Löcher im Zaun
von Katharina Döbler
Zu jener Zeit, als Berlin ungefähr zu einem Viertel Baustelle war, überquerte ich auf einem meiner Routinewege häufig ein großes Brachgrundstück: ein paar Industrieruinen, Grasnarben, Trampelpfade, Überreste heimlicher Lagerfeuer, umgeben von den Fragmenten einer Backsteinmauer. Das Gelände war zur Bebauung und für eine Parkanlage bestimmt, aber bis es so weit war, lag es in anarchischer Zwecklosigkeit da und wurde mal mit Gleichgültigkeit durchquert, mal mit speziellen Absichten aufgesucht. Beides war illegal, darauf wiesen rostige Schilder hin, deren frühere Inschrift kreativ zu „Un..fu..ck“ umgearbeitet war. Nichts, was man ernst nehmen musste.
Dann kam der Tag, an dem das Gebiet seinem geplanten Nutzen zugeführt wurde: mit Zaun und bewachter Schranke, so dass es von der Anwesenheit (und Aufmerksamkeit) des Wachmanns abhing, ob man hineinkam.
Und bekanntlich fängt genau damit – mit dem Zaun nämlich – alles an: „Der Erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft.“ So Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert.
Doch in diesem speziellen Fall gab es eine Menge Leute, die nicht einfältig genug waren, irgendwelche Eigentumsrechte, für die der Zaun stehen mochte, anzuerkennen. Schon nach drei Tagen hatte der Draht zwei Löcher. Eins auf der Ost-, eins auf der Westseite. Dazwischen wurde ein neuer Pfad gebahnt, und der wurde immer breiter.
Die Löcher im Zaun vermehrten sich nach und nach, der Pfad fächerte sich auf, innerhalb von wenigen Wochen hatte sich ein ganzes Wegenetz gebildet – ein dynamisches Netz, das sich den wechselnden Gegebenheiten einer Großbaustelle anpasste. An einer Stelle wurde Erde ausgeschachtet, an anderer aufgehäuft, Pfade wurden zugeschüttet oder durch Gräben abgeschnitten. Ein Loch im Zaun wurde geschlossen, kurz danach tauchte ein paar Meter weiter ein neues auf.
Mit der Zeit entstanden in dieser Landschaft herausfordernde Crosstracks, Mountainbiker rasten durch Schluchten und über Wälle. Leute, die nur schnell von der einen Seite auf die andere wollten, spurten stets die Pfade der kürzesten Entfernung. Es konnte vorkommen, dass einem beliebten Fahrradweg eine Aufschüttung in die Quere kam, weshalb er einen Schlenker über eine Vertiefung nahm, die den Schwung für die folgende Steigung lieferte.
Kurz: Hinter den Zäunen entwickelte sich eine lebhafte kollektive Verkehrsplanung. Wer eine Spur legte, fand sie später entweder verschwunden oder verbreitert vor, Füße zogen Schleifen um das magere Gebüsch, und Leute, die hinter einem der ständig kommenden und gehenden Hügel Schutz vor was auch immer suchten, erschufen wandernde kleine Plätze.
So ging das eine ganze Weile.
Heute ist hier eine öffentliche Grünanlage zwischen neuen Wohnhäusern, gestaltet nach den heutzutage üblichen ästhetischen Kriterien: schräg aufragende Betonmäuerchen, asphaltierte Wege, exakte Baumreihen, Bänke aus schweren Bohlen, robuster Rasen, Metallkanten, Kies. Alles von entschiedener Klarheit, kein undurchsichtiges Gebüsch, nichts Krummes, nichts Rundes außer dem Pool für die Skater.
Das kollektive Experiment ist in gerade und bequeme Wege überführt worden, geeignet für Leute mit Kinderwägen, Rollstühlen, Rollatoren und Fahrrädern, es gibt Orte für Skater und Basketballkids, für die Kindergartenrudel, die Pärchen, die Grüppchen von Teenies und Touris. Eben alle.
Aus städtebaulicher Sicht ist das ein Fortschritt, ein großer sogar. Auf dem illegalen Experimentierfeld herrscht nun Ordnung und Übersichtlichkeit, es gibt Regeln, man darf auf dem Rasen herumliegen, aber keinesfalls Feuer machen. Das Gelände ist zweckdienlich. Romantisch ist es nicht.
Es ist, denke ich oft, wenn ich es auf dem Fahrrad durchquere, und das geht schnell auf den geraden, asphaltierten („Hier gilt die deutsche Straßenverkehrsordnung“) Wegen, die Landschaft gewordene Rechtsstaatlichkeit.
