13.06.2024

Was Europa jetzt tun sollte

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Was Europa jetzt tun sollte

Handlungsanweisungen eines ehemaligen Spitzendiplomaten

von Dominique de Villepin

Isolde Woudstra, Lebanon Hanover, 2014
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Die Pax Americana geht ihrem Ende entgegen und lässt die Welt in großer Unordnung zurück. Jahrzehntelang meinten die USA und deren Verbündete, sie könnten die Welt nach ihren Vorstellungen formen: durch Einflussnahme als selbsternannte Vorbilder, durch Regulierungen entsprechend ihren Gesetzen und mit immer mehr Gewalt – in der Gewissheit, die Mächtigsten zu sein. Doch dabei verloren sie ihre eigenen Versprechen aus den Augen und provozierten vor allem: heftigen Widerstand. Dafür bezahlen wir heute den Preis.

Doch dies ist nicht die Zeit für Rückblicke. Wir müssen vielmehr Lehren ziehen aus drei Entwicklungen, die parallel verlaufen.

Die erste ist die Fragmentierung der Welt.

Deren Hauptursache ist die beispiellose Deregulierung von Macht. Der Konsens von 1945, der das Fundament für eine internationale Ordnung im Zeichen friedlicher Krisenbewältigung (später im Interesse einer Deeskalation des Kalten Krieges) legte, hat sich aufgelöst, nachdem die westlichen Mächte – die Garanten dieser Ordnung – immer häufiger ihre eigenen Regeln gebrochen haben. Sie verstießen gegen internationales Recht, wie 1999 im Kosovo und 2003 im Irak, agierten kopflos und ohne Sicherheitsnetz wie 2011 in Libyen oder politisch planlos wie seit 2013 im Sahel.

Auf der anderen Seite wird der Verfall von Mächten wie Russland oder China vorangetrieben, die mit ihrer Rolle in der globalen Nachkriegsordnung ohnehin unzufrieden sind und damit ihren Einsatz von Drohungen und Gewalt rechtfertigen.

Mit den Bürgerkriegen in Libyen, in Syrien und im Jemen im Gefolge des „Arabischen Frühlings“ von 2011 hat sich die Folge der Krisen beschleunigt. Konflikte, die seit den 1990er Jahren auf Eis lagen, erhitzten sich zur hellen Glut: Der Krieg in der Ukraine seit 2014 und noch heftiger seit 2022, der Konflikt um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien 2020 und 2023 und seit 2023 der neue Gazakrieg.

Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Polarisierung der internationalen Ordnung durch die häufigere Anwendung von Sanktionen. Die Rivalität zwischen den USA und China zwingt ein Land nach dem anderen, sich für eines der beiden Lager zu entscheiden. Seit dem Kalten Krieg wissen wir jedoch, dass eine Spaltung in zwei Lager zu Rüstungswettlauf, Eskalation und Stellvertreterkriegen in den umkämpften Randzonen führt.

Die jetzige Polarisierung hat ein neues Ausmaß erreicht, und das Kräfteverhältnis entwickelt sich, absolut gesehen, für Washington nicht günstig: weder demografisch – trotz der beschleunigten Alterung in China; noch wirtschaftlich – trotz der chinesischen Wachstumskrise; und wohl auch nicht politisch – vor dem Hintergrund, dass die USA nicht mehr so verlässlich sind und fordernder, mitunter sogar imperial auftreten.

Der wichtigste Wettbewerbsvorteil der USA wird auf lange Sicht nur ihre übermächtige Armee sein. Die US-Armee ist die einzige Streitmacht, die über das vollständige Arsenal der Waffen verfügt, die derzeit auf dem Markt sind. Außerdem hat sie 100 Jahre Konflikterfahrung – im Gegensatz zum chinesischen Militär, das wenig kampferprobt ist. Doch die Kriegslast tragen vor allem die asiatischen Stützpunkte – Japan, Südkorea, Taiwan – und indirekt die europäischen Verbündeten, weil sich China und Russland annähern und einander sogar strategisch ergänzen, was früher alles andere als selbstverständlich war.

