12.10.2023

Rembetiko – Griechenlands Musik des Schmerzes

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Rembetiko – Griechenlands Musik des Schmerzes

von Copélia Mainardi

Tino Geiss, Interieur, 2017, Klebeband, Lack auf Kapa, 70 × 100 cm
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Quadratische Tische, orangefarbene Fliesen, enge schmiedeeiserne Treppen: Das kleine Lokal, das irgendwie an ein Refektorium erinnert, wirkt auf den ersten Blick nicht gerade einladend. Doch Steki Pinoklis gilt in Athen als Ins­ti­tu­tion: Die Taverne ist für ihre Livemusik berühmt, die man bei Bier oder Raki und traditionellen Gerichten bis spät in die Nacht hören kann. Der Küchengrill qualmt, davor steht wortkarg und breitbeinig der Wirt hinterm Tresen, ganz in Schwarz, die Schirmmütze wie festgeschraubt auf dem Schädel. Allzu laute Gäste bringt er mit einer Handbewegung zum Schweigen. Hier singt man, oder man hält die Klappe. Die Regel hat sich offenbar bewährt: Alle sind sich einig, dass es in Athen keinen besseren Ort gibt, um Rem­be­ti­ko zu hören.

Rembetiko ist eine Musik, die verschiedene traditionelle Ausdrucksformen in sich vereinigt. In Griechenland fand sie im Lauf des letzten Jahrhunderts so starke Verbreitung, dass der Rembetiko mit der Zeit zu einem kulturellen Identitätsmerkmal des Landes wurde. Zwar existieren zahlreiche Geschichten zur Entstehung dieser Musik, aber konkrete historische Anhaltspunkte gibt es nur wenige.

Die Fachleute sind sich immerhin darin einig, dass die ersten Rembetika in den 1920er Jahren entstanden sind, als viele verarmte Bauern in die Städte strömten. Dort trafen sie auf ihre geflüchteten Landsleute aus Kleinasien, die mit dem Ende des Griechisch-Türkischen Kriegs, also seit Herbst 1922 aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Die Begegnung dieser verschiedenen Kulturen sorgte für eine kreative Mischung ihrer musikalischen Traditionen, die sich in den Vorstädten der wachsenden Metropolen Athen und Thessaloniki und in Hafenvierteln wie Piräus herausbildete und schnell Verbreitung fand. Die Lieder handelten von schwierigen Lebensumständen und plötzlichen Schicksalsschlägen, von der Unberechenbarkeit der menschlichen Existenz und den gesellschaftlichen wie politischen Umwälzungen der damaligen Zeit.

Begleitet wurden die Sängerinnen und Sänger von zwei traditionellen Ins­tru­menten: Das war zum einen die Bouzouki, eine Schalenhalslaute mit drei Paar Saiten und einem birnenförmigen Resonanzkörper, zum anderen ihre kleine Schwester, die Baglamas, eine nur 30 cm lange Miniaturversion, die eine Oktave höher gestimmt ist.

Unter der Diktatur von General Ioan­nis Metaxas (1936–1941) galt Rembetiko als unmoralisch, und die Musizierenden, die Rembetes, wurden polizeilich verfolgt, weil sie angeblich ein Lotterleben führten und ihre musikalischen Botschaften verdächtigt wurde, zu Ausschweifungen anzustiften.

Grundlage für dergleichen Urteile waren Texte, in denen von Haschisch gesungen wurde, von Raufereien mit der Polizei oder vom Elend des Lebens am Rande der Gesellschaft. Das reichte dem Regime schon als Begründung, die Texte der Rembetes zu zensieren oder ihre Instrumente zu zerstören. Zudem galten die orientalischen Wurzeln des Rem­be­ti­ko als unvereinbar mit den griechischen Werten, die Metaxas in seiner Ideologie der „Dritten griechischen Zivilisation“ propagierte und auf die klassische Antike und das Byzantinische Reich zurückführte.

