel. Im Irak arbeitete er früher für das britische Militär, deshalb spricht er fließend Englisch mit unverkennbaren Akzent. Was die Überfahrt angeht, hat er Zweifel bekommen. „Ich habe gehört, dass die Polizei die Boote zerstört. Aber auch sonst weiß ich nicht, ob ich auf diese Art mein Leben riskieren will.“

In den ersten acht Monaten von 2024 kamen bei den Bootspassagen 25 Menschen ums Leben. Vier von ihnen – aus Äthiopien, Somalia und Eritrea – sterben am 12. Juli bei einer Havarie nördlich von Boulogne. Tags darauf versammeln sich etwa 300 Geflüchtete und Mitglieder von Hilfsorganisationen am Parc Richelieu in Calais, wo traditionell der Toten in dieser Grenzzone gedacht wird. Seit 1999 waren es 400, ein langes Transparent mit ihren Namen liegt auf dem Boden ausgerollt. Die Präfektur gibt bekannt, dass das am Vortag havarierte Boot völlig überlastet war, für die 60 Personen an Bord war der Motor viel zu schwach.

Wie so oft. Viel zu schwache Motoren sind eher die Regel. Das gilt auch für die erbärmliche Qualität der Schlauchboote, die in China gefertigt und von den Schleuserringen über Osteuropa und Deutschland an den Kanal gebracht werden, um dann hoffnungslos überfüllt loszufahren.

„Wenn ich einen anderen Pass hätte, könnte ich einfach ein Flugzeug oder eine Fähre nehmen“, sagt Adam Husain voller Zorn. „Sie haben das Land zerstört, weil Saddam weg musste. Aber als er weg war, kam nicht das Paradies, wie sie uns gesagt hatten, sondern die Hölle. Unter Saddam hat mein Vater immerhin pünktlich sein Gehalt bekommen.“

Am Rand des distribution point steht eine Tafel mit allerlei Informationen, die auch gedruckt oder zum Scannen und Downloaden zu haben sind. Ein „New Arrival Guide“ klärt Neuankömmlinge in verschiedenen Sprachen über ihre juristische Situation in Großbritannien auf. Und auch über die Risiken, die eine Kanalüberquerung mit sich bringt. „Die Überfahrt nach Großbritannien ist sehr gefährlich“, heißt es. „Diese Informationen könnten ihr Leben retten.“ Die wichtigsten sind die Notrufnummern der französischen und der britischen Küstenwache.

Zwei junge Afghanen, Anfang bis Mitte 20, sind gerade aus Paris angekommen, wo sie in einem anderen Geflüchtetencamp gelebt haben. Unter dem Arm tragen sie Schlafsäcke, die sie von einer der Hilfsorganisationen bekommen haben. In der Hauptstadt wollten sie eine neue Existenz aufbauen, haben Französisch gelernt, doch ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Jetzt wollen sie es in England probieren. Ob sie schwimmen können? „Nein“, sagt der eine, meint dann aber zuversichtlich: „Jemand hat uns gesagt, dass sie einem Rettungswesten oder so etwas geben.“

Dass die Überfahrten lebensgefährlich sind, zeigt sich am späten Abend des 17. Juli. Ein Schlauchboot, das schon weit draußen auf dem Kanal ist, verliert Luft. Zahlreiche Passagiere fallen über Bord. Von einem Patrouillenboot alarmiert, holen französische und britische Rettungsschiffe 72 Menschen aus dem Wasser. Das Boot war offenbar hoffnungslos überladen. Eine Person treibt leblos und kann nicht mehr reanimiert werden. An der Rettungsaktion ist eines auffällig: Die Schiffe beider Anrainerstaaten bringen die Havarierten zurück nach Calais. Normalerweise setzt die britische Küstenwache gerettete Schiffbrüchige in Dover ab.

Das Faktum wurde vor allem in Großbritannien aufmerksam registriert. Die rechte Zeitung The Telegraph schrieb, dies signalisiere womöglich eine engere Zusammenarbeit beider Länder mit dem Ziel, die Aktivitäten der small boats endlich zu stoppen. Genau das hatten sämtliche britischen Regierungschefs und Innenministerinnen der letzten Jahre vollmundig versprochen. Jetzt dementierte Keir Starmer jedoch umgehend: Der Rücktransport nach Calais sei eine rein opera­tio­nelle Entscheidung und habe nichts mit einer veränderten Strategie zu tun.

