13.06.2024

Brief aus Moskau

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Brief aus Moskau

von Wasilisa Belkina und Iwan Perechodnyj

Moskau, Frühjahr 2024: „Trophäen der russischen Armee“ WASILISA BELKINA
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Russlands Krieg ist so sehr zur Routine geworden, dass die Frage berechtigt scheint, inwieweit sich die Menschen in der Russischen Föderation überhaupt noch dafür interessieren. Da Meinungsumfragen schon seit Jahren nur dazu dienen, den Rückhalt für Putin offiziell zu untermauern, ist auf soziologische Daten kein Verlass: Niemand kann es sich leisten, aus den verschiedenen Antworten womöglich die zutreffende auszuwählen, da einige davon als Straftat ausgelegt werden können. Aber welche Methode bleibt dann noch, um die allgemeine Lage zu beschreiben?

Nichts als persönliche Eindrücke, so unzuverlässig sie auch sein mögen.

Der Frühling kommt in Russland meist recht spät, was für diejenigen, die auf den Eigenanbau von Kartoffeln und Gemüse angewiesen sind, ein Risiko bedeuten kann. Dieser Frühling erwies sich als besonders tückisch. Nach offiziellen Angaben sind in diesem Jahr ein Prozent der Setzlinge im Freiland erfroren.

Die Kältewellen im April und Mai schienen die Menschen weitaus mehr zu beunruhigten als die Tatsache, dass mehrere hundert Kilometer südwestlich täglich über hundert Landsleute ums Leben kommen, dazu noch weitere Hunderte auf der „anderen Seite“: Männer, Frauen und Kinder der Ukrai­ne, eines Landes und Volkes, das im vergangenen Jahrhundert noch „Bruder“ genannt wurde.

Ist es soziale Unzurechnungsfähigkeit oder eine geradezu pathologische Gleichgültigkeit? Oder Tiefschlaf von Geist und Seele? Wir maßen uns kein Urteil an, wir notieren lediglich die Symptome und beobachten.

Zum Beispiel das Konzert zur Erinnerung an den Sieg über Nazideutschland am 9. Mai in einer Provinzstadt, nur ein paar Autostunden von der Me­tro­pole entfernt. Etliche Menschen fanden sich in einem festlich geschmückten Saal ein und ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Sie stimmten in den Gesang ein – die meisten Lieder kannten sie von den über Jahrzehnte hinweg ritualisierten Siegesfeiern in- und auswendig – und applaudierten.

Gleichzeitig kam es gerade in diesem Zeitraum, Ende April/Anfang Mai, zu heftigem Beschuss, sowohl der russischen Streitkräfte auf ukrainischem Gebiet als auch umgekehrt. Dabei starben Zi­vi­lis­t:in­nen auf beiden Seiten. Trotzdem ziehen es die Menschen vor, den vor fast 80 Jahren errungenen Sieg zu besingen.

Sehr gut besucht ist auch die Präsentation von in der Ukraine erbeuteter Militärtechnik auf dem Moskauer Poklonnaja-Hügel. Hier hatten die Behörden in der späten Sowjetunion den zentralen Ort des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg eingerichtet, jetzt gibt es dort unter freiem Himmel eine Ausstellung zum aktuellen Krieg zu sehen. Ach ja, es heißt in Russland ja gar nicht Krieg, sondern offiziell nach wie vor militärische Spezialoperation (SVO).

An den Wochenenden bilden sich riesige Schlangen von Wartenden vor dem umzäunten Gelände, darunter viele Familien mit kleinen Kindern. Wegen der Einlasskontrollen mit Körperscannern muss man eine Stunde und länger anstehen.

Was ist das für ein Wahnwitz, welche Gefühle löst das aus? Stolz? Gut möglich, denn man zeigt hier keine Bilder von den zerfetzten Leichen unserer Jungs. Auch nicht von den Kriegsinvaliden.

