11.07.2024

Falsche Fische

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Falsche Fische

Die Folgen der Klimakrise im Mittelmeer

von Stefano Liberti

Fischer auf den Kerkenna-Inseln Francesco Bellina
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An seine erste Begegnung mit einem Rotfeuerfisch kann sich der 60-jährige Fotis Gaitanos noch lebhaft erinnern. Über zehn Jahre ist das her: „Als ich die Netze einholte, entdeckte ich auf einmal dieses sonderbare Geschöpf. Zurück an Land, habe ich die Behörden verständigt.“ Der Fisch kam in ein Aquarium und wurde als seltene Spezie beforscht. „Heute muss ich lachen, wenn ich daran denke“, sagt der zypriotische Fischer. Schon wenig später zählte das unbekannte Wesen zu den weitverbreitetsten Fischarten in diesem Teil des Mittelmeers.

Es ist noch dunkel, als wir das Fischfanggebiet erreichen, wo Gaitanos am Abend zuvor seine Netze ausgeworfen hat. Das Meer ist ruhig, die Luft mild. Bei Sonnenaufgang wirft der Fischer die Seilwinde an und beginnt die Netze an Bord zu hieven. „Da ist ein Rotfeuerfisch.“ Gaitanos zeigt auf ein rot-schwarz-gestreiftes Tier mit stacheliger Rückenflosse.

Der Fischer greift mit einer mechanischen Geste zur Schere und schneidet die Stacheln ab. „Die entfernt man am besten sofort. Sie sind giftig.“ Kurz darauf zieht er ein unansehnliches Wesen aus dem Netz. Seine schleimige Haut ist mit dunklen Flecken übersät, sein Körper erinnert an einen aufgeblasenen Ballon. Kaum aus dem Wasser, gibt es einen gutturalen Laut von sich, der sich beinahe klagend anhört. „Das ist ein Hasenkopf-Kugelfisch. Er ist extrem gefräßig und frisst quasi alles.“

Eine Stunde später liegen Fische unterschiedlichster Gestalt und Farbe auf dem Deck. Gaitanos nennt ihre Namen: Kaninchenfisch, Rotfeuerfisch, Glatter Flötenfisch, Kugelfisch – man wähnt sich in einem Aquarium voller Exoten. „Bis vor ein paar Jahren hatte ich noch nie einen dieser Fische gesehen. Mittlerweile bin ich Experte für tropische Meerestiere“, sagt er. „Früher fischten wir zu dieser Jahreszeit nach Kalmaren. Die gibt es nicht mehr. Sie wurden von den fremden Arten verdrängt.“

Gaitanos ist einer der wenigen noch aktiven Fischer in der Hafenstadt Larnaka an der südlichen Küste Zyperns. Seit 40 Jahren fährt er jeden Tag – außer bei Sturm – am späten Nachmittag mit seinem Boot hinaus und sucht sich unweit der Küste eine Stelle, wo er seine Netze auswirft, um sie im nächsten Morgengrauen wieder einzuholen. Seit 40 Jahren erlebt er mit, wie das Meer sich von Grund auf verändert, die Strömungen sich verlagern und neue Arten auftauchen, die die einheimischen Fische verdrängen – und wie sein Einkommen immer weiter schrumpft.

Um 9 Uhr morgens kehrt er in den kleinen Hafen zurück und liefert seinen Fang an einem Verkaufsstand ab. Neben den unverkäuflichen tropischen Fischarten hat er einen Thunfisch, zwei Wolfsbarsche und anderthalb Kilo Tintenfisch gefangen. Das bringt ihm ­Tageseinnahmen von 40 Euro. „Nach ­Abzug der Spritkosten komme ich auf 25 Euro. Bevor die neuen Arten hier aufgetaucht sind, habe ich zu dieser Jahreszeit dreimal so viel verdient.“ Auf den anderen Booten bietet sich das gleiche Bild: eine oder höchstens zwei Kisten hochwertiger Fisch und diverse tropische Exemplare, für die es keine Abnehmer gibt. Die Ausbreitung

gebietsfremder Arten schadet nicht nur den Fischern. Sie zeigt auch auf eklatante Weise, wie sehr sich das Mittelmeer unter dem Einfluss der globalen Erwärmung verändert. „Diese Organismen, die in Massen durch den Suezkanal aus dem Roten Meer einwandern, finden hier nun ideale Bedingungen vor, weil das Meer wärmer geworden ist“, erklärt der Meeresbiologe Antonis Petrou.

