07.09.2023

Die Wildnis pflegen

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Die Wildnis pflegen

von Eva von Redecker

Yoshinori Mizutani, Yusurika 024, 2015, Pigmentdruck, 145,6 × 97 cm
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Immer wenn ich im Spätsommer draußen bin, muss ich daran denken, dass Vita Sackville-West, eine meiner Garten-Ikonen, gesagt haben soll, dass sie ihren Garten im August hasst. Sackville-West ist den meisten wahrscheinlich eher als Schriftstellerin und Freundin von Virginia Woolf bekannt, deren Briefwechsel zu den Klassikern der Frauenliebe gehört.

„Ich bin auf ein Ding reduziert, das Virginia will“, steht da etwa. Eine meiner Lieblingsstellen habe ich in der neuen englischen Ausgabe in einem ergänzenden Tagebucheintrag von Virginia Woolf gefunden. Entnervt verzeichnet sie dort ihre temporär abflauende Leidenschaft für Vita: „Sie ist fett geworden … und begeistert sich nur für Hunde, Blumen und Gebäude.“

Ich würde mich nicht wundern, wenn meine Berliner Freundinnen ähnlich von mir sprächen. In einer von Artensterben und Erderwärmung geplagten Welt gilt das Interesse an Pflanzen allerdings nicht mehr automatisch als Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, auch im Garten ist das Private nunmehr politisch und will theoretisiert werden.

Eigentlich würde ich lieber einfach Gartentipps austauschen. Mein ganzer Stolz ist ein Federkohl, eine Grünkohlpalme, die ich im letzten Jahr zu spät (Anfang August) ausgesät habe. Ausgesät hatte ich eine ganze Reihe, aber nur ein Exemplar überlebte Schnecken, Weiße Fliegen und Stare. Die Pflanze kümmerte vor sich hin, und es war nicht daran zu denken, nach den Ja­nuar­frösten Grünkohl zu ernten.

Aber dann, im April, als es wärmer wurde, entschloss der Kohl sich plötzlich zum Wachsen. Und hat seither nicht aufgehört. Ich ernte jede Woche ein paar der köstlichen, fleischigen Blätter, immer die untersten. Und immer noch wachsen sie oben nach, zuerst winzig klein und filigran gekräuselt, dann als ausladende Arme. Ich habe noch nie so eine hohe Kohlpalme gesehen (etwa 1,35 Meter denke ich) und nach wie vor schießt sie nicht in die Blüte, obwohl sie schon ihr zweites Jahr erreicht hat.

Ich werde zu dem Federkohl zurückkommen, aber zuvor möchte ich das Eingangszitat aufgreifen. Warum sollte man im August seinen Garten hassen? Lange Zeit dachte ich, dass sich an dieser Frage einfach die Geister zwischen aristokratischer und bäuer­li­cher Gärtnerei scheiden. Komtesse Sackville-West spricht als Rosengärtnerin, deren herrschaftliche Rabatten im August ausgeblüht sind. Tulpen, Lilien und Mohn sind passé, auch Clematis und Fingerhut haben den Zenit überschritten, da kann man schon mal mit Überdruss auf die Beete blicken.

Wer hingegen gut bäuerlich den Garten aus der Küche betrachtet, dem fiele im Leben nicht ein, auf den August zu schimpfen. Im August setzt bereits die Entspannung ein, während die Erntefreude ihren Höhepunkt feiert. Arbeitsintensive Hackfrüchte wie Erbsen, Salat und Spinat sind verzehrt. Tomaten-, Stangenbohnen- und Zucchinipflanzen tragen unermüdlich und sind längst dem Stadium entwachsen, in dem man sich um Schneckenfraß oder leichte Trockenheit sorgen muss.

Was an Kartoffeln und Möhren noch zu ernten ist, drängt einen nicht, weil es in der Erde besser frisch hält als im Regal. Hinzu kommen Unmengen an Birnen und Pflaumen, die wie von selbst gewachsen scheinen – sowie Brombeeren und Holunder, die es wirklich sind. Was liebe ich den Garten im August!

Aber womöglich offenbart sich in diesem Genuss ein größerer Snobismus als der der reichen Rosengärtnerin. Denn wer den August zu sehr liebt, dem ist offenbar der Schmerz des Verkommenlassens fremd. Kein wahrer Gärtner sieht die üppige Ernte einfach als Ausbeute. Sie ist eine Verpflichtung, eine Bürde geradezu.

Mir wurde das schlagartig klar, als ich kürzlich folgenden Austausch mit einer Nachbarin hatte: Jene bot mir Gurken an. Mir schoss die Schamesröte ins Gesicht, ich zuckte hilflos mit den Achseln und sagte: „Es tut mir leid, aber ich kann das wirklich gerade nicht verbrauchen.“ Und dann fragte ich, reichlich dreist, zurück, ob sie womöglich Verwendung für ein paar Zucchini hätte. Verzweifelt winkte die Nachbarin ab. Nein. Das habe sie beim besten Willen nicht.