Die Musik überdauerte diese repressive Periode im Untergrund – auch dank der geringen Größe der Bag­la­mas, die sich gut unter dem Mantel verstecken ließ. Auch später, unter der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, waren viele Lieder inspiriert von den harten Lebensbedingungen. 1941 schrieb der Komponist und Sänger Vasilis Tsi­tsa­nis (1915–1984) das Lied „Bewölkter Sonntag“, eine Ode an die Melancholie, die zu einem Hit mit durchschlagendem Erfolg wurde. Die Klagen des Rembetiko über die Verzweiflung des Einzelnen angesichts der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und Ungleichheit und des Verrats der Regierungen waren – wenn auch nicht unbedingt gewollt – stets politisch.

Nach dem Krieg wurden die Texte konformistischer, handelten von allgemeinen Dingen wie Liebe, Schmerz und Verlust. Der Rembetiko war nun nicht mehr auf das Milieu der winzigen Souterrain-Spelunken beschränkt, die Rembetes sangen jetzt auch in den besseren Athener Tavernen. Und als die Musikindustrie das Genre entdeckte, kamen ihm vollends die abgründigen und anrüchigen Anklänge seiner Anfänge abhanden.

In den 1950er Jahren wurde der Rem­be­tiko von ebenjener Bildungs­elite, die ihn einst verdammt hatte, vollends hoffähig gemacht. Heute würde niemand mehr diese Musik infrage stellen, die zur kulturellen Identität Griechenlands gehört. Und die darüber hinaus zur geografischen Integration beiträgt, weil sie die griechischen Re­gio­nen jenseits ihrer musikalischen und politischen Eigenarten vereint. Tsi­tsa­nis erhielt 1984 ein Staatsbegräbnis erster Klasse, und seit 2017 steht der Rembetiko auf der Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes.

Sein Echo ist sogar im Kino zu vernehmen. Ein  Song aus Quentin Tarantinos internationalem Kultfilm „Pulp Fiction“ (1994) basiert auf einem Rembetiko, der von Griechenland aus den ganzen Nahen Osten erobert hat. Das Lied mit dem Titel „Misirlou“ („Die Ägypterin“, ein Wort mit arabischen und türkischen Wurzeln) wurde in den 1920er und 1930er Jahren in mehreren Versionen von Rembetes interpretiert. 1941 schrieb Nikos Roubanis eine Jazzversion, die vielen Aufnahmen zugrunde liegt, die in der griechischen Di­aspora der USA – vor allem in New York – entstanden.

Lieder von Exil und Entwurzelung

In der Surfrock-Version von Dick ­Dale wurde das Lied 1963 zum Hit, der ein Jahr darauf von den Beach Boys gecovert wurde; 30 Jahre später fand es über den Soundtrack von „Pulp Fiction“ noch einmal ein Weltpublikum. So wurde der Rembetiko, ursprünglich eine rein nationale Musiktradition, zum Herzstück einer großen US-Produktion und zum Marketingobjekt ihrer hegemonialen Kulturindustrie.

Ein Montagabend im Athener Steki Pinoklis. Angekündigt ist der berühmten Bouzoukispieler Fotis Vergopoulos im Duett mit Jannis Niarchos, der singt und Gitarre spielt. Die beiden besprechen bei einem Glas Wein noch einmal den Ablauf ihres Auftritts, der mehrere Stunden dauern soll. Sie beginnen mit sogenannten Taximia, rhythmisch freien Instrumentalimprovisationen, zweistimmig.

Vergopoulos, stets auf der Suche nach neuen Ideen, brilliert mit Soli und Improvisationen. Während man in den 1970er und 1980er Jahren die Klassiker des Rembetiko möglichst perfekt zu imitieren suchte, nehmen sich die Musizierenden heute bei der Neuinterpretation des Repertoires gewisse Freiheiten. Versierte Interpreten entwickeln so durchaus etwas Eigenes, während sie den ursprünglichen Texten und Abfolgen treu bleiben. Und sie tun es oft mit einer Virtuosität, die der ihrer Vorgänger in nichts nachsteht.

