07.03.2024

Mit Stethoskop und Megafon

zurück

Mit Stethoskop und Megafon

Gesundheit als Grundrecht – das ist das Motto eines belgischen Netzwerks, das seit 50 Jahren medizinische Gratisversorgung anbietet. Gegründet wurde es von der Arbeitspartei.

von Tobias Müller

Médecine pour le peuple vor dem Gesundheitsministerium in Brüssel HATIM KAGHAT/picture alliance/dpa/belga
Audio: Artikel vorlesen lassen

Der Weg in ein anderes Gesundheitssystem führt in La Louvière über drei schma­le Stufen. Über dem Eingang der Gemeinschaftspraxis hängt ein Schild mit aufgemaltem Herzen und stilisiertem Megafon. Hinter der geräumigen Rezeption liegt ein schmaler Gang, links und rechts davon die Behandlungszimmer. In einem davon sitzt die junge Ärztin Elisa Munoz Gomez.

„Wir denken, dass alle Leute ein Grundrecht auf gute medizinische Versorgung haben. Alle, absolut alle müssen das Beste bekommen können“, sagt sie. Ihr Arbeitsplatz im Süden Belgiens liegt zwischen Brüssel, wo sie aufwuchs und Medizin studierte, und der französischen Grenze – mitten im ehemaligen wallonischen Steinkohlerevier.

Wenn sie „wir“ sagt, meint sie damit allerdings nicht ihre drei Kolleginnen und das Praxisteam – eine Psychologin, zwei Pflegerinnen, drei Sprechstundenhilfen an der Rezeption und zwei in der Verwaltung –, sondern das gesamte Konzept, das hier im frankofonen Landesteil Médecine pour le peuple genannt wird: Medizin für das Volk.

In ganz Belgien beteiligen sich rund 220 Ärz­t:in­nen und Pflegekräfte in elf Praxen an dem Projekt. Unterstützt werden sie von mehreren hundert festen Freiwilligen, die bei Impfkampagnen einspringen oder kleinere Arbeiten erledigen. Insgesamt werden etwa 25 000 Pa­ti­en­t:in­nen „qualitativ hochwertig“ medizinisch versorgt – und zwar gratis. 1400 Namen stehen in der Kartei der kleinen Praxis in La Lou­vière. Im 19. Jahrhundert hatte sich die Stadt durch den Steinkohlebergbau zu einem Zentrum der Schwerindustrie entwickelt; dieses Erbe strahlt sie bis heute aus.

Médecine pour le peuple ist jedoch nicht nur ein Projekt aus Nächstenliebe; tatsächlich entstand es 1971 unter dem Dach der Parti du Travail de Belgique (PTB) beziehungsweise Partij van de Arbeid (PVDA) in der nördlichen flämischen Region. Eine „zeitgenössisch kommunistische Partei“ nennt sie sich selbst, im Marxismus verwurzelt – übertragen auf Médecine pour le peuple bedeutet das, dass die Diagnose der Lebens- und Arbeitsumstände der Pa­ti­en­t:in­nen eine herausgehobene Rolle spielt – über die Behandlung hinaus geht es um konkretes politisches Handeln. Das Netzwerk hat sogar einen eigenen Thinktank, in dem sich auch Munoz Gomez engagiert.

Kurz vor Ende ihrer Schulzeit kam sie bei einem Praktikum erstmals in Kontakt mit Médecine pour le peuple und war von dem Ansatz sofort begeistert, sich erst einmal zu fragen, warum Menschen überhaupt krank werden. Als aktuelles Beispiel nennt sie den Reinigungssektor, der „in den letzten Jahren in Belgien enorm gewachsen ist“ und in dem vor allem Frauen arbeiten. Viele leiden unter Sehnenentzündungen und haben Schulterprobleme. Die elf Praxen, die sich auch als politische Aktionszentren verstehen, starteten eine Umfrage, nahmen Kontakt zu Gewerkschaften auf und kämpfen seither dafür, dass die Beschwerden als Berufskrankheit anerkannt werden.

Munoz Gomez hat inzwischen im geräumigen Gemeinschaftssaal ihrer Praxis Platz genommen, in dem früher ein Boxklub trainiert hat. Gemeinsam mit den Pa­ti­en­t:in­nen wurde der Raum renoviert. Er ist hell und holzgetäfelt, hat eine einladende Sitzecke, einen großen Bildschirm und eine Fensterfront zum Garten. Ein Ort, wo gefeiert wird, aber auch gemeinsam überlegt, was man tun kann, wenn die Strom- und Heizkosten zu hoch sind, womit viele ihrer Pa­ti­en­t:in­nen überfordert sind. Der ganze Raum strahlt Großzügigkeit aus, nicht im Sinne von Luxus, sondern von Würde und Respekt.

