11.07.2024

Was Indien streamt

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Was Indien streamt

von Clea Chakraverty

Alireza Varzandeh, fensterbank XV, 2020, Öl auf Leinwand, 200 × 300 cm
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Kulissen aus Pappmaché, Bösewichte mit buschigen Augenbrauen, züchtige Ehefrauen im Sari: Lang ist es her, dass der staatliche indische Fernsehsender Doordarshan Ende der 1980er Jahre allsonntäglich eine Folge der Kultserie „Ramayana“ ausstrahlte. Inzwischen sind die Schurken glattrasiert, die Heldin ist mit der Kalaschnikow ebenso vertraut wie mit den Börsenkursen, und alle Folgen können auch online gestreamt werden.

In Indien wartet die Medien- und Unterhaltungsbranche aktuell mit rund 900 privaten Fernsehsendern und mindestens 40 Streaming-Plattformen auf. Spitzenreiter unter den Streaming-Anbietern ist die einheimische Marke Disney+ Hotstar, mit 60,3 Millionen Abon­nen­t:in­nen in Asien (überwiegend in Indien), gefolgt von Amazon Prime, Netflix, ZEE5 und Sony LIV. Der Streaming-Markt in Indien wird auf rund 1,5 Milliarden Dollar geschätzt und könnte sich bis 2030 verdreifachen.

Die Plattformen verändern nicht nur die Medienlandschaft Indiens, dessen Filmindustrie zu den größten der Welt zählt. Sie rütteln auch an den Konventionen, die zur Festigung einer politischen und religiösen Identität innerhalb dieser vielgestaltigen Nation beitrugen.

„Diese Plattformen haben es den Filmemachern ermöglicht, sich von den Bollywood-Narrativen zu lösen, auch wenn das Publikum weiterhin vor allem die großen Stars sehen will“, sagt die Produzentin Roopa De Chowdury. Heute sei das Ziel, „eine Balance zu finden zwischen neuen Formen und bekannten Gesichtern“.

Die Genres bleiben vertraut (Krimi, Satire, Musical), aber die Autoren schielen jetzt nicht mehr nur aufs heimische, sondern auch auf ein internationales Publikum – Vorbild hierfür bilden erfolgreiche Serien aus Südkorea.

Schauplätze sind ein aufgehübschtes Neu-Delhi oder Mumbai, wo man sowohl Hindi-Slang als auch Oxford-Englisch spricht. Wenn sich die Handlung aufs Land verlagert, wird auf Klischees zurückgegriffen: Gewalt, Ungleichheit, Kastenwesen, Korruption. Beliebt sind auch die sogenannten Dacoits: Banditenserien, die ein wenig an Italowestern erinnern.

Der Höhenflug der Serien ist nach Ansicht der Anthropologin Hélène Kes­sous einer neuen Generation von Filmemachern zu verdanken, die in der Tradition des unabhängigen Kinos stehen. Der Regisseur Anurag Kashyap ist einer der Pioniere der Szene. Seine Netflix-Adaption des Romans „Sacred ­Games“ von Vikram Chandra stellte 2018 einen Wendepunkt dar. Typisch für diese neuartigen Serien ist ihr Realitätsbezug und ihr pädagogischer Anspruch.

Manchmal, wie in „Tandav“ (Amazon Prime, 2021), wird sogar einigermaßen unverhohlen Kritik an den Regierenden geübt. Darin spielt Publikumsliebling Saif Ali Khan einen psychopathischen Politiker, der gewisse Ähnlichkeiten zu Frank Underwood aus der US-Serie „House of Cards“ aufweist. Kritik am Ultranationalismus steht im Zentrum der dystopischen Serie „Leila“ (Netflix, 2019). Indien ist darin zu einer totalitären, faschistischen Theokratie geworden, wo Apartheid zwischen Muslimen und Hindus herrscht.

Beide Produktionen stießen bei ihrem Erscheinen auf heftige Kritik von hindunationalistischen Gruppen und führenden Politikern, die der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) nahestehen. Den Serien war es gelungen, durch das – normalerweise sehr engmaschige – Netz der Zensurbehörde zu schlüpfen, die dem Informations- und Rundfunkministerium untersteht. Die Zentralregierung versuchte daraufhin bestehende gesetzliche Vorschriften wie den „Ethikkodex“ zu ändern, um die Grundlage dafür zu schaffen, Szenen oder ganze Folgen „abzumildern“ (sprich: zu streichen), die als obszön eingestuft werden oder die „religiöse Gefühle verletzen“ könnten.

Vage Vorgaben wie diese zwingen Regisseure zur Selbstzensur, um nicht gegen das konservative Wertekorsett zu verstoßen. „Dass in den letzten 20 Jahren der Sari auf den Bildschirm zurückkehrt, ist ein gutes Beispiel dafür“, sagt Hélène Kessous. „Die Plots mögen ‚modern‘ erscheinen, aber die kulturellen Referenzen bleiben reaktionär.“ Oder sie feiern Konsum und Familienglück, wie es typischerweise bei Serien mit westlichem Vorbild der Fall ist.