In unserem Gespräch kommen wir, während sich das Restaurant allmählich füllt, plötzlich auf die Vorzüge des Schweigens: Man lauscht dem Rem­be­tiko hier mit nahezu religiöser Inbrunst, und das hat zweifellos mit einer bestimmten sozialen Funktion von Musik zu tun. „Der Musiker ist der Arzt des Herzens“, meint der französisch-griechische Künstler Stefanos Floras. „In Frankreich wird der Status des Künstlers oft politisch definiert, aber eigentlich ist er eine ganz eigene Kategorie. Ein Musiker hier muss in engem Kontakt mit den Menschen sein und mehrmals pro Woche etwas darbieten, das ganz eng mit den aktuellen gesellschaftlichen Problemen zu tun hat.“

In Europa gibt es wohl keine andere Metropole, in der man von montags bis sonntags in der ganzen Stadt noch so spät Livemusik hören kann. Denn Rembetiko ist mehr als Unterhaltung, es ist auch eine Art Ventil.

„Es handelt sich um das Zelebrieren einer kollektiven Feier, die sich aus der Interpretation der gemeinsamen Schmerzen ergibt“, formuliert es Nicolas Pallier, der sich seit Jahren mit dem Rembetiko beschäftigt. Als er 2011 nach Athen zog, hatte gerade die Protestbewegung die Straßen und Plätze erobert, bei den Demonstrationen tönten die bekannten Rembetika aus allen Lautsprechern. Pallier war fasziniert und begann die Geschichte dieser Musiktradition zu erforschen; derzeit übersetzt er eine Biografie von Markos Vamvakaris (1905–1972), einem Pionier des Rembetiko.

„Die Faszination des Rembetiko liegt im Gegensatz zwischen dem Ausdruck des Leidens darin und dem Genuss, den dieser Ausdruck bereitet“, sagt Pallier. „Die betörende Schlichtheit der Worte, und sei ihr Inhalt noch so grausam, wie auch der Melodien mit ihren Echo- und Wiederholungseffekten, können absolut euphorisierend wirken.“

Für die Sängerin und Akkordeonistin Haroula Tsalpara, die zurzeit sehr populär wird, ist dieses Repertoire insofern einzigartig, als es gegensätzliche Gefühle miteinander verschmelzen lassen kann. „Es gibt dafür auch ein Wort: Harmolypi, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für Traurigkeit und für Freude. „An den Orten, an denen die Menschen zusammenkommen, um diesen lebendigen organischen Rembetiko zu hören, trifft sich das, was das Salz des Gemeinschafts­lebens ausmacht: Essen, Alkohol, Musik und Tanz.“ Für Tsalpara ist die griechische Taverne das Herzstück einer Lebens- und Denkweise, die „näher an den Menschen dran ist“ und weit weg von der Konfektionsware, die das fette Musikbusiness hervorbringt.

In seiner riesigen Wohnung in der Nähe des Pedion-Aeros-Parks im Zen­trum Athens zeigt uns Panagiotis Kounadis die Reliquien vergangener Zeiten. Der über 80-jährige Sammler gründete in den 1960er Jahren einen Verein, um die großen Rembetiko-Legenden der Vergessenheit zu entreißen und ihr Vermächtnis über ihren Tod hinaus zu bewahren. Ringsum stehen Regale voller Aktenordner, Mappen und Zeitungsartikel, und überall stehen alte Grammofone herum. Mit seinen verstaubten Möbeln und den Katzen auf dem Sofa ist dieser Ort in mehrerer Hinsicht ein wahres Museum.

In einem Zimmer befindet sich das Tonarchiv mit über 10 000 Schallplatten, das Herzstück der Sammlung. Die Eifer, mit dem Kounadis für den Erhalt dieses Musikerbes kämpfte, trug dazu bei, dass der Rembetiko in den 1970er und 1980er Jahren wieder erwachte, nachdem er in den 1950er Jahren gegenüber dem Laïkó, schlagerähnlichen Ablegern, sehr an Popularität verloren hatte.

