12.10.2023

Brief aus Brčko

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Brief aus Brčko

von Sead Husic

Am Stadtrand von Brčko IEVA HUSIC
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Ende der 1980er Jahre hatten wir in Brčko, unserer kleinen jugoslawischen Stadt, alle dieselben Helden. Wir waren die Kinder und Jugendlichen aus den Wohnsiedlungen von Novo Brčko, unweit des Zentrums der damals 50 000 Einwohner zählenden Stadt. Zu unseren Helden zählte natürlich Tito, der mutige Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg, der alle Feinde besiegt und den neuen jugoslawischen Staat gegründet hatte. Auch wenn er schon 1980 gestorben war, so lebte seine Legende fort. An vielen Häuserwänden der Stadt konnte man Sätze lesen wie: „Druže Tito mi ti se kunemo da sa tvoga puta ne skrenemo!“ (Genosse Tito, wir schwören dir, dass wir deinen Weg nie verlassen werden) oder „I posle Tita Tito!“ (und nach Tito Tito!).

Zu den allseits beliebten Stars gehörte außerdem die berühmteste Tochter von Brčko: Lepa Brena, die „schöne Brena“, mit bürgerlichem Namen Fahreta Jahić. Sie war ein jugoslawischer Superstar, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte. Ihre Schlager wurden im ganzen Land gehört, und die seichten Kino-Komödien, in denen sie mitspielte, brachen in den Teilrepubliken von Slowenien bis Mazedonien sämtliche Kassenrekorde.

Lepa Brena hatte lange blonde Haare, lange Beine und alle weiblichen Attribute, die sie zu einer jugoslawischen Marilyn Monroe machten. In einem ihrer Filme war sie im knappen Bikini an der kroatischen Küste zu sehen und bescherte uns pubertierenden Jungs schlaflose Nächte. Die Mädchen ihrerseits imitierten Lepa Brena, indem sie ihre Art zu lachen nachahmten und ihre Lieder sangen. Es gab sogar eine Brena-Barbie-Puppe, die reißenden Absatz fand.

Die Eltern von Lepa Brena wohnten in unserer Siedlung, und man begegnete ihnen mit besonders großem Respekt. 1988 berichteten die Medien, dass Lepa Brena und der Tennisspieler Slo­bo­dan Živojinović ein Paar seien. Auch Slobodan Živojinović, Spitzname Boba, wurde landesweit verehrt. Boba war ein fast zwei Meter großer, muskulöser Hüne mit schwarzen Haaren und einem der härtesten Aufschläge der Welt.

Vor allem aber verkörperte er wie kein Zweiter eine balkanische Lässigkeit. Diese bewies er etwa 1985 im Viertelfinale der Australian Open gegen den US-Amerikaner John McEnroe, damals einer der weltbesten Tennisspieler. Während sich McEnroe, berühmt-berüchtigt für sein aufbrausendes Temperament, in eine Diskussion mit dem Schiedsrichter verstrickte, nahm Ži­vojino­vić zwischen den Zuschauern Platz, bestellte bei einem Kellner ein Glas Wasser und biss genüsslich in ein Sandwich, was den Amerikaner vollends aus der Fassung brachte. Boba gewann das Match im fünften Satz. Ein Junge aus der Siedlung, den alle Brane nannten, sagte: „Wir Jugoslawen sind einfach die coolsten und besten der Welt.“ Und alle stimmten zu.

Dass sich unser Land zu diesem Zeitpunkt längst in Auflösung befand, bekamen wir nicht mit. In Brčko lebten Muslime, Serben, Kroaten, Roma und Albaner Tür an Tür. In unserer Clique, zu der Saša, Sead, Ivan, Toska, Brane, Edin, Azur, Dino, Lejla, Mirela, Sanela, Sabina und viele andere gehörten, waren alle Religionen und Nationen vertreten. Wir wären nie im Leben auf die Idee gekommen, dass wir uns feindlich gegenüberstehen könnten. Und dass die Muslimin Fahreta und der orthodoxe Serbe Slobodan eine Liebesbeziehung führten, bewies nur umso mehr, dass wir Teil einer großen Gemeinschaft waren.

