13.04.2012

Idiotenspiel

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Idiotenspiel

von Hartmut Rosa

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Auf den ersten Blick scheint die Sache klar zu sein: Die spätmoderne kapitalistische Gesellschaft erzeugt systematisch Gewinner und Verlierer, und sie lässt die Gewinne der Sieger ebenso wie die Verluste und Leiden der Verlierer immer größer werden. Folglich tut die politische Linke gut daran, ebendiese Verteilungslogik zum Hauptgegenstand ihrer Kritik zu machen. Und die faktischen Verhältnisse drängen diese Kritik ja auch unmittelbar auf: Die öffentliche Diskussion konzentriert sich derzeit auf das unbestreitbare Skandalon, dass die Gehälter der Spitzenmanager in Deutschland inzwischen das 400-Fache des einfachen Angestellten oder Arbeiters betragen – und geradezu explodieren, während die Reallöhne am unteren Einkommensende schrumpfen. Klarer Fall, Attacke?

Irrtum. Tatsächlich ist es so, dass die unheilvolle Konzentration der politischen Linken auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit niemand anderem als dem neoliberalen Gegner in die Hände spielt und das unheilvolle Spiralsystem, welches jener betreibt, in Gang zu halten hilft.

Wie das? Werfen wir zunächst einen Blick auf die Sieger des neoliberalen Gewinnspiels. Beginnen wir mit den Abschöpfern in Japan: „Nippons kranke Manager“ titelte jüngst die Süddeutsche Zeitung – und verwies darauf, dass in Japan die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1945 deutlich und kontinuierlich angestiegen ist, bei den ökonomischen Eliten aber seit 1990, also seit dem Beginn des neoliberalen Zeitalters, kontinuierlich sinkt. Seit 2000 habe das Mortalitätsrisiko der Führungskräfte um 70 Prozent zugenommen. Auch bei der Suizidrate liegen Manager an der Spitze; seit 1980 ist sie um 271 Prozent gestiegen. Selbst ihren Sprösslingen scheint es nicht viel besser zu gehen: Die Zeit berichtet von einer stressbedingten Selbstmordwelle unter Studenten einer südkoreanischen Eliteuniversität.

Na gut, Asien, mag die skeptische Leserin hier einwenden. Wie sieht es in Europa aus? Instruktiv hierfür ist der Fall von France Télécom: Der Konzern verordnete sich unter dem Slogan „Time to move“ ein Dynamisierungsprogramm, das die Führungskräfte alle drei Jahre zwangsversetzte. So sollten sie offen für Neues, flexibel, innovativ und kreativ bleiben und „Verhaftungen“ mit Personal, Routinen, Sozialräumen etc. vermeiden. Das Ergebnis: Allein zwischen März 2008 und März 2010 nahmen sich mindestens 41 Konzernangestellte das Leben, viele weitere versuchten es, bis schließlich die französische Justiz wegen „fahrlässiger Tötung“ gegen das Unternehmen ermittelte. Wie es bei den überlebenden Gewinnern, im raffgierigen Zentrum des Finanzmarktkapitalismus aussieht, machte jüngst der bei Goldman Sachs ausgestiegene Spitzenmanager Greg Smith in der New York Times deutlich: Er verlasse ein Unternehmen, dessen Klima an der Führungsspitze so vergiftet, destruktiv, zynisch und menschenverachtend sei, dass es ihn buchstäblich krank mache. Man muss gar nicht erst das Reiz- und Modethema „Burnout“ bemühen, um sich zu fragen: Sehen so Sieger aus?!

Im Grunde ist es doch offensichtlich: Ein Spiel, das solche Gewinner erzeugt, ist idiotisch und ungesund, es macht über kurz oder lang alle zu Verlierern. Man sollte es so schnell wie möglich beenden. Doch dazu kommt es nicht, weil die Spielregeln (wie bei jedem Spiel) nicht nur Gewinner und Verlierer definieren und die Verhaltensweisen und Strategien bestimmen, sondern zugleich die zugehörigen Muster von Angst und Begehren als psychische Antriebsenergien erzeugen. Das Spiel selbst bestimmt, worauf die Akteure hoffen, wovon sie träumen und wovor sie sich fürchten.

Das ist im Kapitalismus nicht anders als beim Mensch-ärgere-dich-nicht: Man hat Angst, aus dem Rennen geworfen zu werden, zurückzufallen, man hofft, sich an die Spitze setzen oder wenigstens ein paar Plätze aufrücken zu können, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Diese simple Spiellogik kann unglaubliche Leidenschaften entfachen, die erst dann verschwinden und sich relativieren, wenn man dem Spielbrett den Rücken kehrt. Die Linke jedoch fixiert alle Energien auf das Spielbrett: Die Abstände vergrößern sich! Die Manager haben nur Fünfer und Sechser auf dem Würfel! Sie haben viel mehr Männchen! Sie würfeln zweimal! Sie haben Schaum vor dem Mund!

