11.07.2024

Brief aus Manaus

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Brief aus Manaus

von Harriet Rix

Teatro Amazonas in Manaus paralaxis/alamy
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Am Anfang von Werner Herzogs Film kommt Fitzcarraldo zu spät zur Galavorstellung im Teatro Amazonas in Manaus. Da hat er 1900 Kilometer hinter sich, gestartet war er im peruanischen Iquitos auf dem Rio Solimões, wie der Oberlauf des Amazonas auch genannt wird. Selbst wenn der Motor des Boots den Geist nicht aufgegeben hätte und er nicht zwei Tage hätte paddeln müssen, wäre er zwei Wochen unterwegs gewesen.

Als ich selbst Anfang dieses Jahres – ebenfalls zu spät – zu einer Vorstellung im Teatro Amazonas kam, hatte ich über 950 Kilometer auf dem Rio Negro zurückgelegt, der in Kolumbien entspringt und in Manaus in den Amazonas mündet. Das Express-Motorboot, das ich genommen hatte, hatte 29 Stunden gebraucht, inklusive einer kurzen Zwangspause zur Behebung eines Motorschadens; für die Rückfahrt flussaufwärts mit einem langsamen Boot brauchten wir dann fünf Tage.

Obwohl Manaus 1600 Kilometer von der Küste entfernt liegt, ist der Fluss hier bereits so breit und tief, dass der Hafen für ozeangängige Schiffe taugt. Am Zusammenfluss von Rio Solimões und Rio Negro, dargestellt auf dem Vorhang des Teatro Amazonas mit Girlanden, Blumenschmuck und Iara, der Sirene aus der Tupi-Mythologie, traf die Produktivität des Regenwalds auf den Seehandel und machte – vor allem während des Kautschukbooms – einige Leute sehr, sehr reich.

Das Opernhaus von Manaus spross in dieser Phase, zwischen 1880 und 1900, wie ein rosiger Zauberpilz aus dem Regenwald. Und wie ein Pilz die Feuchtigkeit saugte es die Arbeitskraft der Menschen im Umkreis auf: verkaufte Afrikaner:innen, versklavte Indigene.

Den Löwenanteil der Bausumme verschlag der exotische Europa-Touch: Marmor aus Carrara und Kronleuchter aus Murano-Glas, selbst der Architekt Ce­lestial Sacardim stammte aus Italien; dazu gusseiserne Säulen aus Glasgower Stahl, Elsässer Kacheln für die Kuppel in den Farben der neuen brasilianischen Flagge: Grün, Gelb und Blau.

Ich eilte die geschwungene Treppe hinauf vorbei an ornamentalen Palmfarnen und trat durch die weit geöffneten Türen. Ohne Ticket – die Vorstellung war gratis. Ein junger Mann in schwarzem T-Shirt wies mir den Weg.

Überall um mich liefen junge Leute in ihren Zwanzigern in kurzen Hosen, T-Shirts und enganliegenden Kleidern herum, umgeben von den Geistern tausender uralter Hartholzbäume: Flip-Flops und Sandalen schlappten über Fußböden aus hellem Garapa mit Streifen aus dunklem Gombeira; im ersten Rang saß das Publikum vor Wandbespannungen aus pinkfarbenem Seidendamast auf Sesseln aus Rattan und Gombeira und unterhielt sich angeregt.

In den Empfangssälen im ersten Obergeschoss blicken die von dem italienischen Künstler Domenico de Angelis gemalten Putten von der Decke auf einen von unbekannten Händen verlegten Parkettboden aus Ama­ranth­holz, Pernambuk und Jarana herab. Hinter einer Säulenreihe aus Carrara-Marmor sind auf Wandmalereien Jaguare, Paranussbäume und heimische Açaí­palmen zu sehen, daneben das fächerartige Laubwerk des aus Madagaskar stammenden „Baums der Reisenden“ (Ravenala madagascariensis). Ein Gewächs, das hier – über 14 000 Kilometer von seiner Heimat entfernt –nur geringe Überlebenschancen hat.

Durch die offenstehenden Mahagonitüren zum Balkon sah ich junge Leute plaudern und lachen. Ich entdeckte eine leere Loge und schritt über einen knarzenden Jatoba-Fußboden zu einem mit rotem Samt bespannten Palisander­sessel.

Um auf die – aus Teakholz gefertigte – Bühne zu schauen, hält man sich an einer der berühmten schwingenden Säulen fest und stützt sich auf eine Brüstung aus Duraka-Holz, die mit rotem Samt überzogen ist. Die Duraka ist ein hochwüchsiger Baum, der einzig in einem sehr kleinen, flussaufwärts gelegenen Waldgebiet gedeiht.

Eine Gruppe junger Einheimischer betrat meine Loge; ich wollte gehen, aber sie bestanden darauf, dass ich blieb. Die Saalbeleuchtung erlosch, das Publikum wurde still. Es ging los.

Der Vorhang hob sich – und enthüllte eine Leinwand mit der Videobotschaft des Intendanten: Er redete über die Sanierung des Opernhauses, seine Funktion als Begegnungsort; über die Coronapandemie, die die Stadt in ein Leichenhaus verwandelt hat – und von der Freude, als es endlich wieder möglich war, sich persönlich und in Gruppen zu treffen. Manaus war besonders schwer von der Pandemie betroffen, bereits im April und Mai 2020 mussten Massengräber ausgehoben werden, ­Anfang 2021 kollabierte das Gesundheitssystem, nachdem schon zuvor nicht einmal mehr Sauerstoff für Schwerkranke zu Verfügung gestanden hatte.

