07.03.2024

Brief aus Delhi

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Brief aus Delhi

von Samrat Choudhury

Delhi im Winter-Smog MAXIME GRUSS/picture alliance/hans lucas
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Die Farbe des winterlichen Delhi ist grau. Die Luft ist eine einzige graue Masse. Sie liegt als Smog über der Metropole und überzieht das nordindische Flachland ringsum mit einen undurchdringlich erscheinenden Dunstschleier.

Der Smog von Delhi sorgt für verspätete Züge und Flüge, und auf den Autobahnen können sich die Fahrzeugschlangen nur im Kriechtempo bewegen: Ein Auto klebt am Rücklicht des anderen in einer endlosen Prozession von Halbblinden, die anderen Halbblinden ins Ungewisse folgen. Die Sonne kommt tagelang kaum zum Vorschein, und wenn, dann ist sie zu schwach, um zu wärmen. Die Temperaturen erreichen nur 3 oder 4 Grad Celsius.

Wo selbst die Häuser der Reichen in der Regel keine Heizung haben, lässt die Kälte alle frieren. Oder sogar erfrieren, aber das trifft natürlich nur die Ärmsten der Armen. In Nord­in­dien sind in den letzten zehn Jahren laut amtlichen Zahlen im Schnitt mehr als 800 Menschen pro Jahr durch die Kälte gestorben. Die Zahl derer, die wegen der schlechten Luft ein paar Jahre früher sterben, ist jedoch um ein Vielfaches höher; sie umfasst die gesamte Bevölkerung der Großregion Delhi, und das sind über 30 Millionen Menschen.

Jahr für Jahr läuft im Wechsel der Jahreszeiten der immer gleiche Zyklus ab: Ende Oktober oder Anfang November, wenn die Bauern Nordindiens ihre Reis­ernte einbringen – und die Stoppelfelder abbrennen –, beginnt die Luft in Delhi sich einzutrüben. Dann verkünden die Medien, dass die Luftqualität wieder einmal die Stufe „ungesund“ überschritten und die Stufe „sehr ungesund“ oder gar „gesundheitsgefährdend“ erreicht wurde.

Im letzten Herbst gingen die Messwerte durch die Decke: Anfang November 2023 erreichten sie erstmals die Höchstmarke von 500 auf dem Luftqualitätsindex (AQI) – das 100-Fache des WHO-Grenzwerts für „gesunde Luft“.

Ich war am 8. November nach Neu-Delhi gereist, mit der Absicht, wieder herzuziehen. Für meine journalistische Tätigkeit schien mir die Hauptstadt der beste Ort zu sein, selbst wenn sich mein Leben damit um ein paar Jahre verkürzen würde. Vor längerer Zeit hatte ich der Stadt, in der ich gut zehn Jahre lang gearbeitet hatte, mit Freuden den Rücken gekehrt, aber jetzt trieb mich die berufliche Notwendigkeit wieder zurück.

Die großzügige Wohnung des Freundes, der mich zunächst aufnahm, hatte keine Heizung. Aber dafür gab es in jedem Raum einen Apparat, der in den Häusern der Besserverdienenden inzwischen wie selbstverständlich dazugehört: der Luftreiniger.

Die Dreckluft von Delhi macht allen zu schaffen, aber die Reichen atmen nicht dieselbe Luft wie die Armen. Das ist keine Überraschung. Sie trinken ja auch nicht dasselbe Wasser. Die Armen trinken aus der Leitung, womit sie sich allerdings – falls sie das Glück haben, dass überhaupt Wasser aus dem Hahn kommt – dem Risiko von Krankheiten aussetzen. Von der Mittelschicht aufwärts verfügt jeder Haushalt über eine teure Filterapparatur, die sauberes Trinkwasser liefert.

Diese riesige Metropole ist wie ein rastloses Getriebe, in dem jeder und jede nur einem Ziel nachzujagen scheint. Es gilt nach oben zu kommen, alle anderen abzuhängen. Nur das stellt sicher, dass man gesund bleibt und nicht untergeht. Nicht nur ein gutes Leben, nein, das Leben selbst hängt immer mehr davon ab, ob und wie schnell man reich wird – mit allen Mitteln.

