08.08.2024

Das Ende der Vergeudung

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Das Ende der Vergeudung

Mein Leben ohne Kühlschrank

von Marta Sapała

Peter Radelfinger, Atlas, A022, Mischtechnik, 1983 bis heute, 44 × 33,5 cm
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Sechs Jahre lang brummte unser Kühlschrank vor sich hin. Dann gab er schließlich den Geist auf. Innerhalb von 24 Stunden herrschte in seinem Innern dieselbe Temperatur wie in der Küche. Außerdem war das Kühlmittel in die Atmosphäre entwichen. Der Handwerker, der es wieder auffüllte und dafür eine fette Rechnung ausstellte, sagte: „Ich kann Ihnen keine Garantie geben – das Gas könnte schon morgen wieder austreten.“ Was zwei Tage später auch geschah.

Es war August und entsprechend heiß; trotzdem fragte ich mich, ob wir nicht auch ohne Kühlschrank auskommen könnten.

Ich brauchte ein paar Tage, um mich auf die neue Lebensweise einzustellen. Manches wurde kurzerhand entsorgt, weil einige Sachen sehr schnell vergammelten. Ich fing an, überlegter einzukaufen: nur kleinste Mengen und wenig auf Vorrat. Was nicht mehr ganz frisch aussah, wurde als Erstes verzehrt.

Als ich das verwaiste Gehäuse in einen Schrank verwandelt hatte, postete ich eine Anzeige auf Facebook: „Ich suche nach Leuten, die ohne Kühlschrank leben.“ Einige Dutzend antworteten. Die meisten hatten sich ein kühlschrankloses Leben nicht ausgesucht, es war ihnen durch die Umstände aufgezwungen worden: Einer hatte seine Wohnung verloren und wohnte im Büro, eine andere war auf einen ­Ökobauernhof gezogen, wo es schlicht keinen Kühlschrank gab. Oder es gab einen Kühlschrank, der sogar funktionierte, nur ließ sich die Tür nicht schließen, auch nicht mit einem Klebeband. Und auf einmal ging es auch ohne.

Bei meinen Küchenbesichtigungen sah ich manchmal nur noch die verblassten Umrisse an der Wand, wo früher der Kühlschrank gestanden hatte, oder umfunktionierte Geräte. Manche dienten als Schreibtafel oder Vitrine, andere hatten keine erkennbare Funktion und verströmten Gerüche, die sie früher erfolgreich absorbiert hatten.

Und alle sagten dasselbe: Zu ihrer eigenen Überraschung werfen sie weit weniger Lebensmittel weg. Sie kaufen öfter ein, geben aber weniger aus. Und die Reste, so es sie gibt, werden am nächsten Tag gegessen. Fleisch verdirbt leicht, also haben sie es gestrichen. Und Butter? Essen sie nur im Winter, draußen auf dem Fenstersims hält sie sich wunderbar. Gekühltes Bier trinken sie sofort, nachdem sie es gekauft haben. Und den Eintopf – aus Gemüse natürlich – heben sie im Ofen auf.

Wir sollten das nicht unbedingt alles glauben. Dank wissenschaftlicher Studien über Lebensmittelverschwendung wissen wir, dass die meisten Menschen dazu neigen, ihre Gewohnheiten zu verschleiern, wenn es um das Wegschmeißen von Essen geht. Aber tatsächlich gibt es zwischen dem technischen Hilfsmittel, das die Haltbarkeit von Nahrungsmitteln verlängert, und den entsorgten Mengen eine eindeutige Beziehung: Je größer der Kühlschrank, desto länger die Einkaufsliste; und je länger die Einkaufsliste, desto mehr wandert in den Abfall.

In Europa kommt statistisch ein Kühlschrank auf zwei Personen. Der Kühlschrank ist für uns ein Raum, in dem die Zeit vermeintlich stillsteht. Wir schließen die Tür, das Licht geht aus, und die Lebensmittel – organische Materie, die ständiger Verwandlung unterliegt – werden unsterblich. Nur leider stimmt das nicht. Die Kälte verzögert lediglich den zellularen Stoffwechsel und trickst damit Mikroorganismen aus, deren Ausbreitung verlangsamt wird – selbst Einfrieren kann die Zersetzung nicht völlig aufhalten.