Allerdings verkündet der neue Premier nur einen Tag nach dem Unglück, am 18. Juli, auf einem Treffen mit europäischen Re­gie­rungs­che­f:in­nen in Oxfordshire einen „Reset“ im Kampf gegen die illegale Migration. Starmer will 84 Mil­lio­nen Pfund aufbringen, um die Zuwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten zu verhindern. Außerdem erklärt er sich offen für die Idee, dass man im Kanal aufgegriffene Bootsflüchtlinge in andere Länder verbringt, wo sie ihre Asylanträge stellen könnten. Etwa so, wie es das Migrationsabkommen zwischen Italien und Albanien vorsieht? „Ich bin ein Pragmatiker“ sagt Stamer, „wir sehen uns an, was am besten funktioniert.“

Am 19. Juli gerät auf dem Kanal erneut ein Schlauchboot in Seenot. Fünf Personen können gerettet werden. Aber auf dem Boot finden die Rettungskräfte eine verstorbene Person. Drei Havarien innerhalb von nur einer Woche seien „beispiellos“, schreibt die Regionalzeitung La Voix du Nord. Und die Präfektur für Ärmelkanal und Nordsee (Prémar) nennt die Faktoren, die für das Unglück verantwortlich waren: „unzuverlässige und gleichzeitig überladene Boote, manchmal ohne Schwimmwesten, und in diesem speziellen Fall mit 86 Personen an Bord“. Bei derart überfüllten Booten bestehe die Gefahr, dass Menschen ersticken oder zu Tode getrampelt werden.

Das weiß man nicht erst seit diesem Sommer. Schon im September 2023 wurde eine junge Frau aus Eritrea auf einem überfüllten Boot schon bei der Abfahrt nahe Calais zu Tode gequetscht. Ende April 2024 kamen auf einem mit 112 Personen überladenen Boot fünf Menschen ums Leben, darunter ein siebenjähriges Mädchen aus dem Irak. Auf dem Boot war eine Panik ausgebrochen, als das Boot im Touristenstädtchen Wimereux nördlich von Boulogne übereilt ablegen musste.

Warum die Überfahrten immer gefährlicher werden, hoffen wir von der Hilfsorganisation Utopia 56 zu erfahren, die ihr Hauptquartier in der Nähe von Dunkerque hat. Utopia 56 setzt sich in ganz Frankreich für Geflüchtete und Obdachlose ein. Seit den Tagen des Jungles von Calais ist die Organisation eine der aktivsten, die am Ärmelkanal präsent ist. Ihre Freiwilligen verteilen Essen, Decken und Informationen über Risiken der Kanalüberquerung, wie wir im distribution point bei Dunkerque gesehen haben. Utopia 56 betreibt außerdem ein Alarmtelefon und fährt nachts, wenn es das Wetter erlaubt, mit kleinen Teams die Küste zwischen Dunkerque und Boulogne ab, um bei Notfällen zur Stelle zu sein.

Einer der freiwilligen Helfer ist Célestin Pi­chaud. Als wir ihn in seinem Büro besuchen, klickt er auf seinem Laptop die wichtigsten Grafiken und Statistiken an: „Im ersten Quartal dieses Jahres wurden 64 Prozent mehr Menschen auf See gerettet als im gleichen Zeitraum 2023.“ Die Zahlen von Utopia 56 belegen auch den Trend, dass die Boote immer überfüllter sind: „Letztes Jahr waren im Durchschnitt 43,6 Passagiere in einem Boot. Dieses Jahr sind es 49,6.“ Je voller ein Boot ist, desto riskanter wird die Überfahrt, nicht nur auf See, sondern schon beim Ablegen.