In der Mittagsstille eines sengend heißen Augusttags 1988 tauchte Boba in unserer Siedlung auf. Er besuchte Fahretas Eltern. Wie sich später herausstellte, hielt er an diesem Tag ganz traditionell bei ihrem Vater um ihre Hand an. Ivan, mit neun Jahren der Jüngste unserer Clique, hatte den Tennisstar vom Balkon aus erkannt. Er lief sofort aus dem Haus, rannte durch die Straßen der Siedlung und schrie aus vollem Hals: „Leute, Boba ist hier, kommt raus!“

Innerhalb weniger Minuten versammelten wir uns vor dem Haus von Bre­nas Eltern und warteten ungeduldig auf unser Idol. Stunden vergingen. Als er dann tatsächlich erschien, schrien wir alle seinen Namen und baten um Autogramme. Er gab sie uns, lächelte sanft und streichelte uns über die Köpfe.

Nach diesem Ereignis organisierten wir ein Tennisturnier. Als Centercourt diente uns der Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude des Elektrizitätswerks, das direkt neben unserer Siedlung stand. Eine drei Meter breite Treppe führte ins Hochparterre des Gebäudes, sie wurde unsere Tribüne. Akkurat malten wir mit weißer Farbe die Linien auf den asphaltierten Platz. Daneben schrieben wir „Wimbeldon“.

Dass es falsch geschrieben war, fiel damals niemandem auf. Wir spannten ein Netz, das wir uns aus einigen Nylonsäcken zusammengenäht hatten, und spielten mit Plastikschlägern und einem Softball. Auf den Treppen saßen die Zuschauer und jubelten oder buhten bei jedem Ballwechsel. Wir stritten, ob Bälle im Aus waren, und imitierten dabei McEnroe, während der andere Spieler sich auf die Treppe setzte und so tat, als verspeise er ein Sandwich.

Die Verwaltungsbeamten ließen uns gewähren. Manchmal schauten sie aus den Fenstern und klatschten. Sobald Autos auftauchten, um vor dem Gebäude zu parken, hüpfte Ivan zum Fahrer und erklärte mit ernster Miene, dass wir Freunde von Lepa Brena und Boba seien und hier spielen dürften. Die Fahrer wendeten, ohne weitere Fragen zu stellen. Auch wenn wir nur mit Softbällen und Plastikschlägern spielten, blieben Passanten stehen, um uns zuzugucken. Unser Eifer und unsere Freude schienen sie zu faszinieren. Verbissen zogen wir ein Match nach dem anderen durch und stellten uns vor, wir stünden auf dem Rasen unter der königlichen Loge in Wimbledon oder bei den US Open auf dem Court Number One.

Unser letztes Tennis-Match fand im September 1990 statt. Im folgenden Jahr herrschte in Kroatien bereits Krieg und schon bald sollte der serbische Aggressionskrieg auch nach Brčko kommen. Am 1. Mai 1992 griff die jugoslawische Volksarmee gemeinsam mit paramilitärischen serbischen Verbänden die Stadt an.

Alle Nicht-Serben mussten verschwinden, um Platz zu machen für das ethnisch reine großserbische Reich, das Slobodan Milošević errichten wollte. Tausende Muslime, Roma und Kroaten steckte man ins Lager Luka. Dort verübte man schreckliche Gräuel an den Insassen. Aus den Gerichtsakten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) geht hervor, dass hier hunderte Menschen ermordet wurden. Einer der Folterer nannte sich selbst Adolf.

Es gibt Fotos, auf denen zu sehen ist, wie serbische Paramilitärs in der Nähe von unserem alten Tennisplatz auf offener Straße Menschen erschießen oder anderen, die am Boden liegen, mit Armeestiefeln die Köpfe eintreten.

