Hypothesen zur Hisbollah
von Akram Belkaïd
Steckt Iran hinter dem Hamas-Angriff auf Israel? In einem Bericht vom 8. Oktober, der sich nur auf anonyme Hamas- und Hisbollah-Quellen berief, meldete das Wall Street Journal, Teheran habe grünes Licht für die „Operation Al-Aksa-Flut“ gegeben. Die iranische Führung streitet dies ab, begrüßt aber den Überfall der Hamas und ruft zur „Fortsetzung des Widerstands“ auf. In den USA fordern mehrere demokratische und republikanische Abgeordnete neue Sanktionen gegen Teheran.
Sollte die Islamische Republik tatsächlich der Drahtzieher des Angriffs gewesen sein, stellt sich freilich die Frage, warum die „Hizb“ (Partei), die stärksten Verbündeten Teherans in der Region, nicht zugleich mit der Hamas in den Krieg eingetreten ist. Immerhin hätte sie damit die „Einheitsfront“ herstellen und den „gemeinsamen Widerstand“ demonstrieren können, den die Chefs der libanesischen Partei regelmäßig beschwören.
Eine solche Intervention hätte der israelischen Armee – mehrere Einheiten waren im Westjordanland stationiert – womöglich noch mehr logistische Probleme bereitet. Und das noch vor dem Eintreffen des Flottenverbands um den Flugzeugträger „USS Gerald Ford“, den Washington „vorsorglich“ in die Gewässer vor der israelischen Küste entsandt hat.
Sollte Teheran tatsächlich von den Angriffsplänen gewusst haben, gibt es zwei denkbare Hypothesen: Die erste lautet, dass die iranische Führung weder Planungsdetails noch das exakte Datum des Angriffs kannte. Von diesem Szenario gehen mehrere arabische Analysten aus. Demnach habe die Hamas die Entscheidung über den Beginn des Angriffs ohne vorherige Unterrichtung ihrer Verbündeten getroffen. Die Attacke sei hauptsächlich vom militärische Flügel der Hamas und dessen Chef Mohammed Deif geplant worden, und der habe weder Teheran noch die in Katar exilierte politische Führung der Hamas informiert. Auf diese Weise habe man zum einen Informationslecks verhindern wollen, zum anderen die Vorrangstellung der Führung in Gaza gegenüber den Funktionären im Ausland demonstriert.
Die zweite Hypothese besagt, Teheran habe beschlossen, dass die Hisbollah nicht von Anfang an eingreifen soll. Stattdessen wollte man den Gang der Ereignisse abwarten und die Miliz in Reserve halten.
Für das Mullahregime ist die libanesische Organisation ein wertvoller Trumpf, um Israel von Angriffen auf seine Atomanlagen abzuhalten. Teheran hat kein Interesse, diesen Trumpf leichtfertig auszuspielen. In der Vergangenheit hat man lange gezögert, die Hisbollah zu Einsätzen im Ausland zu drängen. In Syrien hat man es am Ende doch getan, um das Regime von Baschar al-Assad zu unterstützen.
Der Konflikt niedriger Intensität, den die libanesische Miliz an der Nordgrenze Israels am Köcheln hält, hat ein einziges Ziel: Tel Aviv daran zu erinnern, dass mit ihr stets zu rechnen ist. Seit dem „33-Tage-Krieg“ von 2006, in dem die Hisbollah – nach eigener Lesart – die Israelis besiegt hat, konnte die Miliz militärisch massiv aufrüsten. Ihre Führer wissen zwar um die Überlegenheit der israelischen Luftwaffe, betonen aber immer wieder, dass sie eine Konfrontation am Boden nicht fürchten.
Zehn Tage nach dem Angriff vom 7. Oktober drohte Ajatollah Ali Chamenei, Iran werde mit Gewalt antworten, falls Israel seine Luftangriffe auf Gaza fortsetzen würde: „Wenn die Verbrechen des zionistischen Regimes weitergehen, werden die muslimischen Kräfte und der Widerstand die Geduld verlieren. Dann kann sie niemand stoppen.“
Der iranische Außenminister Hossein Amir Abdollahian wiederum warnte die Vereinigten Staaten und Israel vor einer „unkontrollierbaren“ Lage im Nahen Osten. Es war die Ansage, dass Teheran die Hisbollah und andere von der Miliz kontrollierte Akteure nicht von einem Angriff auf Israel abhalten könne.
Am 19. Oktober fing ein im Roten Meer patrouillierender US-Zerstörer mehrere Raketen und Drohnen ab, die proiranische Huthi-Milizen vom Jemen aus abgeschossen hatten. Die Raketen waren in nördlicher Richtung geflogen und hätten israelisches Territorium erreichen können, verlautete aus Washington. Die iranischen Medien rufen alle bewaffneten schiitischen Kräfte im Libanon, im Jemen, in Syrien und im Irak ständig auf, ihre Kräfte gegen Israel zu bündeln. Die Gefahr eines allgemeinen Flächenbrands in der Region ist somit real.
Angesichts der Gefahr einer zweiten Front im Norden hat die israelische Regierung mehrere grenznahe Orte evakuiert und ihre Warnungen gegenüber der Hisbollah und Iran verstärkt. Die Scharmützel sind mittlerweile so viel intensiver und häufiger geworden, dass man sich an die Situation im Vorfeld des Kriegs von 2006 erinnert fühlt.
Aber ist die Hisbollah tatsächlich daran interessiert, einen Krieg gegen Israel loszutreten, zumal sie mit einem US-amerikanischen Gegenschlag rechnen muss? Eines hat der Angriff der Hamas auf Israel jedenfalls schon bewirkt: Die USA haben ihre Präsenz in der Region massiv verstärkt. Das Pentagon entsandte eine zweite Navy-Einheit um den Flugzeugträger „USS Dwight D. Eisenhower“ vor die Küste Israels. Wie US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärt, wolle man damit „feindliche Aktionen gegen Israel oder jeden Versuch einer Ausweitung des Kriegs abschrecken“.
⇥Akram Belkaïd
Aus dem Französischen von Markus Greiß