13.04.2012

Im Land der Schattenbanken

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Im Land der Schattenbanken

In China wächst die Unzufriedenheit mit einem Staat, der Reichtum hortet, die Inflation anheizt und die Bürger im Stich lässt von Shi Ming

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Auf Facebook nennt sie sich „Wang Pei“. Sie kommt aus Hangzhou in der ostchinesischen Küstenprovinz Zhejiang. Bekannt wurde Wang Pei mit einem Test, den sie im Dezember 2011 mithilfe einer Freundin unter dem Nickname „Nana“ durchführte. Dabei wurden die Preise von 21 Waren des täglichen Gebrauchs in Hangzhou und in Boston verglichen.

Das Testergebnis: 12 der 21 Produkte kosten in Hangzhou mehr, zum Teil viel mehr als in Boston. Das gilt unter anderem für Eier, Rind- und Schweinefleisch, Milch, Benzin und Diesel, Tomaten und Bananen. Nimmt man den Durchschnitt der Preise, ist das Leben in Hangzhou etwas teurer als in Boston. Dem Preisvergleich stellt Wang Pei das Durchschnittseinkommen in beiden Städten gegenüber. Mit umgerechnet 4 024 Dollar belegt Hangzhou im chinesischen Städteranking einen Spitzenplatz. Dagegen liegt Boston mit 32 255 Dollar unter den US-Städten im Mittelfeld.

Wang Peis Test feuert eine hitzige Debatte unter vielen Mittelschichtlern an, die im ganzen Land schon lange schwelt. Das Ergebnis passt nicht in das Bild, das die meisten Menschen von der Welt in der Finanzkrise haben: hier das boomende China, dort die darbenden USA mit ihrer übermäßigen Verschuldung. Denn bei den chinesischen Finanzen liegt noch mehr im Argen als bei den Amerikanern, sind die Ungleichgewichte womöglich noch stärker ausgeprägt als in den USA.

Laut den amtlichen Statistiken lag selbst in den schlimmsten Monaten des vergangenen Jahres die Teuerungsrate nur etwas über 6 Prozent. Wie kommt es aber, dass bei einer angeblich nur einstelligen Inflationsrate die Preise in China mittlerweile bereits US-Niveau erreichen – obwohl das Einkommensniveau nur ein Achtel der jenseits des Pazifiks erzielten Einkommen erreicht? Lange schon glaubt kaum noch jemand den offiziellen Statistiken. Heute berichten Parteiblätter, wie heldenhaft sich die Führung 2008 gegen eine Inflationsrate von 24 Prozent gestemmt hat, während die Statistiken von damals allenfalls 8 Prozent auswiesen. 2008 strömten Amerikaner nach China, um billig zu shoppen. Heute beginnt sich der Trend umzukehren. Wie schlimm muss also die Inflation tatsächlich sein?

Um sich gegen die Geldentwertung abzusichern, sucht die vermögende Mittelschicht mit wachsender Verzweiflung nach sicheren Anlagen. Immobilien wagt keiner mehr zu kaufen – selbst wenn man sich sie leisten könnte. Wohnungen kosten in Chinas Großstädten mehr als in Frankfurt oder London. Verkaufen will auch keiner – wer weiß, ob der Höhepunkt der Inflation schon erreicht ist.? Alle Beteiligten verharren in einer Angststarre: Die Immobilienpreise steigen und steigen, aber die Umsätze der Branche gehen ständig zurück. Jeden Tag wird ein Crash befürchtet. Apokalyptische Szenarien haben Hochkonjunktur: Mindestens so schlimm wie 2008 in den USA, orakeln die einen. Tausendmal schlimmer als in Dubai, schwören die anderen.