Noch lebensgefährlicher wird es für diejenigen, die sich die etwa 2500 Euro teure Passage nicht leisten können und sich am Strand versteckt halten, um dann in der Hektik des Aufbruchs ins Boot zu springen. Auch die gewaltsamen Polizeieinsätze an den Stränden werden statistisch erfasst: „Im ersten Quartal wurden uns 166 Fälle von Polizeigewalt gemeldet, verglichen mit 127 letztes Jahr“, berichtet Pichaud. Dabei wurden zahlreiche Personen verletzt, wie die NGOs melden, die den Betroffenen medizinische Hilfe leisten. Über diese Art der Gewalt erstellt Utopia 56 gerade einen Report.

Die Angst vor der Polizei verstärkt auch die Hektik. Pichaud berichtet, dass manche übervolle Schlauchboote abfahren, ohne die Bodenplatte einzulegen, womit sie auf See wesentlich instabiler sind. Zudem verweist er auf eine geografische Besonderheit am populären Abfahrtsort Grave­lines: Die Passagiere werden häufig über das Flüsschen Aa, das hier in den Ärmelkanal mündet, mit sogenannten Taxibooten hergebracht. „Am Strand kommt dann ein anderes, das sie aufnimmt. Doch im Mündungsbereich gibt es oft gefährliche Strömungen und Wellen, die speziell für Nicht­schwim­me­r:in­nen fatal werden können.“ Auch das trage dazu bei, dass es zuletzt mehrere tödliche Unglücke beim oder kurz nach dem Ablegen gegeben hat.

Zwei weitere Risikofaktoren sind das Wetter und die lange Überfahrt nach England. Gerade wegen der harten Bedingungen im Jungle sind Geflüchtete zunehmend bereit, auch bei ungünstigem Wetter überzusetzen oder in kürzeren Zeitfenstern mit günstigem Wetter. Und dann ist da noch der sogenannte Wasserbetteffekt, den man am Ärmelkanal seit Jahren kennt: Je stärker ein Teil der Küste überwacht wird, desto mehr verlagert sich das Geschehen an andere Orte. Das gilt besonders für den Olympiasommer 2024.

„Die Regierung schickt im Juli und August 300 zusätzliche Po­li­zis­t:in­nen hierher“, erklärt Pi­chaud. „Das bedeutet natürlich nicht, dass die Boote nicht mehr nach England fahren. Sie suchen sich nur andere Abfahrtsorte, die womöglich weiter entfernt sind.“ Südlich von Calais, wo der Kanal am schmalsten ist, kann ein Boot britische Gewässer in zwei Stunden erreichen. Von Dunkerque dauert das ohne Weiteres dreimal so lange. In letzter Zeit gibt es immer mehr Abfahrten südlich von Boulogne-sur-Mer. Im Mai wurden 66 Frauen, Männer und Kinder sogar vor der Küste der Normandie gerettet. Die Distanz zwischen Dieppe und Brighton ist etwa viermal so groß wie die zwischen Calais und Dover.

Am 28. Juli wird bei einer Rettungsaktion im Morgengrauen vor der Küste von Calais erneut eine leblose Migrantin an Bord eines Schlauchboots gefunden. Als sie mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus von Boulogne gebracht wird, kann nur noch ihr Tod festgestellt werden. In diesem Fall waren mehr als 70 Menschen an Bord. Am 11. August können nach dem Notruf eines Schlauchboots zwei weitere Personen nur noch tot geborgen werden. Damit sind bei vier Hava­rien innerhalb eines Monats insgesamt neun Menschen ums Leben gekommen. Am 3. September sterben 12 weitere Menschen beim Versuch, den Kanal zu überqueren.

Am 27. August gab die britische Regierung in einem Statement zur Lage am Kanal bekannt, man suche weiterhin „einen hochqualifizierten Border Security Commander, um den gefährlichen Bootspassagen ein Ende zu setzen“. Des Weiteren gab sie bekannt, das BSC werde die Kapazitäten der Geheimdienste und Vollzugsbehörden kombinieren, die man mit „neuen, der Terrorismusbekämpfung ähnlichen Befugnissen“ ausstatten wolle. Dazu werde man „hunderte von Mit­ar­bei­te­r:in­nen im Vereinigten Königreich und in Übersee stationieren“.

