11.01.2024

Zweierlei Maß

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Zweierlei Maß

von Benoît Breville

Im Licht des Völkerrechts ist die Sache sonnenklar: Russland hält Gebiete seines Nachbarlands Ukraine illegal besetzt, desgleichen Israel palästinensische Gebiete, was in UN-Resolutionen regelmäßig verurteilt wird.

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Der Westen, der stets eine „regelbasierte Ordnung“ betont, sollte die Okkupation in beiden Fällen gleichermaßen ablehnen. Dem ist aber nicht so. Im einen Fall stehen die USA und die EU auf der Seite des Angreifers, im anderen auf der Seite des Angegriffenen.

Seit Beginn des Krieges zeigt Europa für Millionen ukrainischer Exilanten eine Aufnahmebereitschaft, von der Geflüchtete aus dem Irak, aus Syrien oder aus Afghanistan nur träumen können. Die Ukrainer seien eben „wie wir“, erklärte ein britischer Kolumnist, haben Netflix-Abos und Instagram-Accounts, freie Wahlen und unzensierte Zeitungen. Dagegen wird den Hunderttausenden, die der israelischen Bombardierung des Ga­za­strei­fens entkommen wollen, nirgends Aufnahme zuteil. Emmanuel Macron bot lediglich an, 50 verletzte palästinensische Kinder aufzunehmen, „sollte dies sinnvoll und notwendig sein“.

Die USA und die EU reagierten auf die russische Invasion mit drakonischen Sanktionen: ein Ölembargo, Handels- und Bankbeschränkungen, Einfrieren der Vermögen von Oligarchen, Sendeverbot für Russia Today. Dazu Boykottaufrufe gegen russische Sportler, Musiker, Filmemacher und Schriftsteller, die Absage von Ausstellungen und Konzerten.

Nichts dergleichen im Fall Israel. Die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) setzt sich seit 2005 vergeblich für Repressalien gegen Israel ein. Das bringt ihr den Vorwurf des Antisemitismus ein: In Deutschland ist sie geächtet, in 30 US-Bundesstaaten sogar verboten; in Frankreich wird sie strafrechtlich verfolgt, in Kanada darf man nicht für sie werben.

Zweierlei Maß herrscht auch, wenn der Westen die teilweise besetzte Ukraine mit Waffen beliefert, aber gleichzeitig Waffen an die Besatzungsmacht Israel verkauft, während für die militärische Unterstützung der Palästinenser Repressalien angedroht werden. US-Präsident Joseph Biden bezeichnete die Bombardierung des Krankenhauses von Mariupol als „Schande für die ganze Welt“, schweigt aber, wenn im Gazastreifen 21 von 36 Krankenhäusern nicht mehr funktionsfähig sind. Er verurteilte das Massaker von Butscha als „Völkermord“, weigert sich jedoch, zu einem Waffenstillstand in Gaza aufzurufen, wo innerhalb von drei Monaten 22 000 Menschen gestorben sind.

Westliche Kommentatoren setzen die 1200 israelischen Opfer der Hamas häufig ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von 8 Millionen. Das würde, auf die USA umgerechnet, 45 000 ermordete Zivilisten ausmachen, im Fall Frankreich 10 000. Aber was, wenn man die 22 000 Toten von Gaza hochrechnen würde? In den USA wären 2,8 Millionen, in Frankreich 580 000 Todesopfer zu beklagen. Und noch ein Vergleich: Fast 70 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens wurden zur Flucht gezwungen. Umgerechnet würde das für die USA fast 200 Millionen, für Frankreich etwa 50 Millionen Flüchtlinge be­deuten.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 11.01.2024, von Benoît Breville