Politik der Feindschaft
von Charlotte Wiedemann
Empathie ist in diesen Tagen ein missbrauchter Begriff. Selten ist damit der schwierige Versuch gemeint, den Schmerz eines anderen tatsächlich zu begreifen und dafür eine politisch-historische Perspektive einzunehmen, die auf der eigenen Seite nicht hegemonial ist. Im Deutschland der Staatsräson wurden Palästinenser nicht einmal dann an den Tisch des öffentlichen Gesprächs gebeten, als in Gaza Mütter ihren Kindern mit Filzstift den Namen auf den Arm schrieben, auf dass sie nicht anonym beerdigt würden. Zu dem vielen, was in diesen Wochen zerbricht, an Hoffnungen, Träumen, Vertrauen, gehört auch dies: Wir wissen nun, wie dünn die humanistische Substanz unserer Erinnerungskultur ist.
Zerbrochen ist zuerst die jüdische Hoffnung auf Sicherheit in einer Post-Shoah-Welt. So richtig das Argument sein mag, Israels Sicherheit sei immer schon eine schlecht konstruierte gewesen und auf Unrecht lasse sich ohnehin kein sicheres Haus bauen: Das Geschehen vom 7. Oktober hat eine in jeder Hinsicht eigene traumatische Qualität. Wer sich davon nicht erschüttern ließ, hat offenkundig nie Edward Said gelesen, sein eindringliches Plädoyer, „die jüdische Erfahrung mit allem, was sie an Schrecken und Angst zur Folge hat, (zu) akzeptieren“.
Die Zumutung, so nannte es Said, unter den Bedingungen fortdauernden palästinensischen Leids die historische Komplexität des Konflikts anzuerkennen, ist vielleicht nie wirklich angenommen worden. Aber in diesen Wochen haben viele Palästinenser innerhalb Israels den jüdischen Schock eher verstanden als manche westlichen Solidaritätsformationen. Nichts kann die Massakrierung Wehrloser aufwiegen, keine Geschichte vorheriger Unterdrückung und Entrechtung, und auch nicht die Zahl der über Jahre akkumulierten Toten.
Über dem gekrümmten Körper einer malträtierten Frau triumphierend den Ruf „Allahu Akbar“ auszustoßen, pervertiert die fromme Demut der Aussage „Gott ist größer“ ins nihilistische Gegenteil: Ich bin Gott! Viele Muslime schmerzt dieser Anblick individuell zutiefst, er beleidigt ihren Glauben, und doch hat sich ein Klima ausgebreitet, in dem es als Verrat erscheint, diesen Schmerz zu artikulieren. Vielleicht war dies das Kalkül der Hamas: Alle Perspektiven friedlicher Koexistenz zu vernichten – das heißt die Möglichkeit, sich wechselseitig als verwundbar anzuerkennen und daraus etwas Gemeinsames zu konstruieren. So hat es Achille Mbembe in seinem Essay gegen die „Politik der Feindschaft“ formuliert.
Die Politik der Feindschaft ist ein rechtes, rechtsextremes Konzept, und wer das nicht erkennt, erliegt ihr. In einer globalen Linken, die über kaum ein anderes attraktives Projekt von Emanzipation und Befreiung verfügt, ist die Palästina-Solidarität zu einem One-fits-all der politischen Bedürfnisse geworden, als kreuzten sich hier sämtliche Ungerechtigkeiten der postkolonialen Welt.
Das war vorher schon heikel, nun ist es fatal. Wer gewalttätigen Judenhass mit der Subalternität der Täter rechtfertigt, hat alle Kapazität zur Grenzziehung nach rechts verloren. Nun eignen sich autoritäre Führungen weltweit die Causa Palästina an, Antisemitismus als Brot für die Armen. In Tunesien wird heute zum Angriff auf eine Synagoge so ermuntert wie gestern zur Jagd auf Schwarze Einwanderer.
Charlotte Wiedemann