Analog dazu wäre das alte Brachgelände ein „rechtsfreier Raum“ gewesen. Und rechtsfreie Räume sind der Schrecken einer jeden Gesellschaft, die Grund hat, sich zu fürchten. Und wir – mit unserem ungleich verteilten Wohlstand, unserem fragilen sozialen Frieden – sind zweifellos eine solche: so ängstlich, dass sogar ausprobieren oder improvisieren als Zeichen gefährlicher Inkompetenz gilt, als Einladung zu Gewalt und Extremismus. Alles Neue, alles Fremde ist verdächtig.
Wenn es keine Planungssicherheit gibt, wenn in einer neuen und krisenhaften Situation Irrtümer, Versuche, neue Ansätze alles sind, was zur Verfügung steht, dann neigt dieses sicherheits- und normorientierte Kollektiv zu Panikreaktionen. Wir haben es erlebt. Also her mit den Zäunen, sie haben ihr Gutes: Sie geben den Rahmen vor, in dem entworfen und geplant wird, Bürger beteiligen sich, verschiedene Behörden sowieso – und am Ende hat man den praktikablen Kompromiss. Der, das ist das Wesen von Kompromissen, nichts Romantisches hat.
Ja, ich mochte das alte Brachgelände. Ich mochte, das ist allerdings sehr lange her, das Lied von dem Strand, der angeblich unter dem Pflaster liegt, und das in der Aufforderung gipfelt: „Komm, reiß auch Du ein paar Steine aus dem Sand!“ Das war vor mehr als vierzig Jahren der Soundtrack einer Bewegung, die in Frankfurt, Zürich, Berlin Häuser besetzt, Barrikaden gebaut, Freiräume geschaffen und bespielt hat. Das ging eine ganze Weile.
Volksvertreter und der allergrößte Teil des Volkes selbst beklagten dieweil das Treiben der Chaoten, das politisch nicht ernst zu nehmen, und die Existenz rechtsfreier Räume, gegen die unbedingt vorzugehen sei.
Schließlich wurde der Zaun gezogen. Und es wurden offizielle Wege gebahnt. Die meisten der besetzten Häuser blieben am Ende stehen, Flächenabriss (im ghettoverdächtigen Kreuzberg oder im Frankfurter Westend) war keine Option mehr. Es wurden Verträge geschlossen, mit denen die Hausbesetzerei in rechtskonforme und subventionierte Besitzerei überführt wurde. Denen, die sich der Legalisierung verweigerten, blieb nur der Rückzug. Einige wenige wählten den Weg in die Illegalität. So weit, so bekannt.
Die Quartiere stehen heute noch, Teile davon sind sogar immer noch der kapitalistischen Verwertung entzogen, das heißt: Das Pflaster, unter dem der Strand liegt, ist eine Genossenschaft. An dem Rest erfreuen sich alle, ehemalige Aktivistïnnen wie internationale Immobilienspekulanten, manchmal sogar mit ähnlichen materialistischen Motiven. Romantisch ist das nicht, und alles andere als eine gelungene Revolution. Es ist ein Kompromiss. Die lebenswerten Viertel existierten. Noch.
Ja, es ist verboten, Löcher in Zäune zu schneiden und (als Un…fu..ck) umzäunte Gelände zu betreten. Es ist auch verboten, Kartoffelbrei auf Kunstwerke zu werfen (sofern sie einem nicht selbst gehören), nationale Denkmäler einzufärben und durch Festkleben der eigenen Hände auf Asphalt öffentliches Straßenland der StVO zu entziehen. Das schade, heißt es bei der Mehrheit im Volk und fast allen seinen politischen Vertretern, dem politischen Anliegen. Rechtsfreie Räume dürfe es nicht geben, wir lebten schließlich in einem Rechtsstaat.
Es gibt aber immer wieder Leute, die so etwas tun. Löcher in Zäune schneiden. Grenzen übertreten, das Verbotene tun. Es ist notwendig. Das trifft auf die Bürgerrechtsbewegung zu, die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Friedensbewegung. Da werden Wege eingeschlagen, die mit Risiko verbunden sind. Es werden Hindernisse überwunden oder umgangen, es wird Neues ausprobiert und manchmal auch wieder verworfen. Wandernde Plätze, Freiräume, entstehen durch wiederholten temporären Aufenthalt.
Am Ende ändert sich etwas: nicht gerade das, was die wenigen, die Löcher geschnitten haben, sich anfangs vorgestellt haben, eher das, was die vielen wollen: die, die ohne groß nachzudenken illegale Wege verbreitern und festigen, indem sie sie einfach benutzen. Arbeiterbildungsvereine. Frauenrechte. Klimaschutz.
Wenn dann langsam die Baumaschinen in Gang kommen, wenn das Neue schließlich zu Kompromissen gerinnt und in Gesetze und Beton gegossen wird, empfinden das viele als Fortschritt. Andere, für die Löcher in Zäunen und alles, was daraus folgt, grundsätzlich inakzeptabel sind, sehen darin Sittenverfall und unverzeihliche politische Nachgiebigkeit. Darin liegt wohl der wesentliche Unterschied zwischen Progressiven und Reaktionären. Wieder anderen wird alles Erreichte verdächtig, sobald es zur neuen Ordnung geworden ist. Gewöhnlich sind alle mit dem Endergebnis unzufrieden. Den einen geht es nicht weit genug, den anderen zu weit. Den einen fehlt die Romantik, den anderen der Zaun.
