07.12.2023

Schaut auf diesen Fluss

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Schaut auf diesen Fluss

Die Poebene im Klimanotstand

von Stefano Liberti

Boretto am 23. April 2023   MICHELE LAPINI
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Boretto, Provinz Reggio Emilia, April 2023. Unter der Brücke am Ortseingang ist der Fluss kaum noch auszumachen. Die Brückenpfeiler, sonst von Wasser umspült, liegen bis zu den Fundamenten trocken. Wo früher der Po floss, ist jetzt ein langer Strand.

Seit zehn Wochen ist kein Tropfen Regen gefallen. Der Flusspegel ist dramatisch gesunken, die Leute befürchten, dass es kommen könnte wie im Jahr 2022, als der Po so wenig Wasser führte wie nie zuvor.

„Der Wasserstand ist für diese Jahreszeit extrem niedrig“, bestätigt Alessio Picarelli, der Leiter der Interregionalen Agentur für den Po (Aipo), die in Boretto ihre Zentrale hat. Tagtäglich machen sich von hier und sieben weiteren Standorten die Angestellten auf, um die Wasserstände zu messen. Die Aipo informiert über die Schiffbarkeit des Flusses und beobachtet, ob sich magre abzeichnen, wie die Stress­pe­rio­den des Po genannt werden.

Italiens größter Fluss leidet unter den Schneedefiziten in den Alpen und im Apennin. Zudem schrumpfen die alpinen Gletscher immer weiter. Wenn dann auch noch der Regen ausbleibt, stürzt das ganze System in den Krisenmodus ab. Und vieles deutet darauf hin, dass das in naher Zukunft immer häufiger vorkommen wird.

„So geringe Wassermengen messen wir normalerweise im August“, meint Picarelli. „Aber im Sommer wird zusätzlich Wasser für die Landwirtschaft genutzt.“ Die prognostischen Klimamodelle weisen schon seit Jahren auf die Möglichkeit hin, dass die Poebene austrocknen könnte. „Genau das geschieht jetzt vor unseren Augen“, meint Picarelli. „Das ist der große Trend. Aber natürlich kann sich die aktuelle Situation jeden Moment ändern.“

Kurz darauf trat diese Änderung tatsächlich ein: Mitte Mai 2023 gingen an mehreren Stellen der Poebene ungewöhnlich starke Regenfälle nieder, daraufhin traten mehrere kleinere und größere Wasserläufe über die Ufer. Der Po selbst blieb in seinem Bett, aber an vielen Nebenflüssen kam es zu katastrophalen Überschwemmungen; 16 Menschen kamen ums Leben, 23 000 mussten evakuiert werden.

Für Italien ist der Zustand des Po der Gradmesser für die Auswirkungen der Erderwärmung. Die Apeninnenhalbinsel ist ein Hotspot der Klima­krise. Die ständig steigenden Temperaturen gehen mit einer Serie von Ex­trem­wetterereignissen einher. Für 2022 verzeichnet die European Severe Weather Database (ESWD) in Italien 3193 Extremwetterereignisse; 2023 waren es bis Ende November 3144.

Im gesamten Mittelmeerraum erzeugt die globale Klimaerwärmung einen speziellen Effekt, erläutert der Atmosphärenphysiker Antonello Pasini: „Nicht nur steigen die durchschnittlichen Temperaturen, es verändert sich auch die Zirkulation in der Atmosphäre. Früher hatten wir normalerweise Hochdrucksysteme, die von Westen nach Osten zogen, vor allem das berühmte Azorenhoch. Dieser großräumige Antizyklon wirkte wie ein stabiler Puffer, der uns von den unsteten ­Wetterlagen in Nordeuropa, aber auch von der afrikanischen Hitze abschirmte.“

Doch inzwischen habe die menschengemachte Klimakrise dazu geführt, dass sich die äquatoriale Zirkulation – mit tropischen Luftmassen – nach Norden ausdehnt, womit der Mittelmeerraum unter den Einfluss der afrikanischen Hochdruckgebiete gerät, die früher über der Sahara verharrten. Wenn die sich wieder zurückziehen, beschreibt Pasini, stoßen kalte Luftströmungen vor, die mit den vorhandenen warmen und feuchten Luftmassen zusammenstoßen. Diese enormen Temperaturunterschiede sind der Auslöser von Extremwetterereignissen.