Dafür gibt es auf den Straßen immer mehr von ihnen zu sehen. Sicher sind in jeder größeren russischen Stadt alle in den letzten zwei Jahren mindestens einem begegnet: Ein Mann zwischen 20 und 40 Jahren ohne Arm oder Bein, mit Schwermut im Blick oder einer wilden Gier, die mich an einen Wolf erinnert, der angreifen will, aber nicht kann. Diese Männer sind so etwas wie Aussortierte, die keinen Platz mehr in der Gesellschaft haben – auch wenn sie selbst das vermutlich nicht so sehen.

„Lärmende Kinder spielen Afghanistan in Schneewehn / ich werd nicht über den Hof gehn“, sang in den 1980er Jahren die Psychedelic-Rockband Auktion, als der sowjetische Krieg in Afghanistan immer noch andauerte. Was spielen die Kids von heute? Ein zehnjähriger Junge, bewaffnet mit einer Spielzeugpistole, verteilt im Hof die Rollen: Du bist der Präsident, und er ist der Terrorist, der will dich töten, und du musst vor ihm weglaufen. Aber du bist nicht allein, ich und er, wir beide sind deine Beschützer, wir werden ihn jagen, um ihn zu töten. Habt ihr verstanden? Verteilt euch und los geht’s!

Erwachsene spielen auch.

Ein Laden um die Ecke verkauft nachts „halblegal“ Alkohol. Das Trinken auf der Straße ist strikt verboten. Drei Personen stehen vor der Ladentür – ein sowjetischer Klassiker, man hat sich damals immer einen halben Liter Wodka zu dritt geteilt. Die drei lassen aber keine Wodkaflasche herumgehen, sondern teuren Gin. Innerhalb von zwanzig Minuten fahren drei Polizeiwagen mehrmals sehr dicht an ihnen vorbei.

Sie drosseln ein wenig das Tempo, fahren aber weiter. Die stoische Dreistigkeit von Trinkrunden ist einem zwar vertraut, aber die demonstrative Gleichgültigkeit hier gegenüber der Polizei hat schon Seltenheitswert. Vielleicht gibt es aber auch eine inoffizielle Anweisung an die Polizei, in Zeiten des Krieges in solchen Situationen ein Auge zuzudrücken. Oder es handelt sich um einen Fall von Korruption, und der Laden sorgt dafür, dass die wohlhabende Kundschaft nicht vergrault wird.

Von solchen Kunden scheint es genug zu geben. In Moskau jedenfalls kann man für teures Geld praktisch immer noch alles kaufen. Und die Polizei gegebenenfalls ignorieren, trotz der im ganzen Land ausufernden Repressionen, und seinen Gin auf der Straße trinken. Wir leben schließlich in einem freien Land, oder etwa nicht? Man muss wissen, welcher Wind hier weht, dann merkt man schnell, wo die Grenzen dieser Freiheit gezogen sind.

Manchmal kann es allerdings wunderbar erfrischend sein, wenn Leute keine Ahnung haben von den gerade geltenden Vorschriften – oder zumindest so tun, als hätten sie keine. Wie bei der ersten von drei Probedurchläufen für die große Militärparade am 9. Mai, als die Gartenringstraße rund um das Moskauer Stadtzentrum über Stunden gesperrt ist. Da gibt es kein Durchkommen, keine Ausnahmen, nur Absperrgitter samt Bewachung.

Überraschte Pas­san­t:in­nen wollen trotzdem auf die andere Straßenseite, unter ihnen ein Althippie mit Elektroroller. Auch die Unterführung sei gesperrt, lässt man ihn wissen. Der entweder scheinbar oder offensichtlich Ahnungslose erkundigt sich nach dem Warum. Weil sie unter der schweren Technik einbrechen kann, lautet die ungeduldige Antwort. Das überzeugt ihn nicht. Er beschließt abzuwarten.

Noch ist weit und breit kein Panzer zu sehen oder zu hören.

Im Fernsehen und Radio seien die Zeiten doch durchgegeben worden, wiederholt einer der Polizisten ein ums andere Mal vorwurfsvoll. Da kommt auf einmal ein bunt gekleideter junger Mann schnellen Schrittes auf die Uniformierten zu. Unter seiner Matrosenmütze lugen orange gefärbte Haare hervor. Hier ist kein Durchgang, bekommt er zu hören. Und zur Metro? Versuchen Sie es. Der junge Mann erkundigt sich beiläufig, aber betont höflich, was hier eigentlich los sei. Ach so, verstanden. Er macht kehrt und zieht weiter.