Während der Jugoslawienkriege (1992 bis 1995) gehörte Brčko zu den am heftigsten umkämpften Gebieten. Denn in dem neu entstandenen Staat Bosnien-Herzegowina lag die Stadt an einem strategisch wichtigen Ort.

Für die bosnische Regierung war der Zugang zu internationalen Gewässern wichtig: Die Save, die durch Brčko fließt, mündet bei Belgrad in die Donau. Und für die selbsternannte Republika Srpska (Serbische Republik, RS) in Bosnien war Brčko die einzige Verkehrsverbindung zwischen dem östlichen und westlichen Teil ihres Landes.

Nachdem der Krieg dank des Eingreifens der USA mit dem Friedensvertrag von Dayton beendet wurde, erhielt der Distrikt Brčko den Status eines Sonderverwaltungsgebiets und einen eigenen Internationalen Supervisor, der ähnlich wie der Hohe Repräsentant für ganz Bosnien und Herzegowina über die Umsetzung des Friedensabkommens wachen sollte.

Heute dient der Distrikt Brčko als Vorbild für die Integration des Staates. Viele der Vertriebenen sind zurückgekehrt. Zerstörte Siedlungen wurden wieder aufgebaut. Die Infrastruktur, öffentliche Einrichtungen und die Behörden funktionieren im Landesvergleich besser, heißt es allenthalben. Serbische, bosniakische und kroatische Kinder gehen gemeinsam zur Schule. Doch sie haben ihre je eigenen Versionen davon, was im Krieg geschah.

Es gibt in den überwiegend von Serben bewohnten Stadtteilen Denkmäler für die serbischen Helden, während im Zentrum ein Denkmal für die bosniakischen Opfer von Vertreibung und Massenmord errichtet wurde. Mehr als 23 Jahre nach Kriegsende ist die Lage in Brčko angespannt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine droht RS-Präsident Milorad Dodik mit Abspaltung.

Dodik ist ein enger Verbündeter Putins. Er sagt vollkommen offen, dass er nur auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um seine Drohung in die Tat umzusetzen. Brčko stünde dann erneut im Zentrum des Konflikts.

Angeblich hat Dodik in den letzten zwei Jahren tausende Wagner-Söldner ins Land geschleust, die nur auf ein Zeichen warten, um loszuschlagen. Tatsächlich sieht man in den serbischen Cafés und Clubs der Stadt auffällig viele Männer sitzen, die Russisch sprechen und T-Shirts mit einem aufgedruckten Z tragen – das Symbol für den russischen Angriffskrieg.

Bis vor wenigen Jahren waren die Linien unseres Tennisplatzes noch sichtbar. Mittlerweile wurde der Asphalt erneuert. Jetzt bucht man die Parkplätze online. Die Wohnsiedlung sieht noch so aus wie damals. Sie blieb vom Krieg verschont. Ich habe mehrfach versucht, jemanden von früher wiederzufinden. Erfolglos. Brane, Toska, Saša, Azur, Lejla und die anderen haben vielleicht dieser Stadt für immer den Rücken gekehrt. Im besten Falle.

Die serbischen, kroatischen und bosniakischen Jugendlichen in Brčko haben schon lange nicht mehr dieselben Helden. Wenn man nordwärts aus der Stadt fährt, Richtung kroatische Grenze, sieht man an einer Hauswand das Porträt von Ratko Mladić. Mladić war von 1991 bis 1995 RS-General und wurde wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Für die Mehrheit der Serben ist er ein Idol.

Sead Husić lebt und arbeitet als freier Autor und Schriftsteller in Berlin und Brčko. 2024 erscheint sein neuer Roman über das Lukiškės-Gefängnis in Vilnius im BaltArt-Verlag.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.10.2023, von Sead Husic