Der Wechsel von bedenklichem Niedrigwasser und katastrophalen Überflutungen ist offenbar der neue Trend, der nicht nur den Po betrifft. Die Dürre von 2022 war die schlimmste seit 200 Jahren und ließ sowohl die landwirtschaftlichen Erträge als auch die Stromerzeugung aus Wasserkraft einbrechen.

Nach Angaben des größten Bauernverbandes Coldiretti ging 2022 ein Zehntel der italienischen Agrarproduktion verloren, was für die Bauern Einkommensverluste von schätzungsweise 6 Milliarden Euro bedeutete. 2023 war es kaum besser. Die Abfolge von Dürren und Extremwetterereignissen hat erneut enorme Schäden verursacht.

„Wir sind mitten in einem Klimanotstand“, sagt Giuliano Landini, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen ist. Außerdem ist er der Kapitän der „Stradivari“, des längsten Flusskreuzfahrtschiffs, das auf Italiens Binnengewässern unterwegs ist.

Ein Schiff ohne Wasser

Im April 2023 liegt die „Stradivari“ im Hafen von Boretto. Landini schaut auf den Fluss und schüttelt den Kopf. Er beklagt, es fehle eine Vision für Ita­liens längsten Fluss. „Das aktuelle Klimaszenario zeigt uns die Schwächen des Systems. Mal jammern wir, dass der Po austrocknet, mal haben wir Angst vor Überflutungen. Tatsache ist aber, dass man den Fluss sich selbst überlassen hat.“ Landini erzählt von seiner großen Idee, die er seit Jahren verfolgt und die man in einem Wort zusammenfassen kann: bacinizzazione, „Beckenbildung“ – ein System von Staudämmen, Wasserkraftwerken und Schleusen. Damit würde der Fluss ständig schiffbar bleiben und in Hochwasserphasen ginge kein Wasser verloren, meint er.

Landini ist der festen Überzeugung, dass kein Weg an einem solchen System des Wassermanagements vorbeigeht. Ein früheres Projekt hatte fünf Staudämme vorgesehen, von denen nur einer gebaut wurde: Bei Monticelli d’On­gina in der Provinz Piacenza entstand das Wasserkraftwerk Isola Serafini, mit dem dazugehörigen Staubecken. Die anderen Projekte blieben in der Schublade. Die Behörden entschieden, den Po frei fließen zu lassen.

Nicht alle halten bacinizzazione für die Lösung; insbesondere die Umweltschutzbewegung befürchtet zu radikale Eingriffe in die Ökosysteme. Aber ein ­Argument Landinis ist unbestreitbar: Die Poebene, einst eine lebendige, blühende Landschaft mit eigener Kultur, ist ein vergessenes Stück Italien, das von der politischen Klasse ignoriert wird.

„Niemand will mehr über den Po reden“, klagt Landini, „und das, obwohl alle sein Wasser in Anspruch nehmen: die privaten Haushalte, die Landwirtschaft, die Industrie und die Energieerzeuger.“ Damit verweist er auf ein gigantisches italienisches Paradox: Ein Drittel der italienischen Bevölkerung lebt in der Poebene und produziert 40 Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts (BIP), 35 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und 55 Prozent des durch Wasserkraft gewonnenen Stroms.

Dennoch gilt der Po nicht als wertvolle Ressource, die man pfleglich behandeln muss. Er wird als bloßes Reservoir genutzt, aus dem man Wasser beziehen und Kies entnehmen kann; er dient als Deponie für industrielle Abwässer und wird der Agroindustrie überlassen.