Auch an der Börse sind keine Gewinne mehr zu machen. Vergleicht man die Entwicklung der Aktienindizes Shanghai Composite und Dow Jones, so ergibt sich folgendes Bild: Zwischen Mitte 2010 und Anfang März 2012 ist der Index in Schanghai um 20 Prozent gefallen, in New York dagegen hat der Dow Jones im selben Zeitraum um gut 20 Prozent zugelegt. Selbst in Frankfurt stieg der DAX – trotz der Schuldenkrise in Europa – innerhalb von 15 Monaten um 16 Prozent. Chinesische Analysten schätzen, dass 80 bis 90 Prozent aller Kleinanleger Geld verloren haben; 2011 waren es im Schnitt über 4 000 Euro pro Kopf. Das entspricht einem Jahreseinkommen im teuren Hangzhou.

Nutzlose Konjunkturprogramme

Die chinesische Mittelschicht hat das fast schon groteske Gefühl, in einem ökonomisch aufsteigenden Land finanziell auf der Verliererseite zu stehen. Doch dieser Befund wird auch von Chinas Ökonomen bestätigt. Einige von ihnen diagnostizieren in der Fachzeitung China Securities (Zhongguo Zhengquan Bao) eine schier unglaubliche Geldschwemme. Sie haben ausgerechnet, dass in China von 2000 bis 2010 die für die Teuerung entscheidende Geldmenge M2 – Bargeld plus kurzfristige Spareinlagen, die schnell abgehoben und ausgegeben werden können – um sage und schreibe 450 Prozent zugenommen hat.

Zugleich ging die Effizienz des eingesetzten Geldes drastisch zurück: 2010 musste der chinesische Staat umgerechnet 180 Euro einsetzen, um zusätzliche Waren und Dienstleistungen im Wert von 100 Euro zu erwirtschaften. Zum Vergleich: Die USA brauchen nur 60 Euro an öffentlichen Mitteln, um ihr BIP um 100 Euro zu steigern; in Südkorea ist das Verhältnis 100 zu 100.

Das Warum ist unter Ökonomen umstritten. Die einen kritisieren, dass große Teile der nach Ausbruch der globalen Finanzkrise beschlossenen Konjunkturprogramme von insgesamt 4 Billionen Yuan (etwa 400 Milliarden Euro) nicht produktiv verwendet wurden. Vielmehr habe das Geld die Immobilienblase noch weiter aufgebläht. Andere verweisen darauf, dass sich die gigantischen Infrastrukturinvestitionen, etwa in Hochgeschwindigkeitszüge, erst in Jahrzehnten, wenn überhaupt auszahlen. Nur in einem sind sich die Experten einig: Wird das Geld nicht effizient eingesetzt, beschleunigt die Geldschwemme nur die beängstigende Inflation.

Für Pekings Geldpolitik ist dies ein vernichtendes Urteil. The People’s Bank of China, die chinesische Zentralbank, versucht seit zwei Jahren mit allen erdenklichen Methoden, die Geldmenge zu verknappen und so die Teuerung einzudämmen. Bereits zehnmal hat sie den Mindestreservesatz erhöht, der festlegt, wie viel Prozent ihrer Einlagen die Geschäftsbanken bei der Zentralbank hinterlegen müssen. Dadurch wuchs die Kreditvergabe 2011 nur noch halb so schnell wie im Vorjahr. Bisweilen stieg der Mindestreservesatz auf 21 Prozent.

Die weniger schöne Nebenwirkung: In den reichen Südprovinzen wie Jiangsu, Zhejiang und Guangdong kletterten private Kreditzinsen auf bis zu 100 Prozent. Für mittelständische Privatunternehmen, die nur so an frisches Geld kommen, bedeutet dies oft das Ende. Zeitweilig rissen ganze Zahlungsketten ab, so dass die Zulieferer ebenfalls in die Bredouille kamen. Viele Firmen mussten schließen. Nicht selten begehen die stolzen Bosse Selbstmord oder verschwinden auf Nimmerwiedersehen im Ausland. Laut einer Studie, die ein Schanghaier Forschungsinstitut Mitte 2011 veröffentlichte, denken 60 von 100 befragten chinesischen Milliardären daran, sich woanders niederzulassen: in den USA oder Kanada, zur Not auch in Australien.