Der alte Mann mit dem dichten weißen Schnurrbart ist inzwischen einer der letzten Zeugen jener Zeit, als der Rem­be­tiko – Spiegel einer krassen politischen Spaltung – noch den Protest breiter Bevölkerungsschichten ausdrücken konnte. Damals artikulierten Ikonen die Stimmen aus dem Volk – wie der Komponist Mikis Theodorakis.

Der Schöpfer von Sinfonien, Opern und Filmmusiken entschloss sich erst relativ spät, Rembetiko-Elemente in seiner Musik zu verarbeiten. Doch sein Ruhm kam dem Genre Ende der 1960er Jahre sehr zugute. „Theodorakis bestand darauf, dass bestimmte Stücke von Arbeitern gespielt wurden, also von den Leuten, ohne die der Rembetiko niemals entstanden wäre“, erzählt der Historiker Olivier Delorme. „Für die Rechten war das ein Skandal, aber diese Künstler damals glaubten an die Musik als Instrument zur Erziehung der Massen.“

Wer heute Rembetiko hört oder spielt, verbindet damit keine politische Aussage mehr. „Das ist kein relevantes Unterscheidungsmerkmal mehr“, meint Nicolas Pallier. „Früher verachtete die Bourgeoisie diese Gedankenwelt einfacher Leute. Aber heute gibt es kaum noch gesellschaftliche Mi­lieus, in denen man auf den Rembetiko-Stil herabsehen würde.“ Dennoch haben auch die heutigen Lieder eine Inhaltsschwere an sich, die sich von den schlichteren Texten der volkstümlichen Schlager, der sogenannten Laïká, deutlich abhebt. Sie verleiht dem Rembetiko fast unbeabsichtigt eine politische Färbung, die dennoch eingängig ist.

„Rembetiko ist die einzige griechische Musik, in der von Gerechtigkeit für alle und Chancengleichheit die Rede ist“, sagt der Sänger und Bouzoukispieler Stelios Papadopoulos. „Armut, Einwanderung, Drogen, Tod, Krankheit: In der Wahrhaftigkeit dieser Texte finden die Musizierenden ebenso wie das Publikum Trost und ein neues Gleichgewicht.“

Heute ist der Rembetiko zwar kaum einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen, doch immer häufiger lassen sich junge Musikerinnen und Musiker wieder vom subversiven Geist der Anfänge inspirieren. „Das ist so, als würden sie ihre Muttersprache neu lernen, ihre Identität neu entdecken“, meint Haroula Tsalpara. Wer sich im Milieu der Rembetes bewege, zeige damit seinen Willen, „ein bereits bestehendes, antikapitalistisches Gesellschaftsmodell zu verteidigen, ohne das laut herausschreien zu müssen“.

Die Herausbildung des Rembetiko in den 1920er Jahren war in gewisser Weise eine Kulturrevolution der Arbeiterklasse. „Ein entscheidendes politisches Ereignis“, sagt der Musiker und Aktivist Argiris Nikolaou. Aber leider mit begrenzter Wirkung: „Das Genre hat insoweit versagt, als keine Verantwortlichen benannt oder Lösungen vorgeschlagen wurden, etwa in Form eines konkreten politischen Konzepts. Dennoch steht es für einen gewissen Widerstand gegen die Art von Schrott, mit dem der Kulturimperialismus der Musikindustrie uns zumüllt.“

Die einst apfelgrün, blassrosa und graubraun gestrichenen Wände des Kulturzentrums Pi Steki müssten dringend renoviert werden. In dem selbstverwalteten Projekt im Norden Athens  werden unter anderem Kurse angeboten. Freitags gibt Angelos Skouras Bouzouki-Unterricht – gegen Spenden. Der 36-jährige Musiker, die langen braunen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, versteht sich zwar als Musikprofi, aber seinen Lebensunterhalt verdient er bei einem Tonstudio im Stadtzentrum, wo er elektronische Geräte repariert. Eine solche Lebensweise ist in Athen (wie anderswo) weit verbreitet: Ohne Improvisation und gegenseitige Unterstützung können Musikerinnen und Musiker unter den hiesigen sozialen und ökonomischen Verhältnissen kaum überleben. An diesem Abend mühen sich zehn Lernwillige ab, die Noten auf der großen, weißen Tafel mit ihren Bouzoukis in tönende Akkorde zu übersetzen. Auf dem Tisch halbvolle Aschenbecher, Colaflaschen und Rotwein in Plastikbechern.