Das Ganze spielte sich vor den Augen einer Freundin aus der Stadt ab: „Super“, sagte die. „Hier kriegt man ja anscheinend alles umsonst, sobald man selbst etwas anzubieten hat.“ Ich starrte sie entgeistert an. „Natürlich kriegst du Sachen umsonst. Aber dann musst du sie verarbeiten.“

Ich wusste nicht – ich weiß eigentlich bis heute nicht –, wie ich diesen Schmerz vermitteln kann, der daher rührt, dass es einem nicht gelingt, nach all dem Vorziehen und Auspflanzen und Schneckenabsammeln und Gießen und Jäten die Früchte auch zu verbrauchen. Dass in diesem Scheitern an der Fülle ein Frevel liegt, nicht vorrangig gegen die eigene vergangene Arbeit, sondern gegen die, die die Pflanze hinzugefügt hat.

Man kann eigentlich keinen Garten haben, wenn man die Ernte nicht als Geschenk betrachtet, das zurückzuweisen ein Vergehen darstellt. Vielleicht hat auch Vita Sackville-West den August gehasst, weil sie die Birnen nicht zu pflücken schaffte, bevor sie weich und faulig wurden.

Und doch scheint mir, dass die Zukunft des Gärtnerns – wenn es überhaupt eine hat – daran hängt, den Augusthass auf eine spezifische Weise aufzuheben. Ich meine den Augusthass der Ernteüberlastung, nicht den der Blütenarmut, den ich persönlich mit Löwenmäulchen und Dahlien kuriere.

Der Verzweiflung an der üppigen Ernte ist beizukommen, indem man den Begriff der Nachbarschaft auch auf andere Spezies ausweitet. Das Fallobst verkommt ja nicht. Es schmeckt den Wespen, den Admiral-Tagfaltern, den Staren und sogar den Stubenfliegen, der Rest zerfällt zu Kompost. Angesichts des sechsten, menschengemachten Massenaussterbens, das mittlerweile begonnen hat, ist die richtige Einstellung zum Gärtnern eine, die von der Hoffnung lebt, zumindest in einem Erdenwinkel die Biodiversität zu erhöhen. Das kann man, indem man nicht nur für sich selbst anbaut, sondern für alles, was im Garten lebt.

Ein solcherart kultivierter Garten kann, in den seltenen Momenten des Gelingens, einen Gegensatz aufheben, der die nüchternen Diskussionen um die zukünftige Erdnutzung strukturiert: den Flächennutzungskonflikt. Die Oberfläche der Erde ist endlich. Und inzwischen wissen wir, dass gerade auf den dünn besiedelten, unbeackerten Teilen Prozesse stattfinden, die unentbehrlich für die Bewohnbarkeit des Rests sind. Daraus ergibt sich der Imperativ, möglichst viel „wilde“ Fläche zu schützen.

Die Idee, dass rund die Hälfte der globalen Landmasse sich selbst überlassen werden sollte, wurde vom Soziobiologen und Ameisenforscher E.O. Wilson aufgebracht. Diese Vision kann leicht in einen grünen Kolonialismus kippen, der Bevölkerungen im Globalen Süden den Zugang zu „geschützten“ Gebieten verwehrt, ohne Lebensstile in den reichen Industrienationen infrage zu stellen.

Troy Vettese und Drew Pendergrass, die Autoren eines bemerkenswerten Manifests mit dem Titel „Half-Earth Socialism“, das 2022 im Londoner Verso-Verlag erschien, sehen deshalb gleich die Befreiung der ganzen Welt aus dem Griff der kapitalistischen Verwertung vor.

Wenn, dann müsste sich alles ändern. Die eine Hälfte wird, womöglich unter indigener Verwaltung, renaturiert, in der anderen Hälfte planen wir, wie viel Raum für ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Nahrungsmittelproduktion, für Gewinnung regenerativer Energie und für Wohn- und Transportinfrastruktur eingesetzt werden soll. Angesichts solch harter Abwägungen mag Gärtnern als ein nicht zu rechtfertigender Luxus erscheinen.

Aber gerade weil sich unsere Ausgangsbedingungen durch Erwärmung und Artensterben schon unwiederbringlich verschlechtert haben, geht die nüchterne Gegenüberstellung von Urwald und Acker nicht auf. Renaturierung ist selbst ein arbeitsintensiver Prozess, der gesteuert werden muss, wenn das Ergebnis wirklich reichhaltige Lebensräume bieten soll.

