07.12.2023

Europas Verrenkungen

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Europas Verrenkungen

von Benoît Breville

Als der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski am 28. Februar 2022 – vier Tage nach Beginn des russischen Angriffs – über Facebook die Behörden in Brüssel aufforderte, sein Land „sofort per Sonderverfahren“ in die EU eintreten zu lassen, nahm das niemand wirklich ernst. Kommissionschefin Ursula von der Leyen war allerdings gleich begeistert: „Sie gehören zu uns, wir wollen sie bei uns haben!“ EU-Ratspräsident Charles Michel erinnerte jedoch an die geltenden Regeln, an die sich auch die Ukraine halten müsse. Daraufhin stellte Selenski einen formellen Antrag, um sein Land zum offi­ziel­len Beitrittskandidaten zu machen. Um diesen Status zu erlangen, hatten die Türkei zwölf, Bosnien-Herzegowina sechs und Albanien fünf Jahre gebraucht. Im Fall der Ukraine reichten vier Monate.

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Bis in die 2000er Jahre hatte die Erweiterung für die EU absolute Priorität, aber in den letzten zehn Jahren schien dieser Elan verbraucht. Vielen Ländern galt die Osterweiterung eher als Synonym für Sozial- und Steuer­dumping, Lähmung der EU-Institutionen und Uneinigkeit in der Außenpolitik. Durch den Krieg in der Ukraine wurden die Karten neu gemischt. Jetzt steht die EU-Erweiterung auf der Tagesordnung sämtlicher Gipfeltreffen. Die Rede ist von einer Union der 36, mit der Ukraine und Moldau sowie Georgien und dem Westbalkan. Für von der Leyen ist die Erweiterung „von entscheidender Bedeutung“, um den russischen und chinesischen Einfluss auf die Ränder des Kontinents zu minimieren.

Doch viele Fragen bleiben unbeantwortet: Wie werden die Mittel des Kohäsionsfonds, die Agrarsubventionen und die Parlamentssitze verteilt, wie die Nominierung von Kom­mis­sa­r:in­nen geregelt? Und wie kann man Pattsituationen vermeiden in den Bereichen, die derzeit noch Einstimmigkeit erfordern? Die europäischen Regierungschefs erklären, dass notwendige Reformen der EU-Institutionen vorausgehen müssen. Aber welche Reformen kann man sich vorstellen, die Griechenland und Deutschland, Spanien und Polen, Portugal und Ungarn gleichermaßen zufriedenstellen?

Das Europa der 1990er Jahre war gespalten in die reichen Staaten des Nordens und die Länder im Süden mit schwachen Währungen, die von Tourismus und Landwirtschaft abhängig waren. Mit der Erweiterung der 2000er Jahre kam eine weitere Spaltung zwischen Ost und West hinzu. Auf der einen Seite gab es relativ hohe Gehälter, gut ausgebaute Sozialsysteme und den Wunsch nach europäischer Selbstbestimmung – auf der anderen billige Arbeitskräfte und ein hartnäckiges Festhalten am Transatlantismus: Angesichts der russischen Bedrohung setzen die baltischen und die mitteleuropäischen Staaten auf die Nato als Sicherheitsgaranten.

Alles deutet darauf hin, dass der „alte Kontinent“ die Fehler der Vergangenheit wiederholen wird: prekäre Jobs und wachsende Unsicherheit in den ärmeren Schichten im Westen; ein Gefühl der Unterjochung im Osten. Dazu kommt die fortschreitende Unterordnung der EU unter die Führungsmacht USA, die sich im Niedergang befindet. Mit jeder Erweiterung zerlegt sich Europa weiter selbst.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 07.12.2023, von Benoît Breville