Petrou hat eine Beratungsfirma, die für private und öffentliche Auftraggeber vor allem den Einfluss gebietsfremder Fische auf die zypriotischen Gewässer untersucht: „Die ersten haben wir vor ungefähr 15 Jahren gesichtet. Mittlerweile haben sie die Oberhand gewonnen. Da sie keine natürlichen Fressfeinde haben, konnten sie die einheimischen Arten eliminieren.“

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass sich das Mittelmeer um 20 Prozent schneller erwärmt als der Durchschnitt aller Weltmeere. Damit fällt es unter die Definition des Hotspots. So nennt man Orte, an denen die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen besonders sichtbar in Erscheinung treten.

In den vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl der gebietsfremden Arten im Mittelmeer exponentiell gestiegen. Mittlerweile gibt es mehr als 800, davon sind 600 sesshaft geworden. Weil viele von ihnen durch den Suezkanal ins Mittelmeer eingewandert sind, sprechen Fachleute von der „Lessepsschen Migration“ – in Anlehnung an den französischen Unternehmer und Gründer der Suezkanal-Gesellschaft Ferdinand de Lesseps, der die Wasserstraße durch die Wüste graben ließ, die nach zehn Jahren Bauzeit 1869 eröffnet wurde.

Die ausgewachsenen Fische durchschwimmen den Kanal und legen ihre Eier an der ägyptischen Küste ab. Von dort werden sie mit der Strömung weiterbefördert. Andere Arten wurden mit dem sogenannten Ballastwasser von Schiffen eingeschleppt – eine der unheilvollsten Begleiterscheinungen des globalen Handelsverkehrs. „Vor jeder Fahrt pumpen die Frachtschiffe zur Stabilisierung tonnenweise Meerwasser in ihre Ballasttanks. Diese Hohlräume befinden sich am Rumpf und an den Seiten des Schiffs“, erklärt der Meeresbiologe Ernesto Azzurro, der am italienischen Institut für Umweltschutz (Ispra) forscht.

Am Zielhafen wird das Meerwasser mit den „blinden Passagieren“ (Algen, Plankton, Larven von Wirbellosen und Fischeier) wieder abgelassen. Da heutzutage etwa 90 Prozent des Welthandels auf dem Seeweg und 27 Prozent des globalen Containerverkehrs über das Mittelmeer abgewickelt werden, gelangen regelmäßig Lebewesen aus dem Indischen Ozean, Atlantik oder Pazifik ins Mittelmeer. Manche von ihnen siedeln sich dauerhaft an.

Die Anwesenheit dieser aus ihrem natürlichen Lebensraum gerissenen Geschöpfe kann verheerende Folgen haben. Der Hasenkopf-Kugelfisch ist hochgiftig, sein Verzehr kann für den Menschen tödlich sein. 2016 wurden zwei russische Touristen in lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus von Nikosia eingeliefert, weil sie einen solchen Fisch gefangen und verspeist hatten. Sie fielen ins Koma und wurden wie durch ein Wunder gerettet.

Giftiger Hasenkopf-Kugelfisch

Da sie kommerziell wertlos sind, hat niemand ein Interesse daran, Hasenkopf-Kugelfische zu fangen. Doch je weniger weggefischt werden, umso mehr breitet sich die Art aus. Die zyprische Regierung hat extra ein Programm aufgelegt, um diese Fischart auszurotten. Zwischen Frühjahr und Herbst – in dieser Zeit breiten sich die Hasenkopf-Kugelfische besonders stark aus – zahlt die Regierung den Fischern für das ­Kilo 3 Euro. Anschließend werden die Fische auf einer Deponie verbrannt. Die Fischer bekämen dadurch zwar eine kleine Entschädigung, aber besonders umweltfreundlich sei diese Methode nicht, meint der Taucher und Meeresbiologe Vasilis Andreou.