Künstliche Kälte hält unsere Nahrungsmittel nicht nur auf ihrer letzten Etappe vor dem Verzehr frisch, bereits auf dem Weg in unsere Haushalte ist sie ihr ständiger Begleiter. Dank niedriger Temperaturen bleibt das pflanzliche Gewebe fester und die Nahrungsmittel bleiben optisch ansprechender. Für diese Funktion gibt es das hübsche Wort „Turgor“. Es bezeichnet den Druck des Zellsafts auf die Zellwand. Ohne den Turgordruck würde der Salatkopf statt in unseren Kühlschrank in den Mülleimer wandern.

Manchmal begleitet die Kälte die Lebensmittel selbst auf ihrer letzten Reise. Denn wenn sie nicht innerhalb der angegebenen Haltbarkeitsfrist verkauft wurden, landen sie erst einmal hinter gepanzerten Türen in einer Kühlkammer. Wenn sie dann von einem Müllauto abgeholt werden, ist das wie ein erster Hauch tropischer Luft, woraufhin die natürliche Verwesung rasch einsetzt.

Im Lebensmittelversorgungssystem wird jede Unterbrechung der Kühlkette zum Katastrophenfall: Der künstlich unterbrochene Reifeprozess setzt plötzlich wieder ein und will die verlorene Zeit einholen. Ein Apfel, der ein Jahr lang in einem Kühlhaus eingelagert war und aus dem praktisch aller Sauerstoff herausgepumpt wurde, ist gleichsam eingeschläfert. Aber schon der erste Luftzug erweckt ihn zum Leben – er will reifen, schrumpeln, seine Samenkerne weitergeben. Als Nahrungsmittel macht ihn das nicht unbedingt attraktiv.

Verglichen mit Smartphones (voll mit seltenen Metallen, deren Vorkommen umkämpft sind), Klimaanlagen (die zur Erderwärmung beitragen) oder Wäschetrocknern (die schmutzige Energie verbrauchen, nur um einen natürlichen Prozess zu beschleunigen), mag der Kühlschrank unschuldig erscheinen. Doch das ist er nicht. Er hat vielmehr seinen spezifischen Anteil an dem beschädigten Zustand, in dem sich unsere Erde heute befindet.

Dieser Anteil lässt sich ermitteln. Die Celsius-Grade, die Kühlschränke zur Erderwärmung beitragen, sind ebenso messbar wie das Volumen der Kältemittel, die in die Atmosphäre gelangen. Die fluorierten Ethan- und Propan-Derivate (FKW), die inzwischen die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) abgelöst haben, greifen vielleicht nicht mehr die Ozonschicht an, aber sie sind um ein Vielfaches schädlicher als das berüchtigte CO2.

Wie man dem abhelfen kann, wird seit langem diskutiert. 2016 unterzeichneten fast 200 Staaten in Kigali eine Änderung des Montreal-Protokolls von 1987, das ein FCKW-Verbot einführte. Der Beschluss von Kigali untersagt ab 2028 den Verkauf wie die Wartung von Geräten mit FKW-Kältemitteln, die durch organische Kühlflüssigkeit ersetzt werden sollen. Gleichwohl sind immer noch zig Millionen solcher Kühlschränke und Tiefkühlanlagen auf dem Markt. Jedes dieser Geräte ist, falls es nicht sachgemäß entsorgt wird, eine tickende Klimabombe.

Die For­sche­r:in­nen der NGO Project Drawdown, auf deren Ergebnisse sich unter anderem der Weltklimarat stützt, untersuchen die potenzielle Wirkung von hundert ausgewählten Maßnahmen gegen die Klimakrise zwischen 2020 und 2050. Nach ihren Berechnungen könnten bei einem Szenario, das von einer Erderwärmung von 2 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 ausgeht, allein durch Verbesserungen im „Management von Kühlgeräten“ fast 60 Gigatonnen an CO2-Emissionen weniger in die Atmosphäre gelangen. Und sogar rund 90 Gigatonnen könnten durch die Reduzierung von Nahrungsmittelabfällen eingespart werden.

Seit die Menschen sesshaft wurden, waren sie bemüht, die Lebensdauer ihrer Nahrungsmittel zu verlängern, wobei sie sich Mutter Natur zunutze machten: Große Eisblöcke, die im Januar aus Seen herausgesägt wurden, hielten das ganze Jahr über vor. Man musste sie nur in unterirdischen Eiskammern lagern und mit Sägemehl bedecken. Auf diese Weise hielten die Vorräte bis zum nächsten Winter.