„Die Region leidet an Übernutzung“, meint Paolo Pileri, „es ist kein Geheimnis, dass sie in Europa zu den Regionen mit der höchsten Umweltbelastung gehört.“ Der Raumplaner vom Mailänder Polytechnikum verweist auf die Überschwemmungen in der Emilia-Romagna, die so zerstörerisch waren, weil die menschlichen Eingriffe in die Natur die Gegend besonders anfällig gemacht haben.

2021 wurde die Emilia-Romagna als die italienische Region mit dem dritthöchsten Flächenfraß ermittelt: In einem Jahr hatten die betonierten Flächen um 658 Hektar zugenommen, das waren 10,4 Prozent des nationalen Landverbrauchs in diesem Zeitraum. Der Anteil der versiegelten Bodenfläche sei in der Region in den letzten Jahren auf 8,9 Prozent angestiegen, erklärt Pire­li. Im nationalen Durchschnitt liege dieser Anteil bei 7,1 Prozent. „Und es ist ja allgemein bekannt, dass Wasser nicht durch Asphalt dringt; Durchflussmenge und Energie nehmen dann zu – mit entsprechend mehr Sachschäden und menschlichen Opfern.“

Man könnte meinen, dass der Po und seine Nebenflüsse auf die Anmaßung der Menschen reagieren und sich die Räume, die ihnen gestohlen wurden, zurückerobern. Landini wird poetisch: „Der Po ist wie ein verwundeter Riese. Er schwillt an und trocknet aus, wie es ihm beliebt. Er geizt mit Wasser, wenn die Landwirtschaft durstiger wird. Und er bringt Not und Leid über die Menschen, die ihm den Rücken gekehrt haben.“

Angesichts der unberechenbaren Schwankungen des Wasserstands sind die zahlreichen Interessengruppen, die das Wasser des Po nutzen, um Lösungen bemüht. „Die Daten der letzten Jahre zeigen, dass Dürren zu einem strukturellen Problem werden“, sagt Francesco Vincenzi, Präsident des nationalen Wasserverbandes Anbi. Angesichts des Klimawandels könne man sich keine irrationale Nutzung der Wasserressourcen mehr erlauben.

Vincenzi hält es deshalb für unumgänglich, „einen Infrastrukturplan aufzustellen, der auch die Anpassung der Bewässerungskanäle und die Sicherheit der Wasserversorgung vorsieht.“ Im Rahmen eines EU-finanzierten Aufbau- und Resilienzplans hat Brüssel 880 Millionen Euro bereitgestellt, um genau dieses Bewässerungssystem effizienter zu machen und Rückhaltebecken zu bauen.

Das in solchen Minireservoiren gespeicherte Wasser könne man sowohl für landwirtschaftliche Zwecke als auch für die Energiegewinnung nutzen, erklärt Vincenzi: „Heute halten wir gerade mal 11 Prozent des Wasservolumens zurück, das zeigt, wie vordringlich der Bau dieser Anlagen ist.“

Dass man eine laufend knapper werdende Ressource auf keinen Fall vergeuden darf, ist offenbar allgemeiner Konsens. Aber genauso notwendig wäre es, „die in der Poebene vorherrschende landwirtschaftliche Produk­tions­weise zu überdenken“, sagt Professor Pileri. „Die Bauern klagen, dass das Ökosystem außer Kontrolle geraten ist, aber dieselben Bauer haben dazu beigetragen, dass es außer Kontrolle ist.“

Pileri nennt ein Beispiel: In der mittleren Poebene gibt es riesige Flächen, auf denen Mais angebaut wird. Doch dieser Mais ist nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt, er wird an die Schweine in den riesigen Mastbetrieben verfüttert oder zu Biogas verarbeitet. „Ist es sinnvoll“, fragt Pileri, „das bald nicht mehr vorhandene Wasser so zu verschwenden – statt für den Anbau von Nahrungsmitteln für die Menschen zu nutzen?“

Die einzige Lösung ist für Pileri ein anderes Entwicklungsmodell: kein weiterer Flächenverbrauch, veränderte Produktionsmuster und ein grundsätzlich anderer Umgang mit den Ökosystemen.