Das Kulturzentrum ist eine Mischung aus besetztem Haus und Volkshochschule. Hier sollen Leute zusammenkommen, die gemeinsame Werte und ähnliche Interessen haben, wozu auch die Bouzouki gehört. Dieses symbolträchtige Instrument hat eine wechselvolle und ziemlich erstaunliche Karriere hinter sich: In den 1930er Jahren war sie noch verboten, heute ist sie der Stolz der Nation. Ähnlich ambivalent stellt sich die Geschichte des Rembetiko dar – wie eigentlich die gesamte griechische Geschichte in ihrem Hin und Her zwischen Orient und Okzident.

Die ersten Bouzoukis aus Kleinasien hatten noch keine metallischen Bundstäbe, wie sie auf den Griffbrettern von Gitarren, Mandolinen und Banjos die Notenintervalle markieren. Allenfalls wurden Berdedes benutzt, bewegliche Bünde, die unregelmäßig in Halb- und Vierteltonschritten positioniert wurden, entsprechend den typischen, komplexeren Intervallen der orien­talischen Tonleitern.

Im Griechenland der 1920er Jahre wurden die Instrumente von Gitarrenbauern so mit Bundstäbchen ausgestattet, dass man darauf die wichtigsten, sogenannten temperierten, westlichen Tonleitern spielen konnte. Diese Veränderung schränkte zwar den musikalischen Spielraum der Bouzouki ein, begünstigte aber das Zusammenspiel mit anderen westlichen Saiteninstrumenten wie der Gitarre.

Manche griechischen Autoren, denen die türkischen oder persischen Ursprünge der Bouzouki nicht passte, verwiesen gern auf antike griechische Vorfahren wie die Panduri. Dabei zählte auch die Saz, die Laute der osmanischen Kultur, zu ihren Vorgängerinnen.

Die Streitigkeiten über den Ursprung und die richtige Spielweise der Bouzouki ziehen sich durch die gesamte Geschichte des Rembetiko – und spiegeln damit zugleich die Wechselfälle einer permanenten Identitätssuche.

Vom Ausland mal als Europas Klassenletzter, mal als Balkanlokomotive gescholten oder gepriesen, war Hellas stets ein Land der Grenzen: Zwischen zwei Küsten, zwei Geschichten und zwei Kontinenten balancierte es stets zwischen Ost und West. Einerseits hält es die westlichen Werte hoch, um sich vom Nachbarn Türkei abzugrenzen, andererseits verwies es auf sein östliches Erbe, als ihm der Glaube an die europäische Integration abhanden kam.

Diese ständige existenzielle und geopolitische Zerreißprobe kennzeichnet auch die Geschichte des Rembetiko. In den 1930er Jahren wurde das Genre hauptsächlich wegen seiner orien­ta­li­schen Anklänge verboten. 1949 verglich der Komponist Manos Hadji­dakis den Rembetiko mit der griechischen Tragödie und verhalf ihm damit zu nationalen Würden: Er verbinde auf ähnliche Weise Sprache, Musik und Tanz miteinander, worin er „authentisch griechisch“ sei.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zum Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1981 hatte sich Griechenland stets auf sein Erbe der klassischen Antike als „Wiege der Demokratie“ berufen. Als in den 1980er Jahren die EU-Begeisterung abflaute, drehte sich der Wind, und man besann sich wieder mehr auf kulturelle osmanische Wurzeln, zum Beispiel auf ein Instrument wie die Oud.

Heute akzeptieren die Griechinnen und Griechen ihre zweifache Identität auf individueller wie auf kollektiver Ebene, dank einer Rückbesinnung, die sich sowohl mit dem Verhältnis zur Türkei auseinandersetzte als auch den Zusammenhang mit nichtgriechischen Kulturen betrachtete, die man aus dem nationalen Narrativ verbannt hatte.

