12.09.2024

Brief aus Tourismopolis

zurück

Brief aus Tourismopolis

von Niels Kadritzke

Sonnenuntergang auf Santorini K. KREDER/picture alliance/imagebroker
Audio: Artikel vorlesen lassen

Mein Nachbar, nennen wir ihn Sotiris, liebt sein Dorf. Hier ist er aufgewachsen, hier lebt er mit seiner Familie, inmitten einer alternden Bevölkerung. Sotiris will seinen Heimatort retten. Und so hat er zwei alte Häuser aufgekauft, deren Bewohner verstorben waren. Die hat er fast eigenhändig in „traditional luxury apartments“ umgewandelt, mit lokalen Materialien und Respekt für die architektonische Tradition.

Mein Nachbar glaubt fest, dass Tourismus für Griechenland keine Bedrohung, sondern eine Chance ist. Und er hat recht. Was für sein Dorf gilt, lässt sich für die gesamte Ägäis sagen. Ohne touristische Entwicklung wären viele kleinere Inseln längst entvölkert.

Ich habe Sotiris zu seiner gelungenen Investition gratuliert. Aber warum, frage ich ihn, hat er auf der Terrasse eines seiner (laut Prospekt) „traditionellen Apartments mit authentischer griechischer Gastlichkeit“ ausgerechnet einen Whirlpool aufgestellt? Jeden Herbst, wenn die Hochsaison vorbei ist, sind die Wasserressourcen der Insel erschöpft.

Sotiris erzählt zur Antwort, wie in seiner Jugend mit Wasser umgegangen wurde. Kein Tropfen vergeudet: das Glas Wasser für den Basilikum-Topf am Munde abgespart, das Spülwasser aus der Küche ins Plumpsklo, das Waschwasser in den Garten.

Aber was ist mit dem Whirlpool? Das erwarten die Gäste nun mal, in Mykonos gehöre das zum Minimalstandard. Will er, dass unsere Idylle hier oben ein Mini-Mykonos wird? Das auch wieder nicht. Die Nachbarinsel steht heute für einen Luxustourismus, der die griechische und internationale Mafia anzieht.

Wo das Geld ist, ist die Kriminalität nicht weit, klagt der Bürgermeister von Mykonos. Seine Insel ist ein Art autonomes Territorium, das dem griechischen Staat nur noch formell angehört. Flagrante Verstöße – gegen Bauvorschriften, gegen Natur- und Denkmalschutz – bleiben ungeahndet. Die Gesetzesbrecher haben gekaufte Leute in der Polizei und bei der Bauaufsicht. Und gesetzestreue Staatsdiener werden abgestraft, wie im März 2023, als der für Mykonos zuständige Archäologe, der pflichtgemäß Bauvorhaben gestoppt hat, auf offener Straße zusammengeschlagen wurde. Noch brutaler werden Konkurrenzkämpfe ausgetragen. Vor drei Monaten fiel ein Landvermesser, der dank seiner Ortskenntnisse ins Immobiliengeschäft eingestiegen war, einem Auftragsmord zum Opfer.

In Mykonos sieht man die Extremform des Tourismus und seinen Niedergang. Die Übernachtungszahlen gehen seit zwei Jahren zurück. Auch die Superreichen bleiben weg, wenn die Villa nebenan von halbseidenen Event-Unternehmern gemietet wird, die für ein halbseidenes Publikum Koks­partys veranstalten.

Auch das andere „Kronjuwel“ des kykladischen Tourismus hat an Glanz verloren: In Santorini, immer noch eine der gefragtesten Destinationen in Europa, mussten die 15 000 Einheimischen auch diesen Sommer wieder gut 3 Millionen „Gäste“ verkraften.

Wo ist Übertourismus, wenn nicht hier? Doch Regierungschef Kyriakos Mitsotakis erklärte kürzlich gegenüber CNN: „Griechenland hat kein Übertourismus-Problem.“ Die Infrastruktur einiger Inseln möge überlastet sein, aber das bekomme man in den Griff.