Riesiger Markt für Netflix und Co

Letzteres ist etwa beim erfolgreichen Reality-Format „Indian Matchmaking“ (Netflix, 2020) zu beobachten. Im Mittelpunkt steht die Heiratsvermittlerin Sima Taparia, die mit vermeintlicher Leichtigkeit Ehen zwischen gut situierten Mitgliedern der indischen Gesellschaft und in der Diaspora arrangiert. Frauen, die sich den traditionellen Werten nicht anpassen, werden darin regelmäßig gerügt. Und mantraartig wird wiederholt, dass eine Frau nur in einer heterosexuellen Ehe mit einem Mann aus derselben Kaste ihre Erfüllung finden kann.

Andere Produktionen hingegen knüpfen unverblümt an feministische Diskurse an und finden trotzdem ein großes Publikum. „Bombay Begums“ (Netflix, 2021) etwa handelt von fünf Frauen in der Finanzbranche und thematisiert unterschiedliche Formen weiblicher Solidarität – was nicht selten mit einer scharfen Kritik am allgemeinen Erfolgskult einhergeht. Nicht infrage gestellt wird allerdings das neoliberale System an sich. Vielmehr wird es – neben Sex und Alkohol – als Vehikel zur Emanzipation dargestellt.

Für die Produzentin Roopa De Chou­du­ry spiegelt der neue Ton, den diese Serie anschlägt, den sich wandelnden Blick der indischen Gesellschaft auf den weiblichen Körper wider. „Die Vorstellung von der Frau als derjenigen, die die Familie zusammenhält, verändert sich, aber nur im Rahmen dessen, was akzeptabel ist.“ In der Soapopera „Anupamaa“ (StarPlus, 2020) wagt es die Protagonistin, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen und neu zu heiraten. Emanzipation ja, aber bitte nur in Grenzen!

„Das Streaming hat neue Spielräume eröffnet“, erklärt Choudhury. „Für die Darstellerinnen, die aus alten Rollenbildern herauskommen, aber auch für Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen wie Alankrita Shrivastava, Zova Akhtar oder Reema Kagti.“ Diese thematisieren in ihren Filmen weibliches Begehren und Sexualität und üben Kritik am Patriarchat und an der politischen Klasse.

Die Satire „Rasbhari“ (Amazon ­Prime, 2020) ist ein Paradebeispiel für diese Politisierung des weiblichen Körpers. Im Vorspann streift ein scharlachroter Sari die Gesichter einer Schar hypnotisierter Männer. Im Mittelpunkt steht eine junge Lehrerin aus der Mittelschicht, die erst vor Kurzem mit ihrem Mann nach Meerut im Norden Indiens gezogen ist.

Sie ist der Archetypus der begehrten, aber verheirateten Frau (bhabhi), die zugleich Bedrohung und Hüterin der sozialen Ordnung ist. Gespielt von Swara Bhaskar, einer der wenigen Schauspielerinnen, die offen die Regierung von Narendra Modi kritisieren, führt sie der indischen Gesellschaft die Scheinheiligkeit ihrer konservativen Einstellungen vor Augen.

Auf andere Art funktioniert die Serie „Made in Heaven“ (Amazon Prime, 2019), in der zwei professionelle Hoch­zeits­pla­ne­r:in­nen in einem glamourösem Neu-Delhi mit sozialen Ungleichheiten konfrontiert sind. Sie setzt sich mit häuslicher Gewalt, Vorurteilen gegenüber Minderheiten und dem Kampf gegen Mitgift und Kastenwesen aus­ein­ander. Ihre Anspielungen grenzen an offene Kritik am politischen System.

Hélène Kessous bezweifelt jedoch das subversive Potenzial dieser Serien: „Sie festigen auf gewisse Weise die Probleme, die sie anprangern.“ So thematisierten sie zum Beispiel „Kolorismus“, die Diskriminierung von Menschen mit dunklerer Haut, „aber die Schauspieler sind selbst sehr hellhäutig“ und werden „regelmäßig überbelichtet“ – was ihre Haut noch heller erscheinen lässt.

Auffällig ist auch, dass es nur selten Filmproduktionen gibt, in denen Dalits oder Muslime im Mittelpunkt stehen. Und Schau­spie­le­r:in­nen aus diesen Gesellschaftsgruppen werden quasi nie für eine Hauptrolle gecastet. In „Khakee“ (Netflix, 2022) spielt Avinash Tiwary, selbst aus der Kaste der Brahmanen, einen Dalit.

Andere Produktionen wagen mehr, wie die auf Tamilisch gedrehte Miniserie „Paava Kadhaigal“ (Netflix, 2020), die das heikle Thema der in Indien immer noch verbreiteten „Ehrenmorde“ aufgreift. Mit schwarzem Humor, absurden, tragischen und märchenhaften Elementen erzählt sie von der Politisierung intimer Beziehungen und veranschaulicht das Gefühlschaos derjenigen, die unter die Räder des gesellschaftlichen Systems geraten.

Eine sterbende junge Frau fragt darin ihren Vater, Symbolfigur für die überkommene gesellschaftliche Ordnung: „Papa, wie kannst du schlafen, nachdem du deine eigene Tochter ermordet hast?“

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Clea Chakraverty ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Clea Chakraverty