Auch politisch bleibt die Kreditklemme nicht ohne Folgen. Je knapper die öffentlichen Gelder, desto zwingender wird der Staat die Kredite vorzugsweise an die Staatsgiganten vergeben. Diese gelten als Eckpfeiler der Volkswirtschaft, obwohl die Privatwirtschaft laut Statistik rund 55 Prozent zum chinesischen BIP beiträgt. Staatsunternehmen bekommen erschwingliche Kredite aber nicht selten, um ihre privatwirtschaftlichen Konkurrenten auszuschalten. Letztere erhalten eine Geldspritze häufig nur, wenn sie sich von Staatskonzernen schlucken lassen. Vor einem Vormarsch des Staatssektors gegenüber dem privaten Unternehmertum warnen daher liberale Ökonomen wie Andy Xie. Manche seiner Kollegen malen schon eine Rückkehr der Kommandowirtschaft an die Wand.

Die Privaten setzen sich kräftig zur Wehr. Viele zocken mit Immobilien, um ihren Einsatz schnell zurückzubekommen. Damit wachsen die Blasen nur umso schneller. Sind Privatfirmen knapp bei Kasse, leihen sie einander Geld, bestechen Beamte oder geben Schuldscheine aus. So entstehen Schattenbanken, die den staatlichen Banken mittels höherer Sparzinsen Kunden abwerben und durch Vermittlung illegaler Wertpapieremissionen die staatliche Börsenaufsicht unterlaufen.

Mittlerweile kann auch die offizielle Wirtschaft die Schattenbanken nicht mehr ignorieren. Laut der staatlichen Investmentbank China International Capital Corporation (CICC) vergeben sie Kredite in Höhe von rund einer Billion Euro, das ist ein Zehntel des gesamten Jahresvolumens. Die staatliche Aufsicht über die Geldversorgung droht damit hinfällig zu werden.

Auf all dies reagiert das offizielle Peking mit Panik, aber auch mit drakonischer Verfolgung. Anfang 2012 wurde die 31-jährige Privatunternehmerin Wu Ying in Zhejiang zum Tode verurteilt. Sie hatte mit einem Schneeballsystem umgerechnet 70 Millionen Euro eingesammelt. Das war kein Einzelfall: 2007 kamen in Zhejiang acht Privatunternehmer wegen „illegaler Kapitalsammlung“ ins Gefängnis, 2011 waren es schon 75. Von Januar bis September 2011 registrierte das chinesische Polizeiministerium über 1 300 Fälle von „illegaler Kapitalsammlung“. Bei solchen Zahlen muss die Staatsmacht passen: So viele Superreiche sind gar nicht effektiv zu belangen. Umso weniger, wenn korrupte Kader der Finanzkontrollbehörde selbst die Finger im Spiel haben.

Die monopolistische Staatsautorität wäre schnell verschlissen, sollten massenhafte Betriebsschließungen und Entlassungen zu größeren Unruhen führen. Darauf will es vor dem 18. Parteitag im Herbst 2012 niemand im Politbüro ankommen lassen. Daher wird jetzt im Staatsrat, der Zentralregierung, von einer partiellen Legalisierung des privaten Kreditwesens gesprochen. Das befürworten auch Wirtschaftsberater wie Mao Yushi mit dem Argument, Privatkredite seien selbst bei Wucherzinsen besser als Staatsdirigismus, der private Impulse ersticke.

Schon Ende 2010 hatte der Oberste Volksgerichtshof entschieden: Sofern privat eingesammelte Gelder normale Produktionsprozesse finanzieren, anstatt die Immobilienspekulation anzuheizen, und sofern die „illegalen Geldmakler“ das beschaffte Kapital zurückzahlen, seien die Schattenbanken nicht zu belangen. Diese Straffreiheit in bestimmten Fällen bedeutet eine verschämte Anerkennung seitens des Staats. Doch bleiben so zahlreiche Fragen offen: Wie kann die Kreditvergabe der privaten Banken gesteuert werden ohne eine obligatorische Mindestreserve, wie sie die staatlichen Banken halten müssen? Und wer entscheidet, bis zu welcher Höhe Wucherzinsen für private Kredite hinnehmbar sind? Aber wie die Produktionsprozesse ohne das privat gesammelte Kapital weiterlaufen sollen, weiß auch niemand richtig.