Doch der weltweite Bedarf an gekühlten Vorratsspeichern wuchs und konnte nicht mehr allein durch die Natur gedeckt werden. Für Abhilfe sorgte Ende des 19. Jahrhunderts die Technologie. Sucht man ein Symbol für das Anthropozän, wird man unweigerlich an den Kühlschrank denken. Die Fähigkeit zur Temperaturregulierung ist eine der tragenden Säulen der globalisierten Produktion und Vermarktung von Lebensmitteln. Von dieser Fähigkeit hängt weitgehend ab, was als Essen auf unserem Tisch landet – und was wir davon wegschmeißen.

Ohne Kühlgeräte würden wir außerhalb der Erntezeit verschrumpelte Äpfel und keimende Kartoffeln essen. Frische Molkereiprodukte, Fleisch und Fisch wären rare Delikatessen; und tropische Früchte würden hierzulande ganz aus dem Angebot verschwinden. Alles in allem würden wir uns bescheidener ernähren, aber im Einklang mit den natürlichen Erntezyklen unserer jeweiligen geografischen Zone. Obst und Gemüse müssten nicht mehr tausende Kilometer zurücklegen, um auf unsere Teller zu kommen.

Unsere Kühlgeräte – oder besser die Art ihrer Nutzung – haben nicht nur unsere Auswahl vergrößert, sondern auch die Überzeugung genährt, dass wir alles haben können – hier und jetzt und mundgerecht. Die Möglichkeit des Kühlens ist auch einer der Gründe, warum wir Lebensmittel nicht mehr als wertvolle Ressource betrachten, deren Haltbarkeit durch zusätzliche Bearbeitung wie Trocknen, Salzen, Pökeln, Fermentieren oder Konservieren verlängert werden kann. Heute müssen wir nur noch den Kühlschrank aufmachen.

Europäische Kühlschränke haben im Durchschnitt eine Kapazität von 200 Litern, was freilich noch deutlich kleiner ist als jenseits des Atlantik. Bei der Größe dieser Geräte – und speziell ihrer Tiefe – entschwinden aufbewahrte Lebensmittel aus unserem Blickfeld. Ein großer Kühlschrank ist nachgerade darauf angelegt, Abfälle zu produzieren. Und selbst wenn wir uns beim Entsorgen von Lebensmittel aus dem Kühlschrank schämen oder ärgern sollten, kühlen solche Empfindungen rasch wieder ab.

Auf dem Welternährungsgipfel von 2017 in Kopenhagen wurde auch über die Reduzierung von Lebensmittelabfällen diskutiert. Eine von vielen Ideen kam vom CEO eines multinationalen Nahrungsmittelkonzerns, der den Smart Fridge anpries: „Die Lösung, meine Damen und Herren, liegt in der Vorhersehbarkeit, auch und gerade was das Konsumverhalten betrifft.“ Der Innenraum des Kühlschranks wird von einer Kamera gescannt, woraufhin mittels KI eine Einkaufsliste erstellt wird. Der Smart Fridge regt aber auch an, den im Gemüsefach lagernden Blumenkohl zu verbrauchen: „Bitte iss mich, Marta, denn wenn du das nicht tust, werde ich das in deinem Profil vermerken, und das wird dir peinlich sein.“

Wie kommt dieses „Profil“ zustande? Eine mit dem Internet verbundene Homebase (so nennen es die Hersteller von Smart Fridges) wird dafür sorgen, dass das Wegwerfen von Lebensmitteln kein diskreter Akt mehr ist. Mit der Folge, dass weniger entsorgt wird. Das hat wie üblich seinen Preis, in diesem Fall die tägliche Überwachung und Information darüber, was wir einkaufen, essen und wegwerfen.

Wir sind mehrere Wochen lang ohne Kühlschrank ausgekommen. Am Ende haben wir einen neuen gekauft: ein frei stehendes Teil, nach europäischen Standards durchschnittlich groß, aber ohne die Fächer, in denen das Gemüse seinen köstlichen Turgor bewahrt (was natürlich schade ist), auch ohne Eiswürfelfach und ohne Touchscreen oder andere Überwachungstechniken. Das Kühlmittel ist – theoretisch – nicht klimaschädlich; allerdings beginnt das Gerät schon beängstigend zu brummen.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Marta Sapała ist Journalistin und Autorin. Der Beitrag erschien zuerst auf Polnisch in Dwutygodnik, eine englische Fassung bei Eurozine.

© Marta Sapała/Dwutygodnik/Eurozine; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2024, von Marta Sapała