13.06.2024

Verpasster Frieden?

zurück

Verpasster Frieden?

von Benoît Breville

Am 16. April veröffentlichte die Zeitschrift Foreign Affairs eine Analyse, die sich auf den letzten Entwurf eines Friedensabkommens bezog, das die Vertreter der Ukraine und Russlands zu Beginn des Kriegs ausgehandelt hatten. Ein wichtiger Text also, dessen Annahme womöglich zwei weitere Jahre Krieg und hunderttausende Tote verhindert hätte. Die französischen Medien haben darüber kaum berichtet; vielleicht wollten sie einem Thema, bei dem der Westen kein gutes Bild abgibt, nicht zu viel Raum geben.

Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 29. März 2022 hatten sich die russische und die ukrainische Delegation zu einer neuen Verhandlungsrunde in Istanbul getroffen. Es war die siebte Runde innerhalb eines Monats, aber die erste in einem veränderten militärischen Kontext nach den ersten Rückschlägen der russischen Angreifer. Danach sprachen beide Seiten von „bedeutenden“ Fortschritten und gaben sich optimistisch. Dennoch wurden die Gespräche zwei Wochen später abgebrochen. Warum, ist bis heute unklar.

Eine verbreitete Version lautet, die Lage habe sich Anfang April, als die Massaker von Butscha bekannt wurden, grundlegend geändert. Danach sei Präsident Selenskyj überzeugt gewesen, dass man mit „Völkermördern“ nicht weiter verhandeln könne. Allerdings wurden die Gespräche per Videokonferenz noch fast zwei Wochen nach Bekanntwerden der Kriegsverbrechen bis zum 15. April fortgesetzt. Das Ergebnis war ein detaillierter 17-seitiger Textentwurf auf Grundlage der in Istanbul festgelegten Leitlinien. Der Text, über den vorher schon das Wall Street Journal berichtet hatte, dokumentiert die Prioritäten beider Seiten, wie auch die Kompromisse, zu denen sie bereit waren, um die Kämpfe zu beenden.

Gleich im ersten Paragraphen war die „ständige Neutralität“ der Ukraine festgeschrieben. Die würde demnach auf die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis verzichten, die Sta­tio­nie­rung ausländischer Truppen auf ihrem Boden ausschließen und ihr Waffen­arsenal reduzieren; die Perspektive eines EU-Beitritts durfte die Ukraine weiterverfolgen. Die russische Seite wiederum war bereit, ihre Truppen aus den seit dem 24. Februar besetzten Gebieten abzuziehen.

Zudem hatte Moskau zunächst den von Kiew geforderten Beistandsmechanismus akzeptiert: Im Fall ­eines Angriffs auf die Ukraine sollten „Garantiemächte“ das Land verteidigen, und zwar die ständigen Mit­glieder des UN-Sicherheitsrats und sechs weitere Staaten, darunter Polen und Deutschland. Allerdings forderte Moskau, dass alle Garantiestaaten der Aktivierung des Beistandsmechanismus zustimmen müssten – was ­Russland ein Vetorecht verschafft hätte.

Ob das der einzige Grund war, warum die Ukrainer den Verhandlungstisch verließen, obwohl sie die Gespräche nach den Butscha-Massakern fortgesetzt hatten und ein Frieden in Reichweite schien? Es gibt starke Indizien dafür, dass auch die USA und insbesondere Groß­britannien – womöglich in übertriebener Hoffnung auf eine russische Niederlage – den zwischen den Unterhändlern noch umstrittenen Schutz­mechanismus ­ablehnten.⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Benoît Breville