Das ist alles richtig, und es ist kein harmloses Spiel, das hier gespielt wird, sondern eins auf Leben und Tod. Aber es gibt zwei Probleme mit ihm: Erstens, die Spielregeln sind ungerecht, die Gewinnchancen ungleich verteilt. Das ist das Problem der Gerechtigkeit, ein gewaltiges Problem für alle, die dem Feld hinterherlaufen müssen. Zweitens, es ist ein idiotisches Spiel, weil es keinerlei erkennbares Ende hat. Das ist das Problem der Entfremdung: Auch solche, die schon 20, 40 oder 400 Männchen im Ziel haben, werden weiter von den gleichbleibenden Angst- und Begehrensmustern angetrieben.

Sie spielen, auch wenn es sie selber ruiniert, sie spielen, auch wenn es ihre Familien zerstört, ihre Kinder in den Selbstmord oder Burnout treibt, die sozialen Bande untergräbt, die ökologischen Grundlagen unseres Lebens vernichtet. Deshalb wäre es höchste Zeit für die Linke, den Motivationsstecker zu ziehen. Die Sieger sind gar keine Sieger. Es sind armselige, raffgierige, orientierungslose Süchtige, die ein unabschließbares Steigerungsspiel betreiben: Wachstum, Reichtum, Beschleunigung, Innovationsverdichtung. Dieses Spiel braucht gewaltige und immer größere kulturelle Antriebsenergie. Die wird ihm zugeführt durch eine politische Position, die den einen permanent einhämmert: Ihr seid die Sieger! Ihr seid die Gewinner! Ihr habt ein gutes Leben! Verteidigt euren Vorsprung! Bleibt oben! Der Kampf ist hart! Und den anderen: Ihr seid die Betrogenen! Ihr kommt zu kurz! Fordert mehr Männchen!

Wer so argumentiert und damit Wahlkämpfe führt, betreibt das Geschäft eines Neoliberalismus, der um alles in der Welt auf Wirtschaft, Wachstum und Wettbewerb setzt. Denn dieser Neoliberalismus hat aus sich selbst heraus keinerlei kulturelle Ressourcen, um das aberwitzige, selbstzerstörerische Steigerungsspiel mit Motivationsenergie zu versorgen. Er tut so, als sei der immer härtere Wettbewerb eine naturgegebene Tatsache; aber er verfügt über keine Erzählung, kein Wertesystem, das ein Sehnsuchtsziel für das menschliche Handeln, eine Idee des gelingenden Lebens zu definieren vermöchte. Das tut die Linke für ihn, und sie tut es deshalb im Sinne des Steigerungsspiels, weil es für das Problem der Gerechtigkeit harte und eindeutige Zahlenbelege gibt, für das Problem der Entfremdung aber nur vage Gegenkonzepte eines anderen, eines wirklich guten Lebens.

Vor diesen scheut die politische Linke zurück, weil sie damit – etwa in den 1970er Jahren – schlechte Erfahrungen gemacht hat: Sie provozieren Streit, sind kaum je mehrheitsfähig, und sie erzeugen Angst davor, dass uns wieder jemand vorschreiben könnte, wie wir zu leben haben – als ob das Steigerungsspiel nicht genau das ohnehin täte.

Natürlich wissen die Protagonisten der Mehrheitslinken, dass das Spiel insgesamt pervers ist. Aber sie glauben, dass zuerst die Gerechtigkeitslücke geschlossen werden müsse, bevor über die Zielsetzung als solche ernsthaft verhandelt werden könne: Erst wenn alle ungefähr gleich viele Männchen im Spiel oder im Ziel haben, könne man über den Sinn des Spiels streiten. Dass sich das Gerechtigkeitsproblem viel leichter und vielleicht von selbst lösen ließe, wenn die kulturelle Energiezufuhr gekappt würde und die Spieler den Unsinn ihres Tuns mit nüchternen Augen erkennen könnten – das könnte die Linke vom frühen Marx lernen.

Der Kapitalismus beziehungsweise das Privateigentum, schreibt Marx in den frühen Pariser Manuskripten, sei nicht etwa die Ursache, sondern schon „das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst“, es ergebe sich „aus dem Begriff des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen“. Das aber heißt: Die Ungerechtigkeit resultiert aus der Entfremdung, daher gibt es gute Gründe für die Hoffnung, dass sie mit ihr auch verschwindet. Wenn das Spiel zu Ende ist, fällt es dem Sieger leicht, die erbeuteten Männchen herzugeben.

Kein Mensch braucht das 400-Fache seines Nachbarn. Wenn sich Angst und Begehren vom Spielbrett lösen und wieder den Grundfragen des Lebens zuwenden, werden wir auch neue Verteilungsregeln finden. Das aber bedeutet: Erst wenn die Linke die Frage nach der Entfremdung und ihrem Gegenteil, dem gelingenden Leben, zu ihrem ureigentlichen Thema macht, löst sie sich aus dem unheilvollen Pakt mit dem Neoliberalismus und zieht den Stecker für dessen selbstzerstörerisches Steigerungsspiel.

Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie an der Universität Jena. Zuletzt erschien von ihm: „Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.04.2012, von Hartmut Rosa