Selbst bei den Staatsunternehmen schafft das knappe und teure Geld Probleme. Und auch sie reagieren „antiautoritär“: Viele ignorieren die staatlichen Verbote und investieren weiter in den aufgeblähten Immobilienmarkt. Um ihren Kredithunger zu stillen, wenden sie sich nicht an die Schattenbanken, sondern gehen gleich an die Börse, mit Vorliebe an die Wall Street. Dabei profitierten sie bis vor Kurzem noch von der weltweiten Euphorie der Anleger über Chinas ökonomischen Aufstieg und die scheinbare Krisenresistenz des Landes. Doch schon 2011 fielen bei neun von zehn in New York notierten Aktiengesellschaften aus China die Kurse unter den Ausgabepreis. Einige Emittenten wurden durch die US-Börsenaufsicht sogar zum Rückzug gezwungen, wegen „Ungereimtheiten in der Bilanzierung“, wie es in der Presse hieß. Das staatliche Pekinger Nachrichtenportal www.ce.cn bezichtigte daraufhin Hedgefonds einer Verschwörung gegen China. An den internationalen Börsen jedenfalls ist die China-Euphorie verflogen.

Daran ändern auch imposante Eckdaten nichts – wie die mehr als 3 Billionen Dollar Devisenreserven, die der chinesische Staat angehäuft hat. Im Gegenteil. Über die Staatsreserve mit den 13 Nullen regen sich viele Bürger auf. Im Juni 2011 sorgte im Internet ein alter Vorschlag für Furore: Der Staat solle Teile seiner Reserven auflösen, um Finanzierungslücken bei den Staatsausgaben zu stopfen, etwa im schwächelnden Gesundheitswesen oder bei der schulischen Ausbildung, die für viele unerschwinglich geworden ist.

Die Antwort der staatlichen Devisenbehörde war eindeutig: Die 3,2 Billionen Dollar an Devisenreserven gehörten keineswegs allen Chinesen. Der Staat habe schließlich die Devisen – zu denen immer mehr Euro und Yen gehören – für frisch gedruckte Yuan erstanden, und zwar von ausländischen Direktinvestoren, die Devisen für den Bau von Fabriken nach China brachten, und von den chinesischen Exporteuren, die ihre Devisenerlöse an die Staatskasse verkaufen müssen. Auf diese Erklärung erfolgte im Internet eine millionenfache Schelte: Was ist das für ein Staat, der Reichtum hortet, Inflation schürt und die eigenen Bürger im Stich lässt?

Das Ganze ist allerdings auch eine Scheindebatte. Denn wer über das viele Geld verfügen kann, ist nicht so klar, wie beide Seiten es gern hätten. Die chinesische Währung mit dem offiziellen Namen Renminbi ist nicht frei konvertierbar. Alle Transaktionen durch die Zentralbank unterliegen einer staatlichen Devisenkontrolle. Aufgrund internationaler Abkommen ist China jedoch verpflichtet, bei Bedarf Investitionen aus dem Ausland an die Geldgeber samt Gewinnen zurückzuzahlen – und zwar in frei konvertierbarer Währung. Auch die Dollareinlagen, die etwa reiche Auslandschinesen in China anlegen, gehören keineswegs den Staatsbanken.

Das Defizit in der Staatskasse ist gewaltig gewachsen

Und selbst gegenüber den chinesischen Exporteuren, die ihre Deviseneinnahmen bei der Zentralbank in Yuan umtauschen müssen, ist der Eigentumsanspruch des Staates durchlöchert. Denn zwei Drittel der chinesischen Exporte werden von Joint Ventures abgewickelt, und die ausländischen Partner dieser Unternehmen sind berechtigt, sich ihren Anteil an den Erlösen in Devisen auszahlen zu lassen. Und keinerlei Zugriff hat der chinesische Staat auf das Hotmoney des Spekulationskapitals, das weltweit nach Profiten jagt und allen Kontrollen zum Trotz massiv nach China strömt – und im Krisenfall vermutlich ebenso schnell wieder hinaus.