Kommen wir zu dem zweiten Phänomen: die Logik der totalen Konfrontation.

Die extrem zerstörerischen Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen stehen für eine neue Art von Konflikt nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip, bei dem jeder Kompromiss als Kompromittierung wahrgenommen wird. Für jede Kriegspartei geht es dabei nicht nur um ihr Territorium, sondern auch um die blanke Existenz. Die Ukrainer sehen sich mit einem russischen Aggressor konfrontiert, der ihre Nation, ihre Kultur und ihre Sprache auslöschen will. Russlands Führung scheint dagegen von der Vorstellung besessen zu sein, dass ihre Nation vom bedrohlichen Westen bedrängt werde und deshalb um ihre Existenz kämpfen müsse.

In Israel ist nach dem 7. Oktober das Gefühl der existenziellen Verwundbarkeit wieder erwacht und das Grundversprechen vom Staat Israel als sicherer Ort für alle Juden ins Wanken geraten. Dass diese grauenhaften Massaker geschehen konnten und Geheimdienste und Armee dermaßen versagt haben, hat irreversible Zweifel und Ängste im Land ausgelöst. In Gaza sieht sich wiederum die Bevölkerung durch die pausenlosen Bombardierungen und gezielten Angriffe auf die gesamte Infrastruktur und die Bevölkerung in ihrer kollektiven Identität existenziell infrage gestellt.

Und wieder werden überall die Gespenster der Vergangenheit heraufbeschworen. In Russland instrumentalisiert man die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg (1941–1945) und diffamiert die Ukraine als faschistisch, die entnazifiziert werden müsse. In der Ukraine wird an die vom Stalin-Regime gezielt herbeigeführte Hungers­not, der „Mord durch Hunger“ Holodomor (1932–1933), erinnert und zur Entstalinisierung Russlands aufgerufen.

Kriegslogik und Klimakrise

Für Israel ist der Bezugspunkt die Shoah, weshalb manche die Vernichtung der Hamas auch als „Entnazifizierung“ bezeichnen und damit die Bombardierung, militärische Besetzung und künftige Umerziehung der Bevölkerung des Gazastreifens rechtfertigen. Und auf palästinensischer Seite ist es die ­Nakba – die Katastrophe von 1948 –, die mit der Angst verknüpft ist, Israel wolle die Palästinenser nach Ägypten oder in andere Länder vertreiben.

Doch wenn wir ehrlich sind, findet diese Essenzialisierung auch bei uns statt, die wir in Frieden leben. Alle haben Angst. Das ist der innere Mechanismus von Bürgerkriegen, der in Ansätzen etwa in dem hysterisch aufgeladenen Präsidentschaftswahlkampf in den USA zu beobachten ist.

Die dritte Entwicklung, die zu den beiden anderen parallel verläuft, ist die Globalisierung des Krieges.

Sie kennt keine Grenzen mehr und wird irgendwann zum globalen Krieg führen, mit grenzenlosen Zerstörungen und einem möglicherweise nuklearen Konflikt. Es wird zur Unterbrechung von Handelswegen kommen, zu Verknappung und Inflation. Sogar ein Weltraumkrieg ist möglich.

Der globale Krieg ist zudem ein selbstmörderischer Krieg gegen den Planeten als Ganzes. Nicht nur wird damit die Energiewende auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, die Erd­er­wär­mung wird sich auch noch beschleunigen. Denn wer wird schon bereit sein, den Gürtel enger zu schnallen, wenn die Gefahr droht, dass er dem Gegner dadurch niedrigere Energiepreise beschert?

Der Krieg in der Ukraine hat ganz Europa vor Augen geführt, wie verwundbar es ist. Die territoriale Souveränität des Alten Kontinents steht auf dem Spiel. Europa weiß, dass es nicht allein und zuverlässig für seine Verteidigung wird sorgen können, sondern auf die Unterstützung durch die USA angewiesen ist, die allerdings von Jahr zu Jahr ungewisser wird.