In der Tiefe der Bühne nahmen Musikerinnen und Musiker ihre Plätze ein: Die Amazonas Band, im Jahr 2000 mit staatlichen Geldern gegründet, spielte Bigbandjazz, aufgepeppt mit Sambarhythmen und traditioneller indigener Tanzmusik. Das Publikum in Parkett blieb sitzen, aber in den Logen wurde mit den Füßen gewippt und mit den Schultern gewackelt, schließlich tanzte in der goldverzierten Loge, die in den 1890ern Gouverneur Eduardo Gon­çalves Ribeiro vorbehalten gewesen war, eine junge Frau in rotem Kleid mit ihrem kleinen Sohn.

Es wurden Songs wie „Love Dance“ und „Paisagem Brasileira“ gespielt. Zu den jungen Leuten in meiner Loge stießen mehr und Freunde, also zog ich um und probierte es mit einer leeren Loge auf der anderen Seite des Saals. Ein vielleicht 14-jähriges Pärchen trat aus dem Dunkel mit geröteten Gesichtern, ich wurde meinerseits rot, ließ die beiden allein und fand eine Loge direkt vorn an der Bühne, die dunkel, staubig und bis auf eine Unmenge Kabel leer war.

Auf unheimliche Weise war hier die erdrückende Last von tausend toten Bäumen zu spüren. Also schlich ich zu meinem alten Platz zurück. Von dort kamen mir meine neuen Freunde entgegen, sie wollten etwas essen gehen und luden mich ein, mitzukommen, aber ich entschied mich fürs Bleiben.

Die Trompeten schallten, die Gitarren rollten.

Gegen den großen Sog des Amazonas und die gesamte Kultur, die zu ihm gehört, steht das Opernhaus von Manaus wie ein importierter Steinblock, Sinnbild des extraktivistischen Brasi­liens. Es gib hier, im Bundesstaat Amazonas, nach wie vor den schmerzhaften Riss, die Trennlinie zwischen denjenigen, die die Schätze aus der Erde holen, und denen, die in den von der Natur gegebenen Grenzen leben wollen.

Weiter oben am Fluss hatte mir eine Botanikerin, die der indigenen Gruppe der Baré angehört, die schrägen Kerben in den Kautschukbäumen gezeigt. Sie waren vor vielleicht 30 Jahren hineingeschlagen worden und inzwischen wieder mit einer dünnen Rindenschicht überzogen. Sie schnitt mit einer Machete eine neue Wunde in den Baum und zeigte mir, wie die Latexmilch austritt und sich langsam in einer Schale sammelt.

Vor 3000 Jahren wurde aus Kautschuk ein Ball hergestellt, der den Boden nicht berühren sollte, für ein in den Städten der Maya wichtiges Spiel und auch bedeutsam als Ritual. Und der französische Ingenieur François Fres­neau berichtete 1734, wie die indigene Bevölkerung des heutigen Französisch-Guyana Kautschuk als Abdichtmittel benutzte.

Für die Europäer war Gummi zu Beginn nur ein weiteres Spielzeug aus der Neuen Welt, aber dann avancierte es zu einem wichtigen Material der modernen Stadt. Menschen aus dem ganzen Staat Amazonas wurden mit Drohungen, Bestechung und durch Versklavung zur Kautschukernte gezwungen. Die Latexmilch wurde vulkanisiert (mit Schwefel vermengt und über dem Feuer geräuchert), in alle Welt verschifft und zu aufblasbaren Reifen gebläht, die das Rad revolutionierten.

Manaus wurde zur Boomtown, die arme Bevölkerung aus dem Herzen der Stadt verdrängt. Doch nach dem Kaut­schuk kam der Absturz. Das Teatro Amazonas schlief, verschiedene Versuche, es wiederzubeleben, missglückten. Mit der großen Aufregung um Werner Herzogs opernhaften Film 1982 erwachte neues Interesse, vor allem in Europa; das Haus wurde restauriert, aber bei der Neueröffnung 1990 kam es zu massiven Protesten: „Für diese Einweihung hat das Volk bezahlt, aber das Volk muss draußen bleiben“, schimpften die Demonstrierenden. Nach zwei Wochen musste das Teatro Amazonas wieder geschlossen werden.

Heute erlebt Manaus einen ­neuen Boom – Steuererleichterungen für die produzierende Industrie lockten Microsoft, Samsung und Sony an. Mit dem Boom kamen auch die Im­mo­bilien­entwickler und griffen zu. Schwimmende Favelas werden beseitigt, die zerfallenden Belle-Époque-Häuser ­abgerissen und Neubauten hochgezogen.

Das Pflaster rund um das Teatro Amazonas, das seit 1997 wieder regelmäßig bespielt wird, ist bis heute schwarz, es ist aus Kautschuk, der die Verkehrsgeräusche dämpft. Mir scheint, dass das Opernhaus heute in einer Kultur gedeiht, die dem manischem Individualismus und der blinden Besessenheit eines Fitzcarraldo diametral entgegengesetzt ist. Der kostenlose Eintritt, das junge Publikum und staatliche Gelder machen diese rosa Pustel zu einem Teil der pulsierenden Kultur dieser Stadt. Touristen, die aus über 1600 Kilometern angereist waren, gab es jedenfalls nur wenige.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Harriet Rix ist Biochemikerin, Journalistin und Beraterin der NGO The Tree Council.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Harriet Rix