Was die Ärz­t:in­nen täglich in ihren Konsultationen hören, zeugt oft vom Gegenteil. „Wir haben in La Louvière die jüngste Pa­ti­en­t:in­nen­grup­pe aller elf Praxen. Viele von ihnen befinden sich in einer schwierigen Lage“, erzählt Munoz Gomez. Die Mittzwanziger sind oft prekär beschäftigt, mit kurzfristigen Verträgen oder Flex-Jobs bei Plattform-Betrieben wie Deliveroo: „Die Frage ist: was für eine Zukunft werden sie mit dieser Art von Arbeit haben? Das schlägt sich oft auf die mentale Gesundheit junger Menschen nieder und ist in dieser Gegend ein großes Pro­blem.“

Seit drei Jahren arbeitet Munoz Gomez in La Louvière. Zuvor absolvierte sie ihre Ausbildung im nahen Charleroi, einer weiteren schwerindustriell geprägten Stadt mit ähnlichem Profil. Dass Gesundheit und der Zugang zu medizinischer Versorgung politische Themen sind, steht für sie außer Frage: „Wenn etwa wie neulich ein dreijähriges Kind Asthma entwickelt, weil es neben einer feuchten Wand schläft und die Wohnungsbaugesellschaft nichts tut.“

Startschuss in Hoboken

Angesichts solcher Zustände erschöpft und ohnmächtig zu resignieren oder abzustumpfen, kommt für die junge Ärztin nicht infrage. Sie will ihre Empathie gegenüber den Pa­ti­en­t:in­nen bewahren und versuchen, die Dinge zu verbessern: „Am liebsten gemeinsam mit den Patient:innen. Mir ist wichtig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern ihre Lebensumstände verändern können.“

Deshalb ist Munoz Gomez auch in die Partei eingetreten. Bei den Europawahlen tritt sie auf dem vierten Listenplatz an. Sie ist nicht die einzige Mitarbeiterin, die sich zur Wahl stellt. Andere sind in der Partei, aber ohne Funktion, wieder andere unterstützen einfach nur den gesundheitspolitischen Ansatz. Ob Mitglied oder nicht, gerade in La Louvière ist die Nähe zur Partei offensichtlich: Das Büro der PTB befindet sich gleich nebenan, beide Gebäude sind in demselben hellen Beigeton gestrichen.

In Hoboken, einem Stadtteil der Hafenmetropole Antwerpen, ist die Praxis in einem freistehenden Haus untergebracht: Geneeskunde voor het volk lautet der Name hier im niederländischsprachigen Norden. Von den einfachen Klinkerhäuschen in sämtlichen Grau-, Ocker- und Brauntönen der belgischen Farbskala hebt es sich allein schon durch seine Größe ab. Der weiße Stern auf rotem Grund, das Parteilogo, prangt auf vielen der Poster im Erdgeschoss, neben Slogans wie „Tax the Rich“ oder dem Parteimotto „Immer an deiner Seite“. An der Fensterfront finden sich die bekannten Symbole, Herz und Megafon, dazu ein Stethoskop und eine Tablette.

„Der Kampf für bezahlbare Medikamente steht auch auf unserer Agenda“, erklärt Janneke Ronse, die Vorsitzende des Netzwerks. Ausgebildet als Krankenpflegerin, arbeitete die 41-Jährige früher in der zweiten Antwerpener Praxis im Quartier Deurne, dann übernahm sie deren Leitung. Heute ist sie federführend an der Entwicklung dessen beteiligt, was man hier die „Vision“ nennt. Das ist nicht etwa ein Faltblatt oder eine dünne Broschüre, sondern ein medizinisch-gesellschaftliches Manifest in Buchform mit Grafiken und Statistiken.

Es geht darin um soziale Determinanten, die krank machen, das Recht auf Gesundheit und öffentliche Verantwortung, um Privatisierung und Kommerzialisierung sozialer Sicherung und marxistische Analysen sowie alternative Modelle, die den Zugang zu pharmazeutischen Produkten erleichtern: „Medizin und Impfungen zum öffentlichen Gut machen“, heißt es dort. Vorbild ist das neuseeländische Modell staatlich subventionierter Arzneimittel. Genau diesen Ansatz schätzt Ronse: „Es geht nicht nur um das, was ich zwischen den vier Wänden meines Behandlungszimmers tun kann, sondern auch um den breiteren Rahmen, in dem wir Probleme bekämpfen.“

Auf der gemeinsamen Besichtigungsrunde mit Praxiskoordinator Stijn de Vos durch das dreistöckige Gebäude, in dem neun Ärzt:innen, fünf Pflegekräfte, ein Psychologe und eine Diätistin arbeiten, schwärmt Ronse von der multidisziplinären Zusammenarbeit. Sie berichtet, dass an der Rezeption immer zwei Personen sitzen, um die Pa­ti­en­t:in­nen zu empfangen, und zeigt den Gemeinschaftsraum, in dem einige Freiwillige die kommende Ausgabe der Pa­ti­en­t:in­nen­zei­tung zum Internationalen Frauentag eintüten und etikettieren.

