11.07.2024

Annexion unter der Hand

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Annexion unter der Hand

von Jakob Farah

Dass Israels rechtsextremer Finanz­minister Bezalel Smotrich eine Rede in einer Siedlung im besetzten Westjor­danland hält, ist nicht ungewöhnlich. Er genießt das eher, denn dort trifft er auf die Seinen, dort ist er zu Hause. Auch möchte Smotrichs ­Klientel regelmäßig darüber unterrichtet werden, was er im Kabinett Netanjahu für die Sache der Siedler erreicht hat.

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Genau darum ging es, als Smot­rich am 9. Juni bei einer Veranstaltung seiner Nationalreligiösen Partei Rechenschaft ablegte; nicht zufällig auf der Schaharit-Farm, einem Außenposten westlich der Siedlerstadt Ariel. Die rund 100 Zuhörer dürften zufrieden gewesen sein, denn der Minister berichtete über die Schritte der Regierung in Richtung einer De-facto-Annexion des Westjordanlands.

Was konnte Smotrich melden? Innerhalb der dem Verteidigungs­ministerium unterstehenden Verwaltung für die besetzten Gebiete werden immer mehr Kompetenzen an zivile Mitarbeiter übertragen. Die aber unterliegen der Aufsicht von Smotrich, denn der Finanzminister hat einen zweiten Job als „weiterer Minister“ im Verteidigungsministerium – mit Zuständigkeit für den Sied­lungsbau im Westjordanland.

„Wir haben ein paralleles ziviles System errichtet“, verriet Smotrich seinen Siedlern. Das sei im bestehenden internationalen und rechtlichen Kontext „leichter zu schlucken“. Niemand solle sagen können, „dass wir hier eine Annexion vornehmen“. Im Klartext: Die israelische Regierung etabliert unter der Hand eine auf Dauer angelegte Zivilverwaltung, die nur noch pro forma dem Militär unterstellt ist. Das ist der nächste völkerrechtswidrige Schritt auf dem Weg zur Annexion des Westjordanlands.

Smotrich war schon immer ein Annexionist. Aber wenn er jetzt verkünden kann, dass sein Chef Netanjahu „voll hinter uns“ steht, ist eine neue Qualität erreicht. Die zeigt sich auch darin, dass Smotrich als Finanzminister die Demontage der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) betreibt, indem er Gelder zurückhält, die die PA dringend für die Bezahlung ihres Personals benötigt. Offenbar sollen die von der PA verwalteten Zonen des Westjordanlands vollends im Chaos versinken. Ein Zusammenbruch der PA, die ein Mindestmaß an Ordnung aufrechterhält, könnte als Rechtfertigung dafür dienen, dass die israelische Armee in die palästinensischen Bevölkerungszentren einrückt und den Prä-Oslo-Zustand wiederherstellt. Die Folgen wären verheerend.

All dies macht deutlich: Die frühere Netanjahu-Strategie für das Westjor­danland – den Siedlungsbau vorantreiben, den Weg zu einem palästinensischen Staat blockieren, die PA lediglich als „Sicherheitspartner“ benutzen, mit dem sich der Konflikt besser „managen“ lässt – dieser Ansatz ist überholt. Das Ruder hat die radikale Siedlerbewegung übernommen, die ihre rassistischen Großisrael-Pläne – from the River to the Sea – vorantreibt. Und das ganze Land womöglich in den Abgrund stürzt.

Dieser Entwicklung sehen Israels Partner im Westen weitgehend untätig zu. Weder in Washington noch in Berlin nennt man die rechtsradikale Expansionsstrategie der Netanjahu-Regierung beim Namen. Man beschränkt sich auf symbolische Sank­tio­nen gegen ein paar Siedlerführer und mahnende Worte über die Zweistaatenlösung, die Tel Aviv geflissentlich ignoriert. Selbst der Rat von Freunden bewirkt bei dieser Regierung offensichtlich – nichts.⇥Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Jakob Farah