Die Europäer bemühen sich zwar, die Rüstungsproduktion wieder anzukurbeln, um die eigenen Arsenale aufzufüllen und die Ukraine weiterhin zu unterstützen. Etliche gemeinsame Industrie­vorhaben stehen allerdings still oder kommen nur schleppend voran – wie beispielsweise die des deutsch-französisch-spanischen Projekts Future Combat Air System oder des deutsch-französischen Panzersystems Main Ground Combat System.

Doch mit Europas industrieller Souveränität steht es nicht zum Besten. Europas Wirtschaft scheint gegenüber den USA zurückzufallen. Das europäische und US-amerikanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) lagen 2008 in etwa gleichauf. Inzwischen beträgt Europas BIP nur noch wenig mehr als die Hälfte des US-amerikanischen. Die Subprime-Krise von 2007 hat die Volkswirtschaft, die sie ausgelöst hat, nicht geschwächt, sondern gestärkt und erneuert, wohingegen sich die EU mit ihrer Sparpolitik selbst die Luft abschnürt.

Mit Subventionen von 369 Milliarden US-Dollar werden im Rahmen des Inflation Reduction Act (IRA, 2021) gewaltige strategische Kapazitäten in der Batterie- und Halbleiterproduktion aufgebaut – zum Schaden Europas. Hinzu kommt, dass die EU wirtschaftlich zu stark von China abhängig ist – Frankreich bei den Luxusgütern, Deutschland im Automobilsektor. In der neuen Schlüsselindustrie (Akkus und Elektroautos) droht die europäische Industrie ins Hintertreffen zu geraten, weil die Wettbewerbspolitik der EU zu restriktiv, die Subventionspolitik zu kleinteilig und unübersichtlich ist und die Interessen von 27 Mitgliedstaaten kaum unter einen Hut zu bringen sind.

Unsouveränes Europa

Auch in Sachen technologische Souveränität steht Europa nicht viel besser da. Mit Alphabet, Amazon, Apple, Micro­soft, Meta, Nvidia und Tesla dominieren sieben US-Konzerne den Weltmarkt. Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt kommen aus Europa. Der europäische Cloud-Markt liegt zu 72 Prozent in den Händen dreier US-Unternehmen. Entsprechend real ist die Gefahr, dass der Kontinent mit der Auslagerung seinen Daten seine digitale Souveränität einbüßt. Für den nächsten Innovationsschub bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing muss Europa seine talentierten Start-ups schützen, indem es öffentliche Aufträge an europäische Unternehmen vergibt und den digitalen Binnenmarkt entsprechend strukturiert.

Hinzu kommt die bedrückende Situation in Nahost und Subsahara-Afrika. Europa sieht seine Nachbarregionen nur als Gefahrenquellen und Problemherde, nicht als Partner: Im Osten herrscht Krieg; im Süden hat Europa bei der Unterstützung versagt und fürchtet sich deshalb seit Jahren panisch vor „Migrationswellen“. Somit wird es jeden Tag schwieriger, den Zusammenhalt in der Europäischen ­Union zu bewahren, solange nicht geklärt ist, was mehr gefördert werden soll: die föderale Zusammenarbeit innerhalb der Union oder zwischenstaatliche Kooperationen. Die Erweiterung der EU und die Brüsseler Überregulierung wirken bisweilen wie eine Flucht nach vorn angesichts unmöglicher Optionen. Das vertieft die Risse und erleichtert es Leuten wie Viktor Orbán, Druck auszuüben.

Um weder tristem, hilflosem Realismus zu verfallen noch naivem und noch hilfloserem Idealismus, ist ein konsequenter Realidealismus angezeigt. Oberste Priorität sollte dabei eine Diplomatie haben, die sich engagiert in den Dienst des Friedens stellt. Das erfordert einen langen Atem und sehr intensive Bemühungen, denn zunächst und vor allem geht es darum, die Verbindung zum Globalen Süden wiederherzustellen, nachdem wir in den vergangenen 20 Jahren den Kontakt verloren haben – so sehr, dass wir nicht einmal mehr hören und begreifen, was man uns sagt.

