Brief aus Florida
von Nicholas B. Miller
Florida ist ein seltsamer Ort: Die Alterspyramide steht auf dem Kopf, und die heimischen Lebewesen sind berüchtigt bis gefährlich – von den Millionen Alligatoren bis zum Internet-Meme namens „Florida Man“. Die allermeisten der inzwischen 22 Millionen Einwohner:innen Floridas werden regelmäßig von Hurrikans heimgesucht, was die Zukunftsfähigkeit des Staats gefährdet.
Die Bevölkerung der größten Stadt Miami ist überwiegend spanischsprachig. Die großen Touristenmagnete, die Themenparks von Orlando, sind Kopien irgendwelcher anderer Orte. Und was die regionalen Eigenarten angeht, wird in Florida die Logik der Himmelsrichtungen außer Kraft gesetzt: Je weiter man nach Norden kommt, desto stärker wird das Südstaatenflair.
Florida ist schon länger so. Doch seit ein paar Jahren löst die Bemerkung, dass man im Sunshine State lebt, ein gewisses Misstrauen oder auch Spekulationen über die Beweggründe aus: Findet man womöglich die immer weiter nach rechts abdriftende Regierung toll? Oder ist die Begeisterung über die Strände, die Hitze und die niedrigen Steuern so groß, dass man das soziale Gewissen einfach abschaltet?
Wie viele andere bin ich erst in jüngster Zeit, kurz nach Beginn der Coronapandemie hergezogen. Was mich herführte, war weder das subtropische Klima noch das laxe Pandemie-Regime, sondern eine berufliche Aufstiegschance. Mir wurde eine Professur angeboten in einer vom Aussterben bedrohten Disziplin: Geschichte der frühen Neuzeit. Und so flog ich von Westeuropa über den Atlantik in der freudigen Erwartung, Bachelor-Studierende für die Interpretation historischer Quellen zu begeistern.
Gleich am ersten Unitag holte mich die politische Realität der Trump-Ära ein. Noch bevor ich meine Einführungsvorlesung über den Begriff der abendländischen Zivilisation beginnen konnte, fragte mich ein junger Mann, wann meiner Meinung nach der nächste Bürgerkrieg in den USA ausbrechen werde. Die junge Frau neben ihm trug eine Stoffmaske mit der Aufschrift „Make America Great Again“, die sie demonstrativ unterhalb der Nase platziert hatte. Links neben den beiden saß eine Person, die sich als „gender non-conforming“ vorstellte und als „Che“ angesprochen werden wollte, um damit einen „great Latinx leader“ zu würdigen. Eher ungewollt fand ich mich inmitten des amerikanischen Kulturkampfs wieder.
Das College in St. Augustine, an dem ich unterrichte, ist kein akademischer Elfenbeinturm. Der von Palmen umgebene Bau war früher das Ponce de Léon Hotel, errichtet während des „Gilded Age“, der wirtschaftlichen Blütezeit der USA gegen Ende 19. Jahrhunderts. Um 1900 logierte hier die New Yorker Schickeria.
Der von der spanischen Renaissance inspirierte Baustil vermittelt eine Ahnung davon, dass St. Augustine einmal der Mittelpunkt der spanischen Kolonie in Florida war. Der Name des Hotels erinnerte an den spanischen Conquistador Juan Ponce de Léon, dem die Nachwelt den Mythos von der Suche nach dem Jungbrunnen angedichtet hat. Von meinem Büro im fünften Stock kann ich die Atlantikbrandung sehen, und ein spanisches Fort aus dem 17. Jahrhundert, dessen Mauern aus „Coquina“ (Muschelkalk) errichtet wurden. Manchmal sehe ich auch eine Frau mittleren Alters, die seit November 2020 immer wieder eine Flagge mit der Aufschrift „Trump Won“ durch die Straßen trägt.
Über einige der bizarrsten Episoden des Kulturkampfs, der unter anderem in den Bildungsinstitutionen ausgefochten wird, dürften auch europäische Medien berichtet haben. In Florida werden reihenweise Bücher aus Schulen und öffentlichen Bibliotheken verbannt, Psychologie und afroamerikanische Geschichte aus Highschool-Lehrplänen gestrichen. Zu trauriger Berühmtheit gelangte eine staatlich finanzierte Privatschule im Norden Floridas, die mit ihrem „klassischen“ Curriculum wirbt. Die Direktorin musste ihren Hut nehmen, nachdem – ohne zuvor die Eltern zu informieren – Schüler:innen im Unterricht der nackte David Michelangelos gezeigt wurde, ihnen also „pornografische Inhalte“ zugemutet wurden.
Es herrscht ein Klima der Angst. Konservative Elterngruppen adaptieren die Methoden, die linksidentitäre College-Aktivist:innen entwickelt haben. Auf diese Weise versuchen sie, unter Berufung auf nicht messbare psychologische Faktoren wie „Kränkung“, „Trauma“ und „Schmerz“ ganze Felder von Lerninhalten zu verbannen. In Florida wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet – etwa der „Stop W.O.K.E. Act“ von 2022 –, deren Botschaft zwar eindeutig ist, die aber offen lassen, wie sie anzuwenden sind. Die Folge: Aus Angst, ihren Job zu riskieren oder von Konservativen an den Pranger gestellt zu werden, schießen verunsicherte Verwaltungsangestellte bei ihren korrigierenden Eingriffen über das Ziel hinaus.
Besonders beunruhigend ist die feindliche Übernahme der besten geisteswissenschaftlichen Hochschule, des New College of Florida in Sarasota, durch den Staat. Das New College wurde 1960 auf einem Gelände errichtet, das einem der Ringling-Brüder gehörte. Der Ringling Brothers Circus bezeichnete sich dereinst als „die größte Show der Welt“. Das war im 19. Jahrhundert. Heute wird auf dem Campus ein Zirkus der anderen Art aufgeführt.