Drei Jahre zuvor hatte der Übertourismus-Leugner Mitsotakis die internationale Presse nach Santorini eingeladen, um das Ende der Coronapandemie auszurufen und alle Welt zu ermuntern, das „einzigartige Gefühl von Glück, Freiheit und Gelassenheit“ zu genießen, das nur der griechische Sommer biete. Ort und Zeit des Auftritts waren professionell kalkuliert: am Rand der spektakulären Kaldera, vor der im Meer versinkenden Sonne. Genau dort, wo allsommerabendlich an die 3000 „Gäste“ das Unmögliche vollbringen wollen: das Selfie mit Sonnenuntergang, auf dem keiner der 2999 anderen Selfie-Junkies zu sehen ist.

Der Wald von hochgereckten Smartphones an der Kaldera-Kante von Santorini ist das ultimative Abbild des Phänomens, das Mitsotakis leugnet. Dabei protzt seine Regierung Jahr für Jahr mit neuen Rekordzahlen der Branche, die sie als die „Schwerindustrie“ Griechenlands bezeichnet. Tourismus über alles, aber das Wort Übertourismus ist tabu.

2023 meldete Griechenland mehr als 30 Millionen ausländische Urlaubsreisende, die dem Land 28,5 Milliarden Euro an direkten Einnahmen brachten. Das entspricht 13 Prozent des BIPs – der höchste Wert aller EU-Länder. Wenn man die indirekten Effekte für die Volkswirtschaft einrechnet, sind es 30 Prozent.

Und der Boom geht weiter. 2024 rechnet man mit 35 Millionen ausländischen Gästen. Doch wer „das einzigartige Gefühl von Glück, Freiheit und Gelassenheit“ sucht, wird kaum fündig werden, jedenfalls nicht in Santorini. Dafür warten andere unvergessliche Erlebnisse: kommerzialisierte Strände mit Beachbars und Sonnenliegen en masse, die pro Tag mindestens 50 Euro kosten; überquellende Müllcontainer; verstopfte Straßen und überfüllte Parkplätze, die für 35 000 Autos – davon 30 000 Leihwagen – nicht ausgelegt sind; in den „malerischen“ Dorfgassen ein Gedränge wie beim Oktoberfest; Warteschlangen vor den Cafés mit Meeres­blick.

Und das endgültige Chaos, wenn die Busse mit den Passagieren von den Kreuzfahrtschiffen eintreffen. Diese brachten am 6. August 15 652 Tagestouristen nach Santorini – ein Rekord. Übers Jahr sollen es 1,3 Millionen werden. Im Juli beantragte Bürgermeister Zorzos, die Zahl der in der Kaldera ankernden Hotelschiffe zu begrenzen, pro Tag sollen nur noch 8000 Passagiere anlanden. Die Athener Regierung stimmte zu, gelten soll die Regelung ab 2025.

Auch der Internationale Verband der Kreuzfahrt-Reeder (Clia) begrüßte die Obergrenze. Überraschend? Nur auf den ersten Blick: Die großen Cruise Lines machen sich längst Gedanken, wie sie das Gedränge in Santorini und Mykonos managen können, ohne ihr Ägäis-Programm zu reduzieren. Anfang August meldete eine Clia-Delegation bei der Athener Regierung ihr „starkes Interesse“ an, das Kreuzfahrtangebot „um zusätzliche griechische Destina­tio­nen zu bereichern“.

Die östlichste Kykladeninsel Amorgos kannte bislang keinen Kreuzfahrttourismus. Diesen Sommer legte in der engen Hafenbucht von Katápola das erste Hotelschiff an. Auf der Clia-Wunschliste stehen sogar Inseln wie Sikinos, die 273 Einwohner hat.

Expansion ist ein Grundzug des Übertourismus. Hat er ein Feld abgegrast, wandert er weiter. Der Abwärtstrend in Santorini und Mykonos ist daher ein Menetekel für die übrigen Kykladen. Schon heute zeigen sämtliche Indikatoren touristischer Übernutzung steil nach oben: Überlastung der Infrastrukturen; Wasserknappheit, Aufzehrung der Landschaft. Was das bedeutet, führt der Geologe Elias Nakos vor, der für die Wasserökonomie der südlichen Ägäis zuständig ist.