Wo trockengelegte Moore nicht wieder vernässt werden können, was mit Abstand am meisten CO2 bindet, ist Dauergrünland mitunter ein besserer Kohlenstoffspeicher als Wälder, deren Wachstum nach einer Weile stagniert und zudem stets von Bränden bedroht ist, die die Klimabilanz sofort wieder verschlechtern. Dauergrünland gibt es im Grunde nur, wo mindestens einmal jährlich gemäht wird – wie im Naturgarten. Auch die Wildnis braucht gärtnerische Zuarbeit.

Auf der anderen Hälfte der Kluft zwischen unberührter und genutzter Fläche, also auf dem Land, das nach Vettese und Pendergrass der menschlichen Versorgung dienen soll, scheint auf den ersten Blick für Gärten gar kein Platz zu sein. Die Autoren skizzieren eine Planwirtschaft, die mit kybernetischen Modellen operiert. Input und Output von Produktionsprozessen soll im globalen Maßstab kenntlich gemacht, ins Verhältnis zu den planetaren Belastungsgrenzen gesetzt und demokratisch verhandelbar werden.

Wie das politisch durchgesetzt werden soll, wird gezielt übersprungen, es geht den Autoren zunächst um eine stimmige Utopie. Und tatsächlich scheint ja ein solcher Einsatz unseres Wissens und unserer Datenverarbeitungskapazitäten ausgesprochen vernünftig. Allerdings ist die mathematische Modellierung für industrielle Fertigungsprozesse sehr viel aussagekräftiger als in den Arbeitsbereichen, in denen es um den Erhalt von etwas Lebendigen geht.

Sorgearbeit steht nicht im Zen­trum des Entwurfs. Sie ist aber auch im grundlegendsten aller Produktions­bereiche, der Landwirtschaft, von großer Bedeutung. Eine Planwirtschaft, die auf kurzfristige Ertragsoptimierung setzt, würde sich bald wieder bei der Wildnis bedienen müssen, denn Boden ist eine nahezu nicht erneuerbare Ressource. Es müssten also sowohl CO2-bindende als auch fruchtbarkeitserhaltende Anbau­methoden entwickelt werden.

Die vielversprechendsten Trends in diesem Bereich sind gärtnerischen Methoden viel näher als der rationalisierten Landwirtschaft, die gegenwärtigen Großgrundbesitz ebenso prägt wie einst den real-sozialistischen Agrarsektor. Ein zentraler Trend sind zum Beispiel Versuche, einjährige Kulturen – vor allem Ackerfrüchte wie Getreide, aber auch Gemüsesorten – auf Mehrjährigkeit rückzuzüchten. So können die etablierten Kulturen selbst die Beikräuter verdrängen, die Bodenbiologie wird nicht durch alljährliches Pflügen gestört und die bewachsene Bodendecke hält den Kohlenstoff in der Erde. Ein weiterer Ansatz baut auf die Integration von Bäumen in die Anbauflächen. Hecken und Baumreihen bieten Windschutz, speichern Feuchtigkeit und werfen dabei selbst auch Essbares ab.

Auch wenn die Wildnis auf diese Art in den Acker einzieht, wird die professionelle Landwirtschaft ihre Entscheidungen stets so treffen müssen, dass sie die Ernährung der Menschen vor der der Nachbarspezies prio­ri­siert. Daneben braucht es deshalb umso dringender Raum für spielerische – und zeitraubende – Experimente. Ihr Ort sind die Gärten, in denen für Menschen Genießbares wächst und die doch auch darauf zielen, die Fülle für alle anwesenden Spezies zu erhöhen. Manchmal glückt dann, eher ungeplant, beides zugleich: Verwilderung und Kalorienproduktion.

Jede Bodenreform der Zukunft sollte deshalb Gartenzugang für alle ermöglichen, denen der Sinn danach steht – insbesondere in Großstädten, wo auch genug Abnehmer leben, um etwaigen Ernteüberschuss aufzufangen. Wir wissen vielleicht noch gar nicht, wie viel August möglich wäre.

Was ich allerdings sicher weiß, ist, dass ich im August meinen Schreibtisch hasse. Ich bin auf ein Tier reduziert, das in den Garten will.

PS: Wenn Ihnen das mit dem ­mehrjährigen Palmkohl auf dem Balkon gelingen sollte, am leckersten ist er mit Pflanzenöl und Sojasauce besprenkelt, auf einem Backblech bei circa 200 Grad zehn Minuten (am besten auf Umluft) kross gegrillt. Dass Sommerkohl bitter sein soll, halte ich für ein Gerücht.

Eva von Redecker ist Philosophin und freie Autorin. Zuletzt erschien von ihr „Bleiberecht“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2023.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.09.2023, von Eva von Redecker