Mit dem Ziel, „akademische Marxisten“ und alle Spielarten von „Wokeness“ aus den heiligen Hallen zu vertreiben, setzten Gouverneur DeSantis und die Republikaner, die in Florida in beiden Parlamentskammern eine satte Mehrheit haben, die wissenschaftliche Leitung und das Kuratorium ab. Neuer College-Präsident wurde Richard Corcoran, ehemals Sprecher des Repräsentantenhauses von Florida.
Der neue Mann soll – ausgestattet mit weitreichenden Befugnissen und einem Jahressalär von 1,3 Millionen Dollar – das College nach den Vorstellungen des Gouverneurs umkrempeln. Das politische Engagement der bisherigen Studierenden und Lehrenden und alles, was nach Identitätspolitik und Queerness riecht, hat keinen Platz mehr. Rigorose Vorschriften regeln die Nutzung der Toiletten nach dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht. Zugleich wurde das Sportangebot deutlich erweitert; das neue College-Maskottchen ist ein muskelbepackter Banyanbaum. Mehr als ein Drittel des Lehrkörpers – auch viele Dozent:innen mit unbefristeten Stellen – haben das College seit 2022 verlassen.
DeSantis ist nicht der Einzige, der die Befugnisse seines Bundesstaats als Waffe einsetzt. Ähnlich agiert sein Lieblingsfeind Gavin Newsom, der demokratische Gouverneur des Bundesstaats Kalifornien. Newsom gelangte zu einiger Berühmtheit, als er gegen Ende der Trump-Ära damit anfing, Kalifornien als „Nationalstaat“ zu bezeichnen.
Newsom hat diese Taktik aus Texas übernommen, wo Gouverneure in den letzten Jahren immer dann, wenn der US-Präsident ein Demokrat war, daran erinnerten, dass Texas einmal eine unabhängige Republik war. Auch in Florida und Kalifornien stützen sich Gouverneure zunehmend auf ihre eigene Legislative, in der ihre Partei über eine massive Mehrheit verfügt. DeSantis und Newsom sind im aktuellen Kulturkampf zwar Gegner, aber sie haben eines gemeinsam: die Vision einer aktivistischen, häufig auf Stimmungsmache setzenden Regierungsführung, die durch eine De-facto-Einparteienherrschaft ermöglicht wird.
Im Zuge der wohl langweiligsten Präsidentschaftsvorwahlen seit Jahrzehnten – da die erneute Nominierung von Trump und Biden schon festzustehen scheint – werden sich DeSantis und Newsom Ende November in einer speziellen TV-Debatte des rechten Senders Fox News gegenüberstehen. Dieses Event ist ein absolutes Novum. Doch es dürfte an der nationalen Statur der beiden Gouverneure wenig ändern und auch der schwächelnden Präsidentschaftskampagne von DeSantis keinen neuen Schwung verleihen. Diese Debatte demonstriert jedoch den krassen Kontrast zwischen der gelähmten Zentralregierung in Washington und den starken – wenn auch ideologisch unterschiedlichen – Einparteienregierungen in den Bundesstaaten.
DeSantis und Newsom feiern ihre Bundesstaaten als Bollwerke der Freiheit, die sich freilich konträr gegenüberstehen, sodass sie sich jeweils als Fluchtburgen für all diejenigen anbieten, die der Unterdrückung im anderen Lager entkommen und lieber unter Gleichgesinnten leben wollen. Mit anderen Worten: Beide Gouverneure versprechen einen geografischen Ausweg – raus aus politischen Kontroversen, rein in die Konsensblase. Wenn es nur so einfach wäre.
Angesichts der aktuellen ideologischen Großwetterlage sind noch überraschend viele Leute bereit, nach Florida zu gehen. An unserem College, an dem in der Regel die Hälfte der Studierenden nicht aus Florida stammt, haben wir für diesen Herbst mit einer konservativer gefärbten Zusammensetzung gerechnet. Aber so ist es bislang nicht gekommen.
In einem meiner Kurse gibt es dieses Semester eine Person, nennen wir sie Sam, die sich selbst als queer bezeichnet und der identitätspolitischen Linken nahesteht. Nach Florida hat es Sam zu Coronazeiten verschlagen, wegen der Impfregelungen. Sam selbst ist nicht gegen das Impfen, aber verzichtet auch jetzt noch auf eine Immunisierung – aus Rücksicht auf die eigenen Eltern. Sam will trotz aller politischen Meinungsverschiedenheiten die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten; zudem ist er finanziell von ihnen abhängig.
Bildung ist in Amerika nicht billig. Bei uns sind die Studiengebühren von 20 000 Euro im Jahr vergleichsweise ein Schnäppchen. Der New Yorker Hochschulverbund hatte 2021 ungeimpfte Studierende ausgeschlossen. Ausnahmen gab es nur bei religiösen oder medizinischen Gründen. Da Sams Eltern „politische“ Impfgegner waren, gab es keine Ausnahme. Unser College bot da eine bequeme Lösung, weil der Bundesstaat Florida uns untersagt hatte, eine Impfpflicht anzuordnen.
Hinzu kam, dass die rechten Eltern von Sam bereit waren, die Ausbildung an einer privaten Hochschule im „rechten“ Bundesstaat Florida zu finanzieren. Diese sonderbare Konstellation von Umständen existiert allerdings nicht mehr: In New York wurde die Impfpflicht aufgehoben; deshalb will Sam zum Jahresende an eine Hochschule im Bundesstaat New York wechseln.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
Nicholas B. Miller ist Historiker und lebt in Florida.
© LMd, Berlin