„Bis in die 1950er Jahre wollte man den Beitrag der Flüchtlinge aus Kleinasien und die doppelte griechische und türkische Kultur verleugnen“, konstatiert Olivier Delorme, denn das hätte die behauptete „rein griechische“ Identität gefährdet. Die Wiederentdeckung dieses zweifachen Erbes erfolgte erst, als die nächste Generation nach ihren Wurzeln suchte: „Es ist die übliche Geschichte: Die direkten Nachfahren wollen alles vergessen und sich integrieren, während die Enkelinnen und Enkel dann wieder nach Erinnerungen suchen.“

Bis heute ist diese Rückbesinnung keine neutrale Tätigkeit: Wer sich traut, die türkisch-osmanische Vergangenheit neu zu erkunden, beweist damit eine weitsichtige politische Sensibilität. Die Musik kann zum Träger einer solchen historischen Spurensuche werden und Griechinnen und Griechen von heute ins Gedächtnis rufen, dass sie nicht alle aus dem heutigen Staatsgebiet ­stammen.

Daran erinnert Olivier Delorme: „Ungefähr ein Viertel der Griechinnen und Griechen stammt direkt von Geflüchteten ab. Das muss man sich mal vorstellen: In einem Land mit nur knapp 5 Millionen Einwohnenden kamen fast 1,5 Millionen Geflüchtete an!“ Nahezu alle Probleme des modernen Griechenlands seien auf diese frühere Erschütterung der Gesellschaft ­zurückzuführen: „Man stelle sich vor, wie viele vormals gut situierte, angesehene Familien in einem Land ankamen, in dem sie plötzlich nichts mehr galten.“

Der Rembetiko, der von Exil und Entwurzelung singt, hat diese Erinnerungen bewahrt, er vermag die historischen Wendungen und den inneren Rhythmus Griechenlands zu vergegenwärtigen.

Vielleicht ist das der Grund, warum diese Musik nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Ihre große Leistung besteht darin, in sich zu ruhen und zugleich in Bewegung zu bleiben. Unwandelbar, unantastbar und fast sakral verehrt – und zugleich ständig erneuert, dem Wandel der Geschichte, des Pu­blikums, der Gesellschaft und der Spieltechniken der Rembetes folgend.

Deren Lieder sind nie ein Aufruf zum politischen Kampf, aber sie erzählen von den Schwierigkeiten, sich aus unerträglichen Lebenslagen zu befreien und die Verzweiflung in Wut zu verwandeln. Seit dem Referendum über das Schuldendiktat der EU vom Sommer 2015 und dem anschließenden „Verrat“ der linken Regierung herrsche allgemeine Resignation, meint Pallier. Hier und da komme es noch zu sehr vereinzelten Aktionen, aber niemand scheine mehr an den Sinn politischer Kämpfe zu glauben: „Die politische Klasse hat es geschafft, den Widerstand völlig unsichtbar zu machen, die Leute total niederzuhalten.“

Zwar flammten noch einmal wütende Proteste auf, etwa als im vergangenen Februar beim Frontalzusammenstoß von zwei Zügen in der Nähe des Tals von Tempi 57 Menschen ums Leben kamen. Aber die Empörung über das Versagen und den Zustand der nationalen Eisenbahn hielt nicht lange an. „Die Leute im Lande haben einfach keine Kraft mehr, sich zu wehren“, kommentiert Pallier.

Die junge Generation, die erleben muss, wie die politische Führung ihres Landes alle sozialen Errungenschaften abschafft, und die sich zu Prekariat und Schwarzarbeit gegen einen Hungerlohn verurteilt sieht, scheint den Rembetiko besonders zu schätzen. In dieser Generation herrscht heute die unerschütterliche Überzeugung: Griechenland wird immer in der Krise sein. Und immer, wenn es eine Krise gibt, wird der Rembetiko da sein. Er lässt einen niemals im Stich.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Copélia Mainardi ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Copélia Mainardi