Andreou arbeitet in Protaras im Ocean Aquarium, einem beliebten Ausflugsziel für Schulklassen. Immer öfter erzählen Andreou und seine Kollegen den Kindern von den Fischneulingen im Mittelmeer. „Wir finden es richtig, schon die Jüngsten für dieses Thema zu sensibilisieren. Wobei das Problem mit den gebietsfremden Arten ist, dass man sie nur beobachten kann. Sie ganz auszurotten, wird nicht möglich sein. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass sich die Fauna in unserem Meer gerade verändert.“

Am Südufer des Mittelmeers richtet ein anderes eingewandertes Lebewesen verheerende Schäden an. Die Gewässer rund um die Kerkenna-Inseln vor der südtunesischen Stadt Sfax zählen traditionell zu den fischreichsten Gegenden des Mittelmeerraums. Das Meer zeigt sich hier seit jeher so freigiebig, dass die Fischer gar nicht hinausfahren müssen, sondern einfach warten, bis die Fische sich von selbst in ihre Netze begeben.

Diese Fangtechnik, die sich Charfia nennt, wurde 2020 von der Unesco zum immateriellen Kulturerbe erklärt: Jeder bekommt vom Staat eine Meeresparzelle zugeteilt. Die Gehege werden mit Zäunen aus Palmwedeln voneinander abgegrenzt; auch die am Meeresgrund befestigten unüberwindbaren Barrieren bestehen aus Palmblättern; sie sind so ausgerichtet, dass die Fische durch die Strömung direkt in die Trichter der Fangkörbe hineinschwimmen.

Zweimal am Tag schauen die Fischer nach, was in ihren Reusen gelandet ist. Die zu kleinen Tiere werden zurück ins Meer geworfen, die anderen an Land gebracht – eine selektive und stationäre Fangtechnik, die weniger Zerstörung anrichtet als Schleppnetze, die den Meeresboden umpflügen und damit viele darauf lebende Arten vernichten.

„Doch diese Zeiten sind vorbei“, klagt Ramdhane Megdiche, ein 62-jähriger Fischer mit langem Zauselbart. „Heute fangen wir überhaupt nichts mehr.“ Seit einigen Jahren wird der Meeresgrund um die Inseln von einem neuen Schalentier kolonisiert, das alle lokalen Organismen vertilgt. Die Krabbe heißt Portunus segnis, stammt aus dem Indischen Ozean und ist wegen der milderen Temperaturen hier heimisch geworden.

„Eine echte Plage“, sagt Megdiche, als wir von El Attaya, dem wichtigsten Hafen des Archipels, zu seiner Charfia aufbrechen. Nach 20 Minuten erreichen wir seine Parzelle, die an den aus dem Wasser ragenden Palmwedeln gut zu erkennen ist. Zielsicher zieht der Fischer mit einem Bootshaken eine der Reusen aus dem Wasser. In der großen Fischfalle aus Plastik bewegen sich Dutzende Krabben mit blauen Scheren aufgeregt hin und her.

Mörderische Blaukrabbe

„Immer nur Daesh, Daesh, nichts als Daesh“, flucht Megdiche und kaut auf seiner Zigarette, die ihm schon seit einer Ewigkeit zwischen den Lippen hängt. Die Einheimischen haben in ihrer Verzweiflung den Krabben den Spitznamen „Daesh“ verpasst – die arabische Bezeichnung für die Terrororganisation IS. Der Fischer schüttet den Reuseninhalt ins Boot und schnappt sich eine Krabbe: „Bis vor acht Jahren haben wir dieses Tier hier nie gesehen. Heute fangen wir nichts anderes mehr.“

Ramdhane Megdiche steuert die nächste Reuse an: Auch hier dominieren die Krabben. Einzige Ausnahmen sind ein kleiner, teilweise angeknabberter Tintenfisch und eine Dorade, die so klein ist, dass Megdiche sie wieder ins Meer zurückwirft. In allen vier Fischfallen seiner Charfia bietet sich das gleiche Bild.

Megdiche schüttet die Krabben in eine Kiste, fährt zurück an Land und liefert sie bei einer kürzlich eingerichteten Fabrikanlage am Hafen ab. Von dort werden sie nach Asien exportiert, wo sie als Delikatesse gelten. Für ein Kilo bekommen die Fischer allerdings nur 2 Dinar – umgerechnet 70 Cent. „Das deckt noch nicht einmal die Spritkosten“, klagt Ramdhane Megdiche. Drinnen stehen Frauen in einer Reihe, sortieren die Krabben nach Größe und fixieren die Scheren mit einer Schnur. Die Anlage wurde vor zwei Jahren eingerichtet und ist auf Wachstumskurs: Aufträge flattern herein, weitere Arbeiterinnen werden eingestellt, neue Verarbeitungslinien sind in Planung.

