10.06.2005

Claude Julien ist tot

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Claude Julien ist tot

von Ignacio Ramonet

Claude Julien, von Januar 1973 bis Dezember 1990 zunächst Chefredakteur, dann Direktor von Le Monde diplomatique, ist am 5. Mai 2005 im Alter von 80 Jahren gestorben. Als außergewöhnliche Persönlichkeit mit starken Überzeugungen, einzigartigem Talent und umfassender Bildung prägte Claude Julien die Geschichte dieser Zeitung. Er hatte entscheidenden Einfluss auf Generationen junger Journalisten, die seine Charakterstärke schätzten, seinen Stil, seine Überzeugungen, sein Engagement und sein leidenschaftliches Eintreten für einen respektlosen Journalismus, für eine gerechtere, friedlichere und solidarischere Welt.

Für die Redaktion von Le Monde diplomatique ist Juliens Tod ein schwerer Verlust, lehrte er uns doch die in Zeiten medialer Feigheit unerlässliche Pflicht zur Respektlosigkeit. Unsere Zeitung verdankt ihm praktisch alles, was ihre Identität ausmacht: ihre herausgeberische Linie, ihre Auffassung von anspruchsvollem Journalismus, der Einbildungskraft mit Strenge und Präzision verbindet, ihre Nüchternheit und Bescheidenheit, ihre Ablehnung jedweder geopolitischen Hegemonie, jedes Wirtschaftsdogmas, das die Macht des Geldes stärkt, jedes Anspruchs welcher Kultur auch immer auf Weltherrschaft.

Claude Julien kam am 17. Mai 1925 in Saint-Rome-de-Cernon (Aveyron) in einer kinderreichen, bescheiden lebenden Familie zur Welt. Als Heranwachsender beteiligte er sich am Widerstand gegen die Nazi-Besatzer, mit neunzehn gründete er in Castres (Tarn) die Zeitung Debout. Er war Mitglied der Katholischen Arbeiterjugend und bekam ein Stipendium, das ihm das Studium der Politikwissenschaften an der katholischen Universität Notre Dame in South Bend unweit von Chicago ermöglichte.

Nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1949 arbeitete er bei der Wochenzeitung La Vie catholique illustrée, bevor er 1951 im Alter von 26 Jahren Chefredakteur der Tageszeitung La Dépêche marocaine wurde, die im damals unter internationaler Verwaltung stehenden Tanger erschien. Er blieb nicht lang in Marokko, weil er sich mit seinem Eintreten für die Unabhängigkeit des Landes schnell unbeliebt gemacht hatte und an die Luft gesetzt wurde. Zurück in Paris, machte er eine Bekanntschaft, die seinen Werdegang entscheidend prägen sollte. Auf Empfehlung des Chefredakteurs von La Vie catholique, Georges Hourdin, lernte er den Le-Monde-Gründer Hubert Beuve-Méry kennen, der ihn im Ressort Außenpolitik einstellte.

In den nächsten zwanzig Jahren arbeitete Claude Julien für Le Monde – und wurde zur grande plume der Tageszeitung. Er schrieb Reportagen über die USA, die gerade den Koreakrieg hinter sich hatten, und entwickelte sein journalistisches „Markenzeichen“: leidenschaftliche Queranalysen, packende Erzählungen, in die er Alltagseindrücke, soziologische Dimensionen, politische Betrachtungen, wirtschaftliche Fakten und kulturelle Reflexionen einfließen ließ. Und er schrieb brillante Bücher über Amerika: „L’Amérique en révolution“ (1956) und „Le Nouveau Nouveau Monde“ (1960).

Claude Julien war einer der ersten Journalisten, die sich ernsthaft mit den Umwälzungen in Kuba beschäftigten, einem Land, das ihn fesselte, das er noch vor dem Sturz des Diktators Batista besuchte und dessen Revolution er nahen sah. 1961 erschien sein Buch „La Révolution cubaine“. Ein weiteres Land, an dem er lebhaftes Interesse zeigte, war Kanada. In dem Riesenland sah er den möglichen Widerpart zum US-amerikanischen Expansionismus.

Unterdessen war Julien zum Chef des Auslandsressorts von Le Monde aufgerückt. Unersättlicher Leser, neugierig, humorvoll, mit den klügsten Köpfen vertraut und mit bedeutenden Schriftstellern aus In- und Ausland befreundet, schuf er mit Le Monde des Livres die wöchentliche Literaturbeilage der Zeitung. Er galt vielen als der beste Kenner der USA, 1968 erschien sein bekanntestes und meistübersetztes Buch, „Das amerikanische Imperium“, das die Protestgeneration gegen den Vietnamkrieg stark beeinflusste.

Während eines Sabbaticals 1971 durchreiste er die Welt und vor allem China. Nach seiner Rückkehr wurde er Chefredakteur von Le Monde diplomatique, der von Beuve-Méry 1954 gegründeten, zu Le Monde gehörigen Monatszeitung. Das Blatt, das sich im Untertitel als „Zeitung der diplomatischen Kreise und großen internationalen Organisationen“ bezeichnete, richtete sich vornehmlich an Botschaftsangehörige. Die Beiträge waren von Journalisten des Le-Monde-Auslandsressorts verfasst, die sich an die herausgeberische Linie von Le Monde hielten.

Mit der Ernennung von Claude Julien sollte sich das ändern. Julien drückte der Monatszeitschrift seinen Stempel auf. Man kann sagen, dass er Le Monde diplomatique gemeinsam mit Micheline Paunet neu gründete. Er änderte Logo und Layout, krempelte die Rubriken um und erweiterte den Themenbereich um Fragen aus Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Geistesleben. Er legte eine schier unerschöpfliche Kreativität bei den Themen, Tonlagen und der Seitengestaltung an den Tag, widmete den unabhängig gewordenen Ländern des Südens mehr Platz, band große Autoren an das Blatt. Und er machte die Zeitung selbstständig. Er stellte talentierte junge Leute ein, die ihre Sporen nicht bei Le Monde verdient hatten, und verschaffte der Monatszeitung damit redaktionelle Unabhängigkeit. Gleichwohl blieb das Blatt weiter unter dem Dach von Le Monde.

Weil ihm die redaktionelle Unabhängigkeit allein nicht reichte, bemühte sich Claude Julien während der Achtzigerjahre um betriebswirtschaftliche Autonomie. Nach und nach wurde über Le Monde diplomatique getrennt Buch geführt. Schließlich akzeptierte der neue Direktor von Le Monde, André Fontaine, die Einrichtung eines Orientierungsausschusses, einer Art Verwaltungsrat, dem Claude Julien vierteljährlich Bericht erstattete und der bis zur Gründung der eigenständigen Gesellschaft „Le Monde diplomatique SA“ bestand.

Nach seinem Abschied von Le Monde diplomatique im Dezember 1990 wurde Claude Julien zum Vorsitzenden der „Ligue Française de l’Enseignement et de l’Éducation Permanente“ ernannt, ein Amt, das er bis 1998 bekleidete.

Sein Tod ist ein schwerer Verlust, der die Mitarbeiter von Le Monde diplomatique mit tiefer Trauer erfüllt. Wir möchten seiner Witwe Jacqueline, seinen Kindern und Enkelkindern unsere Anteilnahme, Freundschaft und Solidarität bekunden.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2005, von Ignacio Ramonet