Das Verhältnis zwischen den Vorlieben von Individuen und den am Ende getroffenen Entscheidungen von Gemeinschaften und Staaten ist komplex und widersprüchlich. Wissenschaftlich untersuchen (und berechnen) kann man es übrigens mit Hilfe der so genannten Social Choice Theory (Sozialwahltheorie), die jedoch immer auf das unlösbare Problem stößt, dass Demokratie nach den Gesetzen der Logik niemals gerecht ist.
Wenn verschiedene individuelle Präferenzen einzeln addiert und gegeneinander verrechnet werden, geht ein Teil des Ganzen mathematisch in der ermittelten Mehrheit unter und bleibt zwangsläufig unberücksichtigt. Mal weinen darüber die Progressiven, mal die Reaktionäre, am häufigsten aber die revolutionären Romantiker, denn sie sind immer die Minderheit.
Als Schlussfolgerung aus dieser strukturell ungerechten Mehrheitsherrschaft fordern Amartya Sen (und andere gemeinwohlorientierte Theoretikerïnnen, die sich mit diesem unlösbaren Dilemma auseinandersetzen) etwas, das sie deliberative Demokratie nennen: eine erwägende, argumentative und gemeinsame Entscheidungsfindung. So etwas wie die Planung eines Parks auf Grundlage der vorhandenen Trampelpfade und Spontanradwege: Vieles von dem, was gebraucht und gewünscht wird, ist schon vorhanden, die Spur gelegt.
Aber es beginnt immer mit den Zäunen und den Löchern darin. Mit Herrschaft und einer radikalen Minderheit, die zuwiderhandelt. Der Rest ist die langsame, mühevolle Verständigung, die manchmal so lange dauert, dass radikale Minderheiten inzwischen zu liberalen Mehrheiten anwachsen. Abgestimmt wird mit den Füßen, es folgt die Planierraupe des Rechtsstaats.
Unterwegs in dem Park, der einst ein illegales topografisches Experiment war, stelle ich mir oft vor, wie er anders hätte gestaltet werden können. Nicht ganz so geometrisch vielleicht, nicht so offensichtlich zweckdienlich …? Mehr Gebüsch?
Verschiedene Gesellschaften und Epochen bringen ja durchaus unterschiedlich gestaltete Gelände hervor: Das 17. Jahrhundert französische Parks mit zentralistischer Geometrie, das 18. Jahrhundert englische Landschaftsgärten mit umständlich inszenierter Natürlichkeit, und so weiter bis zu den Freizeitzonen mit Bäumen in Waschbetonkübeln des 20. Jahrhunderts, welche am ehesten einem bestimmten, inzwischen fast schon vergessenen deutschen Ideal fortschrittlicher Urbanität entsprechen.
Was wäre wohl herausgekommen, wenn man das trampelnde Volk einfach hätte machen lassen?
Wir haben aber wenig Zutrauen zu dem trampelnden Volk (auch wenn wir es offiziell nicht so bezeichnen) und seiner nicht nur ästhetischen Fehlbarkeit. Selbst der anarchistische Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon schimpfte, als er im Gefängnis saß und das französische Volk draußen gerade seinen Kaiser wiederhaben wollte, über dessen Ignoranz und primitive Instinkte, über „die Gewaltsamkeit seiner Bedürfnisse und die Ungeduld seiner Begierden“.
Also haben wir Zäune, haben wir öffentliche Grünanlagen mit ihren Wegen und Mülleimern, haben wir Rechtsstaatlichkeit. Die wir, obwohl so mangelhaft und unromantisch, im Alltag brauchen und schätzen, mit (und trotz) ihrer Waschbetonhaftigkeit. Sie ist im Übrigen ein wesentlicher Anziehungspunkt für Einwanderung, denn es gibt viele Länder, in denen es keine öffentlichen Bereiche gibt, die schön, umsonst und offen für alle sind.
Im funktionalen Rechtsstaatspark, den ich so oft durchquere, sind die Eingänge immer offen, nur dass metallene Schleusen den Radfahrenden ein langsames Tempo aufzwingen. Hier bildet sich die Gesellschaft ab, in der wir leben, mit Wegen, die sie in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen, und ohne die, die sie wieder verlassen hat. Ein Areal ist entstanden, das auch anders hätte werden können. Vielleicht hätte ich es lieber ein wenig anders gehabt. Den meisten gefällt es.
Es gibt neuerdings einen Trampelpfad quer über einen künstlichen Wall, und kürzlich habe ich ein Loch im Zaun zum Beachvolleyball-Feld entdeckt.
© LMd, Berlin