Frankreich selbst muss wieder eine Schnittstelle zwischen Süd und Nord, Ost und West werden – ein Land, das in der Lage ist, mit allen zu reden. Dafür braucht es neue Foren. Die G7 haben nur noch die Legitimität einer zur Karikatur gewordenen Weltregierung der reichsten 10 Prozent, die die Hälfte der weltweiten Reichtümer kontrollieren – ein exklusiver Privatklub des Globalen Westens. Frankreich sollte ein deutliches Zeichen setzen und sich aus diesem Forum, das keine Zukunft hat, zurückziehen.

Die G20, nach der Krise von 2008 zu neuem Leben erweckt und zunächst der Inbegriff der globalen Finanztechnokratie, muss in irgendeiner Form wieder von der UN-Vollversammlung, der Hüterin des internationalen Rechts, wieder in die Verantwortung genommen werden. In Zeiten, in denen die Vereinten Nationen infrage gestellt und blockiert werden, muss Frankreich die geplante Reform des Sicherheitsrats vorantreiben, damit er durch die Aufnahme neuer ständiger Mitglieder nicht nur repräsentativer, sondern mit einem reformierten Vetorecht auch ­effektiver wird.

Eines der übergreifenden Foren, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, ist das Staatenbündnis Brics, das sich mitten in einem Transformationsprozess befindet und mit den jüngsten Erweiterungsrunden das Ziel verfolgt, zum repräsentativen Organ des Globalen Südens zu werden. Brics versammelt bereits fast die Hälfte der Weltbevölkerung in einem heterogenen Verbund, den vor allem eines verbindet: der Unmut gegenüber dem Westen.

Wir müssen anfangen, das Mehrheitsprinzip im Weltmaßstab zu denken. Nur so können neue Lösungen und ein gemeinschaftlicher Reform­eifer entstehen. Es stünde an, den Weg für eine „erweiterte Brics+“ zu ebnen, in der Länder aus freien Stücken zu Gesprächen mit den Mitgliedern zusammenkommen, um eine weltumspannende Agenda zu formulieren, die von einer breiten globalen Mehrheit getragen wird.

Wir müssen den Beweis antreten, dass sich mit kollektiven Verfahren etwas bewirken lässt – natürlich für den Klimaschutz, aber auch gegen das politische Phänomen der Failed States, mit dem zwei Plagen der Globalisierung einhergehen: der internationale Terrorismus, der den Sahel, den Nahen Osten und Zentralasien vergiftet; und die organisierte Kriminalität, die auf allen Kontinenten auf dem Vormarsch ist.

Wir müssen zudem für die Vision einer multipolaren Welt eintreten. Die Vielfalt der Welt darf nicht in der Konfrontation der Blöcke untergehen. Wir müssen deutlich machen, dass es legitim und notwendig ist, wenn China nach zwei Jahrhunderten im Abseits auf die Weltbühne zurückkehrt und dort eine tragende Rolle übernimmt. Ebenso begrüßenswert ist die Rückkehr eines starken Indiens. Diese Suche nach großen Partnern muss das prägende Merkmal der Außenpolitik sein.

Im nächsten Schritt müssen wir im europäischen Rahmen darüber nachdenken, wie wir unsere Rüstungsindustrien für die Zukunft so aufstellen, dass größtmögliche Souveränität erreicht wird und die entsprechende Finanzierung gesichert ist. Die Verteidigungsausgaben sollten daher aus den Finanzzielen des neuen Stabilitätspakts ausgeklammert und ihr hoher Stellenwert als Investition in die Zukunft deutlich gemacht werden.

Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) muss mit mindestens 100 Milliarden Euro ausgestattet werden – durch gemeinschaftliche Kreditaufnahme und eine unter den Mitgliedstaaten koordinierte Planung, damit ein weltweit konkurrenzfähiges Volumen sichergestellt wird.

Verteidigungsbereitschaft ist nicht nur eine Frage der Kampfkraft, sondern auch eine Frage gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit. Dabei geht es nicht um eine Militarisierung der Gesellschaft. Im Gegenteil, wir müssen unsere Demokratien gerade jetzt unbedingt stärken, indem wir eine aufgeklärte und besonnene Debatte über Aufrüstung führen, einen haltbaren Konsens finden und respektable und respektierte Gesetze formulieren.

Denn wenn die Armeen eine wichtigere Rolle übernehmen, vergrößert das zwangsläufig deren Macht. Deshalb müssen die parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Kontrollmöglichkeiten gestärkt und ausgebaut werden. Medien- und Rüstungsbranche müssen strikt getrennt werden, um wirksam zu verhindern, dass die öffentliche Meinung gekapert wird.

Wir brauchen eine gemeinsame europäische Außenpolitik, die proaktiv an der Lösung der weltweiten Krisen mitwirkt, ohne in hektischen Aktivismus zu verfallen. Denn ein solcher schadet unserem Ansehen und erweckt den Eindruck, hier würden Ängste und eine kriegerische Stimmungen ausgenutzt. Zu derartigen unbedacht in die Debatte geworfenen Ideen gehören etwa die Forderung nach der Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine und nach der „Europäisierung“ der französischen atomaren Abschreckung.

Es ist verantwortungslos zu glauben, Krisen ließen sich einteilen in solche, die wir aussitzen können, und solche, die wir zuspitzen müssen.

Zu den Krisen des ersten Typs, den Elendskrisen dieser Welt, hören wir sowohl von der sogenannten internationalen Gemeinschaft als auch vom Westen so gut wie nichts: In Haiti kapern Banden einen Failed State; der Sudan versinkt 20 Jahre nach Darfur erneut in Bürgerkrieg und Massakern; in Myan­mar herrscht Bürgerkrieg. Von den Krisen in der Demokratischen Republik Kongo und im Libanon ganz zu schweigen. Es geht darum, ein neues Vorgehen zu entwickeln, sich stärker zu engagieren und aus katastrophalen Verhältnissen zu neuen Kooperationen zu finden, die dem gemeinsamen Ziel aller Großmächte dienen: eine maximal stabile und sichere internationale Ordnung.

Task Forces für eine neue Weltordnung

Jeder noch so kleine und entlegene Konflikt kann zur Lunte am Pulverfass werden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen muss zentraler Akteur werden – mit Task Forces der wichtigsten Weltmächte, insbesondere der USA, Chinas, Russlands, der EU, Indiens und Brasiliens, die politische Vor-Ort-Lösungen und eine kooperative Entwicklungspolitik vorantreiben.

Der Fokus sollte jetzt auf die beiden Kriege in Gaza und in der Ukraine gerichtet sein: Wenn wir zulassen, dass in Gaza wie in der Ukraine der Krieg alles verschlingt, wächst jeden Tag die Gefahr, dass der Konflikt sich globalisiert. Manche Kriegspartei wünscht sich das vielleicht sogar.

Was den Gazakrieg betrifft, so müssen wir wieder einen glaubwürdigen politischen Weg zu einer zügigen Zweistaatenlösung einschlagen. Und das geht nur über eine dauerhafte Waffenruhe. Da inzwischen eine Ausweitung auf die gesamte Region droht, muss man umgehend noch einen Schritt weiter gehen und eine Sicherheitskonferenz für den Nahen Osten einberufen, bei der alle regionalen Akteure einschließlich Israel und Iran mit am Tisch sitzen.

Natürlich lässt sich nicht innerhalb weniger Wochen lösen, was sich in 50 Jahren angesammelt hat. Es geht erst einmal darum, einen Rahmen zu schaffen und einen Prozess zu entwickeln, in denen jede der anstehenden Fragen behandelt werden kann.