Welches Volumen diese „heißen Gelder“ haben, darüber verraten amtliche Quellen kaum Verlässliches. Nur im Juni 2008, kurz bevor die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers die internationale Finanzkrise einläutete, veröffentlichte die chinesische Akademie für Sozialwissenschaften (Cass) in Peking eine einschlägige Studie. Demnach strömten von 2003 bis 2008 so viele spekulative Gelder nach China, dass sie 104 Prozent der damaligen chinesischen Devisenreserven von rund 1,7 Billionen Dollar entsprochen hätten. Kurz darauf wurden diese Angaben von Hu Xiaolian, dem Direktor der Staatsbehörde zur Verwaltung der Devisenreserven bestätigt. Demnach seien allein im Juli 2008 rund 74,5 Milliarden Dollar ins Land geflossen.

Als Anreiz für die ausländische Spekulanten benannte Hu damals das „Ansteigen des Wechselkurses des Renminbis zum Dollar und des Zinsniveaus auf dem chinesischen Kreditmarkt“. Beide Anreize haben sich seither noch verstärkt. Der Renminbi legte bis 2011 schon über 10 Prozent gegenüber dem US-Dollar zu. Und das Zinsniveau lag in China zeitweise 40-mal höher als in den USA, wo die Notenbank mit immer neuen Zinssenkungen gegen die Folgen der Finanzkrise ankämpfte.

Trotz sinkender Zuwachsraten beim globalen Handelsaustausch und weltweit rückläufiger Direktinvestitionen sind Pekings Devisenreserven binnen zweier Jahre um 1,6 Billionen Dollar angewachsen. Das nährt einen schlimmen Verdacht. Wie Li Xunlei, Chefökonom der Guotai Junan Securities, und Liu Yuanchun, Vizerektor des College für Wirtschaftswissenschaften an der Volksuniversität, berechnet haben, sind Chinas Devisenreserven in den ersten drei Monaten 2011 um 200 Milliarden Dollar angewachsen. Die Exporte können dazu nichts beigetragen haben, denn im selben Zeitraum wies Chinas Handelsbilanz ein Defizit auf. Und die Direktinvestitionen aus dem Ausland beliefen sich auf nur 20 Milliarden Dollar. Fazit: Über 80 Prozent des Zuwachses bestehen aus Hotmoney.

Inzwischen befürchten immer mehr chinesische Ökonomen, wie etwa der angesehene Wirtschaftsprofessor Hu Angang, dass die übergroßen Devisenreserven Chinas Geldpolitik untergraben. Denn anders als bei frei konvertierbaren Währungen muss Chinas Zentralbank für jeden ankommenden Dollar mehr als sechs Yuan drucken, egal was diese Gelder im Lande treiben (also zum Beispiel zur spekulativen Immobilienblase beitragen).

Hier zeigt sich immer deutlicher ein Absurdum, das die Bürger gleichermaßen betrifft wie den Staat: Es vagabundiert wahnsinnig viel Geld umher, aber das nützt keinem etwas. Angehörige der chinesischen Mittelschicht wie Wang Pei, die mit ihrem Preisvergleich auf Facebook die Inflation fassbar machte, können davon ein Lied singen. Immer mehr von ihnen zahlen immer mehr fürs (Über)leben. Im Vergleich etwa mit den USA verdienen sie real, also inflationsbereinigt, immer weniger und haben immer größere Probleme, sich finanziell abzusichern.

Das ist symptomatisch für den ganzen Staat. Die Staatsverschuldung wächst rasant, obwohl die Wirtschaft boomt und die Steuerquellen sprudeln. Was unter anderem daran liegt, dass die Regierung 2008 und 2009 gigantische Konjunkturprogramme aufgelegt hat, um der globalen Finanzkrise entgegenzusteuern, und sich zunehmend genötigt sieht, soziale Ausgleichsprogramme zu finanzieren. Die Sozialwissenschaftler der Pekinger Akademie Cass beziffern den Zuwachs der Staatseinnahmen 2011 gegenüber dem Vorjahr auf über 25 Prozent, also auf das Dreifache des Wirtschaftswachstums.