Auf der Agenda der Meloni-Regierung nimmt das Thema Klimakrise – trotz riesiger Schäden durch wiederholte Extremwetterereignisse – keine zentrale Stellung ein. Italien ist eines der wenigen EU-Länder, die noch keinen nationalen Plan für die Anpassung an den Klimawandel entwickelt haben. Ein erster Entwurf liegt seit 2017 im Umweltministerium und harrt einer Evaluierung. Und aus Regierungskreisen hört man immer wieder die Meinung, das Problem der Erderwärmung werde überschätzt.

Die Gleichgültigkeit angesichts der Probleme in der Poebene steht für die allgemeine Passivität der Regierung in Sachen Klimanotstand. Und so werden wir bei der nächsten Dürre oder der nächsten Flutkatastrophe wahrscheinlich wieder die gewohnte Reaktion erleben: Man zählt die Schadenssummen und jammert über ein unvermeidbares und unvorhersehbares Unglück.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Stefano Liberti ist Journalist und Dokumentarfilmer.

© Stefano Liberti/Green European Journal/Eurozine; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Gefährdeter Reisanbau

Wasserknappheit und Extremwetterereignisse, die in der Poebene immer häufiger auftreten, bedrohen auch den Anbau von Reis – einem der klassischen Agrarerzeugnisse Norditaliens.

Die Bauernverbände schlagen wegen des erheblichen Produktionsrückgangs bereits Alarm. Nach den Daten von Coldiretti fiel 2022 aufgrund der Dürre ein Drittel der Reisernte aus. Für 2023 wird der Ausfall auf 15 Prozent geschätzt.

Wegen Wassermangels mussten einige Produzenten bereits auf andere Feldfrüchte umstellen; dadurch gingen für den Reisanbau in den letzten beiden Jahren fast 16 000 Hektar verloren, das sind knapp 10 Prozent der Anbaufläche. Um ein Kilo Reis zu produzieren, benötigt man – je nach Sorte und Bodenbeschaffenheit – zwischen 3000 und 10 000 Liter Wasser. Nach der Aussaat im April müssen die Felder ständig unter Wasser stehen, und zwar in einer Höhe von 30 bis 40 Zentimetern.

Mittlerweile sind Dürreperioden in der Poebene zu einem Strukturmerkmal geworden. Deshalb stellt sich für die Produzenten die Frage, ob der Reisanbau noch eine Zukunft hat. Oder ob es nicht besser wäre, auf andere Getreidesorten wie Weizen oder Mais umzusteigen.

Italien ist Europas größter Reispro­duzent, auf den etwa die Hälfte des europäischen Erntevolumens entfällt. Zudem ist Italien fast das einzige Land der Welt, in dem für Risotto geeignete Sorten wie Arborio und Carnaroli angebaut werden.

In Norditalien wird seit 500 Jahren Reis produziert und konsumiert. Neorealistische Filme wie „Bitterer Reis“ von Giu­sep­pe De Santis mit Silvana Mangano in ihrer legendären Rolle als mondina – so nannte man die Frauen, die barfuß im Wasser standen und Unkraut jäteten – setzten der Kulturtechnik des Reisanbaus ein Denkmal.

Heute gibt es keine Mondine mehr in der Poebene, aber Reis ist nach wie vor ein Grundelement der Kultur, und Reisfelder prägen die Landschaft, insbesondere im Piemont und in der Lombardei. Fragt sich nur, wie lange noch.

Le Monde diplomatique vom 07.12.2023, von Stefano Liberti