All das, erklärt sie, fiel nicht vom Himmel, sondern war ein langer Kampf, der in Hoboken mit der ersten Praxis begann, die bald zu klein wurde: „Gratis-medizinische Versorgung, das war in den 1970ern wirklich not done. Für die Ärztekammer war es die reinste Provokation. Als die Ärzte aufhörten, ihre Beiträge zu zahlen, wurden sie suspendiert, bekamen Strafen auferlegt – manche waren sogar kurz in Haft. Aber wenn der Gerichtsvollzieher anrückte, versperrten ihm die Pa­ti­en­t:in­nen den Weg.“

Gratis waren die Behandlungen zu jener Zeit insofern, als Ärztinnen und Pfleger mit einem Rückzahlungstarif arbeiteten. „Sie berechneten nicht mehr, als was die Krankenkassen ersetzten.“ Seit den 2000er Jahren gebe es ein Pauschalsystem, erklärt Ronse, das heißt, die Pa­ti­en­t:in­nen sind dauerhaft in der Datei einer bestimmten Praxis und die Versicherung überweist monatlich feste Beträge an diese. Wesentlicher Unterschied für die Ärzt:innen: Sie arbeiten nicht selbstständig, sondern sind Angestellte und beziehen ein Gehalt, das deutlich unter dem Branchendurchschnitt von gut 9000 Euro netto liegt: „Bei uns beginnt man mit etwa 3100 Euro im Monat.“

Auch Ronse, die während ihres Studiums der PVDA-Jugendorganisation Comac beitrat, kandidiert am 9. Juni bei den Europawahlen auf der Parteiliste. Am selben Tag wird in Belgien das neue föderale Parlament gewählt. Nach dem starken Aufschwung der Partei in den letzten Jahren in Wallonien und in der zweisprachigen Brüsseler Region ist die selbst erklärte „soziale Welle“ nun auch in Flandern in Gang gekommen. Umfragen vom Februar sagen eine Verdopplung von gut 5 auf knapp 11 Prozent voraus – bemerkenswert in einer Region, deren politische Kultur stark rechts dominiert wird und in der die identitären flämischen Nationalisten des Vlaams Belang auf einen deutlichen Sieg zusteuern.

Wie kommt es, dass sich die PVDA gerade in diesem Klima behaupten kann? Laut Ronse sei die einzige Antwort auf diesen Rechtsruck eine konsequente linke Erzählung, „die auf die Nöte der Menschen eingeht, statt ihnen zu sagen: ‚Das ist nicht möglich!‘, wie viele traditionell sozialdemokratische Parteien es tun, oder gar: ‚Wir brauchen noch mehr Kapitalismus, noch mehr neoliberale Zustände, noch mehr Privatisierung!‘ “ Gerade während der Krisen der letzten Jahre sei der Wahlspruch „Immer an deiner Seite“ nicht nur Rhetorik gewesen.

Geneeskunde voor het volk kommt in dieser Strategie eine besondere Rolle zu: Die Initiative hat sich die gesamte Parteigeschichte hindurch gehalten, auch als es kurz nach dem Millennium alles andere als rosig aussah, hielt man an ihr fest. Sie steht für Glaubwürdigkeit und den ehrlichen Willen, tatsächlich das System verändern zu wollen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern.

Von entscheidender Bedeutung ist daneben ein anderer, spezifisch belgischer Aspekt. Die PTB/PVDA ist die einzige Partei, die sich nicht im Laufe der Jahre in einen flämischen und einen wallonischen Teil spaltete. Die Spaltung der Parteienlandschaft entlang der Sprachgrenze vollzog sich parallel zur sogenannten Staatsreform. Letztere bezeichnet den schrittweisen Umbau vom Zentral- zum föderalen Bundesstaat in den 1970er Jahren. Zahlreiche politische Befugnisse wurden dabei den Regionen Wallonie, Flandern und Brüssel übertragen. Damit sollten nicht zuletzt die flämischen Rechten besänftigt werden, die immer aggressiver eine Sezession forderten.

Die fundamentale Opposition der PVDA/PTB wendet sich nicht nur gegen den chauvinistischen Nationalismus, der vom rechtsextremen Vlaams Belang bis weit ins bürgerliche Spek­trum reicht. Sie will auch etwas bewahren: „Wir haben in diesem Land noch eine soziale Sicherheit, die föderal geregelt ist. Dies ist die starke Kathedrale der arbeitenden Klasse. Wenn sie die auch nach Regionen unterteilen, wird der Privatisierung Tür und Tor geöffnet“, warnt Ronse.

Die Rechte würde immer sagen, „dass die beiden Sprachgruppen gegensätzlich sind und sie nichts verbindet. Das ist Unsinn, sie haben die gleichen Probleme. Wenn dir von der Plackerei der Rücken wehtut, ist es egal, ob das in Charleroi passiert oder in Antwerpen. Du hast keine Rückenschmerzen, weil du Flämin oder Wallonin bist, sondern weil du ein Arbeiter bist.“

Tobias Müller ist freier Journalist in Amsterdam.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Tobias Müller