Gute Jobs sind selbst für hochqualifizierte Leute nur schwer zu finden. Die Lokalzeitungen bringen regelmäßig Berichte, wonach sich irgendwo in In­dien hunderte oder tausende promovierte Uniab­sol­ven­t:in­nen für einen Job als Fahrer oder Krankenpflegerin bewerben. Nach einer Studie des Zen­trums für nachhaltige Beschäftigung der Azim Premji University waren im Zeitraum von 2021 bis 2022 in ganz Indien von den unter 25-Jährigen mit Hochschulabschluss 42 Prozent ohne Arbeit.

Die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit begünstigt die Ausbeutung der Arbeitskräfte auf allen Ebenen. Und sie hat den weltweit größten Exodus ausgelöst. Nach dem World Migration Report der UN von 2022 sind 18 Millionen indische Ar­beits­mi­gran­t:in­nen in alle Welt ausgewandert. Damit liegt Indien bei der Migrationsstatistik an der Spitze aller Herkunftsländer.

Das bevorzugte Ziel sind die reichen Länder in Europa und Nordamerika. Diejenigen, die es nicht dorthin schaffen, versuchen anderswo ihr Glück; etwa in den Golfstaaten. Aktuell steht auch Israel hoch im Kurs: Zahllose arbeitslose Inder, zumeist Hindus, haben sich im Rahmen eines „Mobility Partnership Agreement“ anwerben lassen, das im Mai 2023 unterzeichnet wurde. Und seit Beginn des Gazakriegs sind es noch mehr geworden, weil sie die palästinensischen Arbeitskräfte ersetzen, die ihre Jobs in Israel verloren haben.

Angesichts der hoffnungslosen Lage auf dem Arbeitsmarkt sollte man annehmen, dass in einem Staat, der laut Verfassung eine „sozialistische, säkulare, demokratische Republik“ ist, Kritik von links kommt. Aber die Farbe Rot hat offenbar in der ganzen Welt ausgedient.

In Delhi jedenfalls scheint niemand gewillt zu sein, existenzielle Probleme des täglichen Lebens anzusprechen oder sich auch nur anzuhören. Das Rot ist verblasst. Niemand hat mehr Zeit, sich für das Schicksal von Menschen zu interessieren, die Hunger leiden, die ums nackte Überleben kämpfen. Das erklärt vielleicht zum Teil, warum in Indien eine andere Farbe die Oberhand gewonnen hat: das Safrangelb des Hindu-Nationalismus.

Im Großraum Delhi sind inmitten des winterlichen Grau die safranfarbenen Fahnen allgegenwärtig. Und dazu all die Transparente und Plakate, die von der Eröffnung des Hindutempels Ram Mandir in Ayodhya künden. Die Stadt liegt 500 Kilometer südöstlich von Delhi in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten und vorwiegend hin­di­sprachigen Bundesstaat. Am 22. Januar hat Premierminister Narendra Modi den – noch unvollendeten – Tempel eingeweiht, der an Stelle der fast 500 Jahre alten Babri-Moschee erbaut wurde, die Hindu-Extremisten 1992 zerstört hatten.

Mit der Kampagne gegen die Babri-Moschee begann vor 30 Jahren der Aufstieg Modis und seiner Bharatiya Janata Party (BJP), die seitdem die indische Politik dominiert. Viele Hindus glauben, dass die Moschee auf den Ruinen eines alten Tempels stand, der den Geburtsort des Hindu-Gottes Ram markierte. Die Einweihungszeremonie vom 22. Januar nutzte Modi als Startsignal für seine diesjährige Wahlkampagne. Das neue indische Parlament wird voraussichtlich im April und Mai 2024 gewählt. Modi und seine BJP stehen als Gewinner so gut wie fest; in den Salons von Neu-Delhi wird nur noch darüber diskutiert, wie hoch der Sieg ausfallen wird. Und über die Frage, was Modi in seiner nächsten Amtsperiode unternehmen wird.