Im März 2012 musste Premier Wen Jiabao dennoch verkünden, dass sich das Haushaltsdefizit dieses Jahr gegenüber 2011 um volle 40 Prozent vergrößern wird. Dabei sind die Löcher in den Sozialkassen nicht einmal berücksichtigt. Allein die Rentenkasse weist eine Lücke von über 1 Billion Yuan (rund 100 Milliarden Euro) auf. Hinzu kommt die Verschuldung der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, die oft hohe Kredite für Infrastrukturprojekte aufgenommen haben. Sie hofften vergeblich, ihre Defizite durch den Verkauf von Grund und Boden zu finanzieren, weil sich immer weniger Investoren an Immobilien herantrauen.

Der Rechnungshof hat für 2011 eine regionale Verschuldung von über 10 Billionen Yuan oder 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ermittelt. Skeptiker vermuten, dass die gesamte staatliche Verschuldung Chinas inzwischen auf dem Niveau von Italien angelangt ist, dessen Schuldenberg rund 120 Prozent des BIPs ausmacht. Und das Wachstum der öffentlichen Schulden verläuft schneller als das rasante Wachstum des BIPs.

Das erklärt, warum die chinesische Regierung so große Angst hat, Wachstumsraten von weniger als 8 Prozent zu melden. Sie brauch die Mehreinnahmen, die aus dem Wirtschaftswachstum resultieren, um ihr Haushaltsdefizit halbwegs unter Kontrolle zu halten. Doch auch hier droht Ungemach. Anfang 2012 verkündete Ministerpräsident Wen Jiabao vor dem Parlament, seine Regierung strebe im laufenden Jahr ein Wachstum von 7,5 Prozent an. Das wäre eine Verlangsamung des BIP-Zuwachses um 1,7 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr – wenn es dabei bleibt.

Selbst ein Krisenland wie Italien hat womöglich bessere Chancen, sein Schuldenproblem in den Griff zu bekommen. Denn die Inflationsrate in Europa liegt ausgesprochen niedrig, und als stärkste Wirtschaftszone der Welt hat die EU noch einigen fiskalpolitischen Spielraum. Chinas Staatslenker dagegen würden – angesichts (real) zweistelliger Inflationsraten und eines nach wie vor unkontrollierbaren Zuflusses von spekulativem Hotmoney – in Teufels Küche kommen, wenn sie die Geldhähne wie beim Ausbruch der globalen Finanzkrise erneut kräftig aufdrehen.

Während Europa mit dem vereinbarte Fiskalpakt samt gesetzlicher Schuldenbremse gerade ein starkes Signal kollektiver Selbstdisziplinierung gesetzt hat, geschieht im Fernen Osten das Gegenteil: Die chinesische Zentralregierung erlaubt, entgegen der eigenen Verfassung, den ohnehin tief verschuldeten Provinzen die Ausgabe eigener Anleihen. Damit gibt die Zentrale, wie schon beim Kampf gegen die Schattenbanken, alle Instrumente aus der Hand, mit denen sie ein finanzielles Chaos verhindern könnte.

Für dieses Chaos sind vor allem gierige Regionalfürsten verantwortlich, die laut Rechnungshof schon seit Längerem – hinter dem Rücken und zulasten Pekings – astronomische Schulden angehäuft hatten. Dabei ist nicht mal sicher, ob die neue, riskante Geldbeschaffungsmaßnahme überhaupt etwas bringt. Schon jetzt mussten mehrere arme Provinzen erleben, dass ihre Schuldscheine gleich nach der Emission an den Nationalbörsen in Shenzhen und Schanghai unter dem Ausgabepreis gehandelt werden. Könnte es also sein, dass die Bonität zumindest einiger chinesischer Regionen bereits auf das Niveau von Griechenland gesunken ist?

Shi Ming ist freier Journalist aus China. Er lebt in Freiburg. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.04.2012, von Shi Ming