Im Hafen von El Attaya ist die Krabbe das Gesprächsthema Nummer eins. Es gibt sogar ein großes Wandbild von ihr auf einer Mauer direkt hinter den Anlegeplätzen. Die Fischer hassen die Krabbe, fischen sie aber trotzdem und liefern sie in der Fabrik ab. Ein absurder Twist: Das Tier, das für ihre Misere verantwortlich ist, wird zu ihrer einzigen Einnahmequelle.

Im Institut National Agronomique de Tunisie rekonstruiert die Wissenschaftlerin Jamila Ben Souissi die Chronik der Blaukrabben-Invasion. Niemand in Tunesien kennt sich so gut mit dieser Spezies und anderen invasiven Arten aus wie Ben Souissi. Sie begann sich schon in den 1980er Jahren intensiv mit ihnen zu beschäftigen, als das Thema noch nicht so aktuell war.

In ihrem Labor in Tunis lagern in großen Kühlschränken die diversen Tiere, die ihr von ihren durchs Land reisenden Kontaktpersonen zugeschickt werden. Die Forscherin hat die Ausbreitung der Blaukrabbe Schritt für Schritt verfolgt. Für sie gibt es da keinen Zweifel: „Der Klimawandel ist ein Krisenbeschleuniger.“ Die erste Blaukrabbe wurde in Tunesien 2014 gesichtet. Überhandgenommen habe sie ab 2017.

„Dass die Blaukrabbe für die tunesischen Küstengewässer so schreckliche Folgen hat, liegt daran, dass das Ökosystem durch Überfischung und Verschmutzung bereits geschädigt war“, fügt die Wissenschaftlerin hinzu. „Die Nep­tun­graswiesen waren dadurch schon weitestgehend zerstört.“

Das Neptungras ist eine endemische Wasserpflanze des Mittelmeers und bietet hunderten von Organismen ein Biotop, in dem sie sich fortpflanzen und entwickeln können. Auf einem Hektar leben bis zu 350 verschiedene Tierarten. Es ist vor allem das Neptungras, dem die Kerkenna-Inseln ihren Fischreichtum verdanken.

Doch dieser Reichtum geht gerade unwiederbringlich verloren. „Die Schleppnetzfischerei in Küstennähe hat den Meeresgrund des Archipels ruiniert“, sagt Ben Souissi. Im arabischen Raum wird das Schleppnetz kiss (Beutel) genannt. Die Fangmethode ist seit 1942 illegal, wird aber weiterhin im großen Stil praktiziert.

Schon bei einem kurzen Rundgang durch den Hafen von Sidi Youssef, wo die Fähre aus Sfax anlegt und es auch eine Polizeistation gibt, entdeckt man Dutzende Fischkutter mit dem typischen trichterförmigen Netz und der Seilwinde, mit der das Netz auf den Meeresgrund herabgelassen wird.

Alles spielt sich am helllichten Tag ab, denn es gibt einen florierenden Markt. Ein undurchsichtiges und zerstörerisches Geschäft, das von der wachsenden Nachfrage in Europa lebt, wo die küstennahe Schleppnetzfischerei streng verboten ist.

Die Fischer sind in einem Teufelskreis gefangen: Wegen der schrumpfenden Ausbeute greifen sie zu Methoden, die der Umwelt noch mehr zusetzen. Die Folge: Die früher als Kinderstube des Mittelmeers bezeichneten Kerkenna-Inseln sind heute leergefischt und zum Eroberungsgebiet für das Schalentier vom anderen Ende der Welt geworden.

„In einem bereits geschädigten Ökosystem kann die Krabbe sich leichter ansiedeln, weil sie dort leerstehende ökologische Nischen vorfindet. So gesehen ist ihre Ausbreitung eher die Folge eines bestimmten Bewirtschaftungsmodells als die Ursache für den Kollaps“, meint Ben Souissi.

Die Expertin untermauert ihre These mit dem Hinweis auf eine vergleichende Untersuchung, die sie mit ihrem Team in Tunesien und Libyen vorgenommen hat. In Tunesien mit seinen ausgedünnten Neptungraswiesen hat das invasive Schalentier irreparable Schäden angerichtet. In Libyen dagegen, wo die Seegraswiesen intakt sind, waren die Auswirkungen zu vernachlässigen.

„Der Klimawandel ist eine große Erschütterung, die dabei ist, die Meeresökosysteme radikal zu verändern, aber vor allem führt er uns vor Augen, welche Schäden wir Menschen angerichtet haben“, meint Ben Souissi.