An erster Stelle steht die Anerkennung des palästinensischen Staats, an zweiter die Bereitschaft, ein Sondertribunal für die in Israel und Palästina verübten Verbrechen einzurichten, vor dem sowohl die Massaker vom 7. Oktober als auch die mutmaßlich im Ga­za­strei­fen – und im Rahmen der is­rae­lischen Besatzung des West­jor­dan­lands – verübten Kriegsverbrechen verhandelt werden.

Was den Krieg in der Ukraine betrifft, gilt es vor allem ein stabiles Gleichgewicht zu schaffen zwischen der nach wie vor entschlossenen Unterstützung des Landes und unserem Verhältnis zu den Ländern des Globalen Südens. Die vom US-Kongress bewilligten Hilfen von 61 Milliarden US-Dollar erhöhen die Chancen, dass nicht vor der Drohkulisse des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs verhandelt werden muss. Das heißt, wir müssen begreifen, woher die vorherrschende Wahrnehmung rührt, dass der Westen „mit zweierlei Maß misst“, und gleichzeitig verständlich machen, dass es in der Ukraine um die Verteidigung einer internationalen Ordnung geht, die ­Frieden und Sicherheit für alle garantiert.

Und es braucht einen diplomatischen Prozess, der zur Deeskalation und zu konfliktbegleitenden Vereinbarungen führt – und wenn die Ukrainer dazu bereit sind, zu einem Waffenstillstand, der den Weg zu Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ebnen kann. In solchen Verhandlungen muss es um drei Themen gehen: einmal die von Russland annektierten und besetzten Gebiete, als Zweites die Sicherheitsarchitektur für Europa; und als Drittes eine Neuauflage der „Start“-Abkommen, die 2027 ablaufen, und des INF-Abrüstungsvertrags zu atomaren Mittelstreckenraketen, um das globale nukleare Risiko einzudämmen. Wir dürfen die Tür für eine Verhandlungslösung nicht aus Prinzip zuschlagen.

Auch in Ostasien müssen wir aktiv werden. Dort drohen sich von Taiwan bis Korea an der Bruchlinie zwischen den beiden großen Blöcken immer mehr Frontlinien zu bilden. Eine energische Eindämmungspolitik des Westens im indopazifischen Raum birgt die Gefahr, dass eine unkontrollierbare Spirale der Gewalt in Gang gesetzt wird. Nur das Bemühen um regionalen Ausgleich, der den großen Schwellenländern wie Indien und Indonesien allen nötigen Raum zu Entfaltung gibt, kann das verhindern.

Wir sollten nicht davon ausgehen, dass ein Krieg unausbleiblich sei, auch wenn Washington sich anscheinend damit abfindet. Wir sollten die Initiative ergreifen und Diskussionsformate ins Spiel bringen, die schrittweise Lösungen begleiten können.

Selten war die Weltlage so kritisch wie heute. Zwei globale Lager prallen mit voller Wucht aufeinander: ein westliches, das im Namen eines unheilvollen Fortschritts agiert und mitunter versucht ist, sich aus lauter Angst vor dem eigenen Niedergang in den Kampf zu werfen. Und ein anderes, das die Weltordnung zu seinen Gunsten umgestalten will, auf die Gefahr hin, imperiale Einflusssphären zu zementieren. So entstünde eine Welt, in der im Namen einer allumfassenden Stabilität jede Veränderung im Keim erstickt wird.

Bei dieser neuen Konfrontation der Blöcke bleibt der Globale Süden auf der Strecke. Deshalb müssen wir einen Weg zu einer gemeinsamen, ausgeglichenen und sicheren Weltordnung entwerfen, mit der sich die angekündigte Katastrophe abwenden lässt und die Klima, Artenvielfalt und menschliche Güter wie finanzielle Stabilität und Grundlagenforschung schützt.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Dominique de Villepin war französischer Außenminister (2002–2004) und Premierminister (2005–2007).

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Dominique de Villepin