Als wir uns in seinem Büro treffen, hat er einen Kilometer der Ostküste von Paros auf dem PC-Schirm: hangaufwärts 45 Ferienvillen, fast alle umgeben von sattem Grün, dazu das obszöne Blau der Swimmingpools. Ab und zu ein paar abgeerntete Felder, drei Bauernhäuser. Ein Mausklick weiter: derselbe Landstrich vor 20 Jahren: etwa 25 Bauernhäuser mit Ställen und Viehgattern, inmitten bebauter Felder, an der Küste drei kleine Ferienhäuser. In fünf, ach was, in drei Jahren wird es hier keine Landwirtschaft mehr geben, sagt Elias. Und auch kein Wasser mehr für die Felder.

Dann holt er die Hafenbucht von Pa­roi­kia auf den Schirm. Dort ist ein neues Luxusresort entstanden. Jede der „Superior Suites“ hat einen eigenen Pool. Die Anlage wurde genehmigt, obwohl es in Paros schon mehr als 1200 private Pools gibt. Die seien nicht einmal das größte Problem, sagt Elias. Noch mehr Wasser verbrauchen die großflächigen Gärten mit exotischen Pflanzen und Rasen.

Für das private Grün müssten die Eigentümer der Anwesen und natürlich auch alle touristischen Betriebe eigentlich einen höheren Wassertarif zahlen. Denn der sommerliche Bedarf ist nur durch teure Entsalzungsanlagen zu decken, und die lokalen Wasserwerke legen die Kosten auf alle Verbraucher um. In Naxos und anderswo hat das heftige Proteste der einheimischen Bauern ausgelöst.

Elias hat schon vorgeschlagen, den Wasserpreis in der Touristensaison anzuheben, in den übrigen Monaten aber niedrig zu halten. Doch damit findet er bei den Politikern so wenig Gehör wie für die andere Idee: Kein Neubau soll ohne Zisterne genehmigt werden, um den Winterregen zu nutzen, der gerade in der Ägäis immer weniger wird. Baurechtliche Vorschriften sind in Griechenland jedoch ein Pro­blem. Nichts zulasten unserer Schwerindustrie, lautet das Credo der Regierung.

Entwürfe für eine inselspezifische Raumordnung gibt es seit Jahrzehnten; sie sehen strikte Beschränkungen für jegliche Bautätigkeit außerhalb bestehender Siedlungen vor. Doch die mächtige Immobilien- und Betonlobby hat bis heute verhindert, dass daraus ein Gesetz wird.

Damit bleibt das Gesetz der freien Wildbahn bestehen: Wo immer man eine Fläche von mindestens 4000 Quadratmetern erwirbt, kann man bauen und einen illegalen Zufahrtsweg aus der Landschaft kratzen. Das Resultat ist die Zersiedlung von Berghängen und Küstenstreifen.

Mein erster Eindruck von den Ky­kla­den geht auf einen Dokumentarfilm über die Insel Ios zurück, die in den 1970er Jahren von europäischen Aussteigern als billiges Paradies entdeckt wurde. Eine Kaffeehausszene habe ich nie vergessen. Ein alter Mann wird gefragt, ob ihn die vielen Fremden nicht stören. Seine Antwort: „Ich frage mich, ob ich die nicht störe.“

Die ahnungsvolle Ironie des Alten ist 50 Jahre später Wirklichkeit geworden. Am 24. Juli forderte der Gemeinderatsvorsitzende von Santorini seine Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, sie sollten, da 11 000 Kreuzfahrttouristen im Anmarsch seien, „ihre Bewegungen so weit wie möglichst einschränken“. Also zu Hause bleiben.

Ähnliche Ratschläge hat Sophia Voultepsi, stellvertretende Ministerin für Migration und Asyl, für diejenigen ihrer Landsleute, die über die teuren Fährentickets und explodierenden Übernachtungspreise klagen. Inselferien für eine Athener Normalfamilie sind damit unerschwinglich geworden. Aber die Ministerin weiß Rat: „Ärmere Leute gibt es in jedem Land, aber in Griechenland können sie in das Dorf der Oma gehen oder eben auf dem Festland bleiben.“ Tourismus über alles – jedoch nicht für alle.

Zum Weiterlesen: „Lob der Zisterne“ im Griechenland-Blog von Niels Kadritzke auf monde-diplomatique.de/blog, September 2019.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2024, von Niels Kadritzke