Die massenhafte Ausbreitung gebietsfremder Arten ist der offensichtlichste Indikator für die „Tropikalisierung“ des Mittelmeers, aber es zeichnet sich schon ab, dass die Veränderung des Meeres in Zukunft möglicherweise noch viel massivere Folgen haben wird.

„Das Mittelmeer zu untersuchen, ist extrem wichtig, denn es ist ein ­Ozean im Kleinformat, in dem alles in höherer Geschwindigkeit abläuft“, sagt Gianmaria Sannino. Er leitet das Labor für Klimamodellierung der bedeutenden italienischen Staatsagentur Enea (Agentur für neue Technologien, Energie und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung). Gemeinsam mit seinen Kol­le­g:in­nen hat er das bisher präziseste Vorhersagesystem entwickelt, das die möglichen Auswirkungen der Klimaveränderungen auf das Mittelmeer ermittelt.

Das Mittelmeer, erklärt Sannino, ist ein komplexes System mit wechselnden Gezeiten und Unterwasserströmungen. Zudem interagiert es mit der – sich ebenfalls verändernden – Atmosphäre. Wer verstehen will, wie dieses System funktioniert, muss sich die Beziehung des Mittelmeers zum Atlantischen Ozean vor Augen führen.

„Aufgrund der Verdunstung und der spärlichen Wasserzufuhr aus den Flüssen würde der Meeresspiegel jedes Jahr um durchschnittlich 80 Zentimeter sinken und das Mittelmeer auf seine Austrocknung zusteuern“, erklärt Sannino. „Dazu kommt es nicht, weil es über seine Hauptöffnung mit Atlantikwasser gespeist wird: die Straße von Gibraltar.“

Die 13 Kilometer breite und 280 Meter tiefe Meerenge ist von fundamentaler Bedeutung für das Überleben des Mittelmeers – und der entscheidende Faktor für das, was Sannino „das Wunderwerk Mittelmeer“ nennt: ein fast komplett umschlossenes Binnenmeer mit zirkulierenden Strömungen, die entscheidenden Einfluss auf das Klima der ganzen Region haben und über fünf Millionen Jahre hinweg stabil geblieben sind.

Doch dieses Gleichgewicht ist dabei zu kippen. Heute besteht nicht die Gefahr, dass das Mittelmeer austrocknen könnte, sondern dass der Meeresspiegel steigt, weil das Landeis schmilzt und das Wasser sich durch den Temperaturanstieg ausdehnt. Dieses Wasser strömt ins Mittelmeer, erwärmt sich dort, dehnt sich weiter aus und droht das Festland zu überschwemmen.

Sannino zeigt eine Enea-Karte, in der die Gebiete markiert sind, die in Italien bis zum Ende dieses Jahrhunderts möglicherweise unter Wasser stehen könnten. Die am stärksten gefährdeten Regionen sind rot eingekreist: ein beträchtlicher Teil Venetiens und der Emilia-Romagna, wichtige Häfen wie Palermo, Taranto und Cagliari. Und natürlich Venedig.

Insgesamt könnten fast 6000 Quadratkilometer Land überflutet werden, was etwa der Fläche Liguriens entspricht: „Wenn es uns nicht gelingt, den gegenwärtigen globalen Temperaturanstieg umzukehren, wird der Meeresspiegel zur nächsten Jahrhundertwende rund 60 Zentimeter höher sein als heute. Diese Zahl sollte niemand unterschätzen. Ein Anstieg von wenigen Zentimetern bedeutet, dass etliche Quadratkilometer unserer Küstengebiete überschwemmt sein werden.“

Neben den Prognosen und Hochrechnungsmodellen beunruhigt Sannino ein Phänomen, das bereits Fakt ist. In einer aktuellen Studie auf der Basis von Monitoringdaten verschiedener Hochseestationen haben die Enea­For­sche­r:in­nen festgestellt, dass es im Mittelmeerraum zwischen Mai 2022 und Mai 2023 die längste Hitzewelle gab, die in den vergangenen 40 Jahren registriert wurde.

Die Temperaturen an der Wasseroberfläche lagen 4 Grad über dem Durchschnitt von 1985 bis 2005. „Diese Zahlen haben sogar uns erstaunt. Sie sind ein Indikator, dass der Klimawandel sich womöglich noch schneller auf das Meer auswirkt als von uns prognostiziert“, sagt Sannino.