Die heiße Debatte über Migration und insbesondere die small boats spielte eine zentrale Rolle, als im August rassistische Straßenproteste rasend schnell in ganz Großbritannien um sich griffen. Konservative Medien hatten die Kanal-Politik der neuen Regierung ins Visier genommen. „Über 4000 Mi­gran­t:in­nen sind per Boot in Großbritannien angekommen, seit Sir Keir Starmer Downing Street 10 bezogen hat“, schrieb der Daily Express am 8. August und warf dem Premier nach den tagelangen Ausschreitungen ein „riesiges Boots-Migrations-Versagen“ vor. Und die Daily Mail klagte an: „Wo ist jetzt der Plan, die Boote zu stoppen?“ Der konservative Schatten-Innenminister James Cleverly hieb in dieselbe Kerbe: „Wir wussten, dass Leute warteten, bis die Ruanda-Partnerschaft gestrichen wurde, um den Kanal zu überqueren. Das nutzen sie jetzt aus.“ Starmer und Innenministerin Yvette Cooper müssten die Sache dringend in die Hand nehmen – „und zwar schnell!“

Die gewalttätigen Angriffe auf Asylbewerber, Migrantinnen und Muslime – begleitet von Parolen wie „Get them out!“ oder „Stop the boats!“ – deuten darauf hin, dass das Thema noch jahrelang brisant bleiben wird. Die fortgesetzten Ausschreitungen werden ebenso weitergehen wie die Agitation der Rechtspopulisten. Das bedeutet, dass die Labour-Regierung auf einem politischen Pulverfass sitzt, das ihr jederzeit um die Ohren fliegen kann. Starmer versucht die explosive Lage mit dem Argument zu entschärfen, die Bekämpfung der Schleusernetzwerke sei effektiver als der Ruanda-Plan. Aber damit wird der Volkszorn kaum zu besänftigen sein.

Gerade die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Aktionen gegen die Schleuser nicht sehr schnell Wirkung erzielen, die trotz großer Anstrengungen manchmal auch kaum sichtbar werden. Ein Beispiel: Im Oktober 2023 wurden 20 Mitglieder eines kurdisch-irakischen Rings, der von Deutschland aus operierte, im belgischen Brügge zu Haftstrafen von bis zu elf Jahren verurteilt. Die Gruppe, in britischen Medien als „Deliveroo des Menschenschmuggels“ bezeichnet, soll bis zu 10 000 Menschen über den Ärmelkanal gebracht haben, womit sie laut Europol 60 Millionen Euro verdient haben wollen. Ob der zeitweilige Rückgang der Bootpassagen im Jahr 2023 damit zu tun hat, dass einer der großen Akteure nicht mehr im Geschäft war, darüber kann man nur spekulieren. Fakt ist allerdings, dass die Zahlen jetzt fast wieder auf dem Niveau des Rekordjahrs 2022 liegen.

Mehrere französische NGOs, die am Ärmelkanal im Einsatz sind, haben deshalb pünktlich zur „Hochsaison“ eine Warnung veröffentlicht: Die „Stop the boats“-Politik erhöhe das Risiko, dass Menschen erdrückt würden oder ersticken. Diese Einschätzung wird indirekt auch von der britischen National Crime Agency bestätigt. Dass Passagiere „vom Strand aus zu Booten hinauswaten oder von Taxibooten aus umsteigen, hat die Wahrscheinlichkeit von Todesfällen erhöht“, heißt es in einem NCA-Lagebericht Mitte August.

Die auffallende Einigkeit dieser Befunde und der entsprechenden Schlüsse lässt an ein Lied denken, mit dem die britische Band New Model Army die Lage am Ärmelkanal schon 2016 beschrieb – also noch bevor die Überquerung mit Booten die Regel wurde. „Cross the water or die trying“, heißt es im Refrain. Acht Jahre später hat sich daran wenig geändert. Nur dass die Grenzsicherung verstärkt wurde, dass das Schleusergeschäft angewachsen und wesentlich lukrativer geworden ist und dass die Risiken für Geflüchtete, die den Kanal überqueren, tödlicher geworden sind.

Tobias Müller ist freier Journalist in Amsterdam.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Tobias Müller