Auf der BJP-Agenda war der Ram-Tempel seit Jahrzehnten ein zentrales Thema, zusammen mit der Aufhebung des Sonderstatus für das indische Kaschmir. Was also steht uns bevor, nachdem diese beiden politischen Träume erfüllt sind? Will man womöglich – im Zuge der proklamierten „Entkolonialisierung“ – den offi­ziel­len Staatsnamen „Republik Indien“ durch das altehrwürdige Hindi-Wort „Bharat“ ersetzen (schließlich stammt das Wort Indien von dem griechischen Namen für den Indus). Oder will man die lästigen Wörter „sozialistisch“ und „säkular“ aus der Präambel der Verfassung streichen?

Das wäre nur folgerichtig. Indien ist heute der Kultur nach tatsächlich ein hinduistischer Staat. Und als solcher das Pendant zum muslimischen Staat Pakistan, der 1947 aus dem nach religiösen Kriterien aufgeteilten Britisch-Indien hervorgegangen ist.

Die strammen Hindu-Nationalisten wollen Indien in „Ram Rajya“, das Reich des Gottes Ram verwandeln. Doch da diese Gottheit sich offensichtlich nicht anschickt, das Land persönlich zu regieren, muss das jemand anderes übernehmen. Jemand wie Mister Modi.

In diesem neuen Indien dürften Minderheiten, Verfechter eines säkularen Staates und Linke nichts zu lachen haben. Seitdem die Hindu-Na­tio­na­listen 2014 an die Macht kamen, haben sie systematisch alles zerstört, was sie dem „linken Ökosystem“ zurechnen. Zahlreiche Inderinnen und Inder mit linker oder laizistischer Gesinnung wurden beruflich kaltgestellt oder durch nationalistische, Modi-treue Hindus ersetzt.

Die Säuberungen erfassten auch die Universitäten und die Medien. Das Resultat ist tagtäglich im Fernsehen zu besichtigen, wo sich die Moderatoren gegenseitig darin übertrumpfen, wer von ihnen der größte Modi-Fan ist. Wer diesen Wettbewerb der Arschkriecher nicht mitmacht, kann seine Kar­rie­re vergessen.

„Schlag dir den Journalismus aus dem Kopf“, riet mir ein guter Freund. Und dann kam ihm eine Idee. Er selbst verdient sein Geld im Bereich Kunst und Kultur, daher weiß er, dass man für Projekte, die den Hindu-Nationalisten ins Konzept passen, viel Geld abgreifen kann. „Warum gründest du nicht eine Zeitung mit dem Titel Temple Times of India? Nur Berichte und Reportagen über Tempel, da kriegst du bestimmt Staatsgelder.“

Das war wohl nur halb scherzhaft gemeint. Keine Chance, antwortete ich, in ein paar Jahren würde selbst die Temple Times of India von einer künstlichen Intelligenz produziert. Das gab er zu, aber dann hatte er einen weiteren Geistesblitz: „Hast du schon mal dran gedacht, Priester zu werden? Selbst Elon Musk wird es nie schaffen, Brahmanen durch Roboter zu ersetzen. Der Beruf ist zukunftssicher.“

Ich gehöre nicht der Kaste der Brahmanen an, was gemäß der Tradition Voraussetzung ist, um hinduistischer Priester zu werden. Also sind meine Aussichten auch auf diesen Job sehr begrenzt. Aber die Idee meines Freundes hat einen realen Hintergrund. Am erfolgreichsten auf dem ansonsten tristen, grauen Arbeitsmarkt scheinen Leute zu sein, die ihre Geschäfte mit Religion machen. Und die Flagge, in die sie sich hüllen, ist safrangelb. Einstmals war diese Farbe das Symbol für die Abkehr von der materiellen Welt. Im heutigen Indien ist sie die Farbe des weltlichen Erfolgs.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Samrat Choudhury ist Autor und Journalist. Zuletzt erschien: „Northeast India: A Political History“, London (Hurst) 2023.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Samrat Choudhury