Er erklärt, dass die Erwärmung von Wassermassen sehr viel mehr Energie erfordert als die Erwärmung der Atmosphäre. Die Meere hatten bislang einen mäßigenden Einfluss: Durch die Aufnahme gewaltiger Mengen CO2 verhinderten sie einen übermäßigen Anstieg der atmosphärischen Temperatur.

„Wenn die Meere sich so massiv erwärmen, deutet das darauf hin, dass sie einen Sättigungsgrad erreicht haben. Und das heißt: Für die nahe Zukunft müssen wir mit sommerlichen Hitzewellen und immer heftigeren Winden und Tornados auch auf dem Festland rechnen.“

In Wahrheit bekommen wir schon jetzt die Rechnung präsentiert: Die immer häufigeren Extremwetterereignisse im Mittelmeerraum sind darauf zurückzuführen, dass mehr Energie aus dem Meer in die Atmosphäre freigesetzt wird.

Die Klimaforscher bezeichnen diesen Vorgang als „Medicane“ – ein Kofferwort aus „mediterranean“ und „hurricane“: „Diese Wirbelstürme sind zwar anders geartet als auf den Ozeanen, aber eines der sichtbarsten Anzeichen für die Verschärfung der Klimakrise und den engen Zusammenhang zwischen Meer und Festland“, resümiert Gianmaria Sannino.

Die norditalienische Adriaküste der Romagna wurde im Mai 2023 sogar schon von einem doppelten Medicane heimgesucht. Dutzende Flüsse traten gleichzeitig über die Ufer, 17 Menschen kamen ums Leben, Tausende mussten evakuiert werden. Die materiellen Schäden werden auf fast 10 Milliarden Euro geschätzt.

Das betroffene Gebiet zählt zu Italiens fragilsten und wohlhabendsten Regionen: In den 1930er Jahren wurde hier dem Meer das Land regelrecht abgetrotzt, um es anschließend urbar zu machen – die Basis für eine intensive landwirtschaftliche Nutzung und eine florierende Tourismusbranche.

Laut der Enea-Karte gehört es zu den am stärksten von endgültiger Überflutung bedrohten Zonen. In den Uferbereichen sind die ersten Auswirkungen bereits zu sehen: Die Strände schrumpfen und müssen mit Kies und Sand aus Flussbetten künstlich aufgefüllt werden.

Unmittelbar nach den Extremwetterereignissen im vergangenen Mai begann sich in dieser Gegend eine ähnliche Krabbe wie in Tunesien breitzumachen, die mittlerweile die Muschelzucht im Po-Delta ruiniert hat.

Meeresbiologen halten die Ausbreitung des Schalentiers, das aus dem westlichen Atlantik stammt und mit dem Ballastwasser eingeschleppt wurde, für eine direkte Folge der Überschwemmung, denn mit ihr gelangten gewaltige Süßwassermengen in die Lagunen, sodass viel mehr Krabben aus den Eiern schlüpfen konnten als normalerweise.

Das bestätigt sehr anschaulich Sanninos Diagnose: Was auf dem Meer geschieht, macht sich auf dem Festland bemerkbar und wirkt auf das Meer zurück.

Michele Pezzolato ist Muschelfischer in zweiter Generation. In den 1980er Jahren hat sein heute 75-jähriger Vater den Betrieb aufgezogen. In ihrer Fischerhütte in der Lagune von Sacca degli Scardovari, wo durch den Anbau der kostbaren Venusmuschel der Wohlstand eingekehrt ist, zeigt er uns eine kaputte Reuse. Sie wurde von den Blaukrabben zerstört, die sich an den Muscheln satt fressen.

„Dieses Jahr gibt es hier keine einzige Muschel. So etwas haben wir noch nicht erlebt.“ Inzwischen legt Pezzolato wie alle Fischer in der Sacca eine Zwangspause ein. Leicht verwundert blickt er über die Lagune und die dahinter liegende Adria. „Es gehen unglaubliche Dinge vor sich. Wir werden ganz sicher eine Lösung finden und uns auf die neuen Verhältnisse einstellen. Aber es wäre gut, die deutlichen Signale, die das Meer uns sendet, nicht zu ignorieren.“

Aus dem Italienischen von Andreas Bredenfeld

Stefano Liberti ist freier Journalist und Dokumentarfilmemacher.

© Stefano Liberti; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.07.2024, von Stefano Liberti