Die Straßensperre wird von Polizisten des berüchtigten zweiten Mos­kauer Regiments bewacht, das früher bei Kundgebungen und Demonstrationen eingesetzt wurde und oft ziemlich brutal vorgegangen ist. Als der junge Mann abzieht, verdreht einer von ihnen die Augen über die Ignoranz dieses klassenfremden Elements. Er hat überhaupt nicht begriffen, dass er und sein Kollege gerade vor einem Publikum von rund 40 Leuten, das sich nach und nach vor dem Gitter versammelt hat, vorgeführt wurden.

Dann rollen sie schließlich an, die Panzerfahrzeuge mit und ohne Flugabwehrkanone. Ein paar Erstklässler winken den vorbeifahrenden Soldaten zu. Hallo Terroristen, schreit ein Junge. Die Mutter, leicht geschockt, hält ihm den Mund zu. Auch Erwachsene winken, Wagen hupen, die Soldaten winken zurück. Sie spielen die Rolle imaginärer Befreier, manche mit roter Fahne, die meisten ohne.

In der Stadt überkommt einen gelegentlich ein Gefühl der Leere. Es legt sich manchmal, zum Beispiel, als uns eine junge Frau mit Regenbogenschirm begegnet. Ist das nicht ein Code für Gleichgesinnte aus der LGBT-Bewegung, die in Russland verboten ist? Für den Bruchteil einer Sekunde stellt sich ein Gefühl von Normalität ein mitten in dem von oben diktierten Irrsinn, doch dann ist die Frau mit dem Regenbogenschirm auch schon wieder ver­schwunden.

In der Metro treffen wir auf eine uns unbekannte Frau, deren Gesicht wir aber gefühlt schon hunderte Male gesehen haben – auf Demonstrationen, bei Kundgebungen und Diskussionsrunden. Wir nickten uns zu, mit einem feinen Lächeln, gerade deutlich genug, um uns als Verbündete aus einem anderen Zeitalter zu erkennen zu geben.

Wir sind noch da.

Manche kehren aus dem Ausland zurück, für eine Stippvisite oder wegen familiärer Verpflichtungen. Ein Freund kann sich nicht entscheiden, auf welchem Kontinent er sich niederlassen will, dabei lebt er nur in Moskau so richtig auf.

Auf der Fahrt zu ihm ans andere Ende der Stadt besteigen wir eine Elektritschka, die seit ihrer Modernisierung neuerdings Diameter heißt. Der öffentliche Nahverkehr in der reichen Hauptstadt ist in den vergangenen Jahren so bequem geworden wie das öffentliche Leben unbequem. Während der Fahrt wird es plötzlich laut. Zwei Rapper versuchen mit ihrem Verstärker die Aufmerksamkeit der Fahrgäste zu gewinnen. Meistens sind solche Auftritte vor allem unterhaltsam. Diesmal ist es anders.

„Und dann nutzen sie den ganzen Wirrwarr, um einen Krieg anzufangen“, schallt es plötzlich durch den Zug. Wir müssen an der gleichen Station wie die Rapper aussteigen und kommen kurz mit ihnen ins Gespräch. Die beiden erzählen, dass sie bislang noch keinen ­Ärger hatten, aber nur einer von Hundert würde auf ihre Performance reagieren. Den Mund halten käme für sie nicht infrage, schon gar nicht seit dem Tod von Alexei Nawalny. Das sei gar nicht so schwer, meinen sie.

Iwan Perechodnyj ist Schriftsteller in Moskau. Seit 2022 sieht er sich gezwungen, unter Pseudonym zu veröffentlichen. Wasilisa Belkina ist Journalistin, Übersetzerin und Fotografin und publiziert ebenfalls unter Pseudonym.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2024, von Wasilisa Belkina und Iwan Perechodnyj