10.08.2023

Kein Plan für die Vorstädte

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Kein Plan für die Vorstädte

von Benoît Breville

6. Oktober 1990, Vaulx-en-Velin, ein Vorort von Lyon: Der 21-jährige Thomas Claudio fährt auf seinem Motorrad, als er von einem Polizeiauto gerammt wird. Er stirbt noch am Unfallort. Vier Tage ist der Ort in Aufruhr. Geschäfte werden geplündert, Autos angezündet, Schulen verwüstet, Feuer­wehrleute verletzt und Jour­na­lis­t:in­nen bedrängt. Arbeitslosigkeit und fehlende Ausbildung der Jugendlichen seien verantwortlich, sagt Bürgermeister Nicolas Sarkozy.

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27. Oktober 2005, Clichy-sous-Bois im Osten von Paris: Die Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Troaré werden von der Polizei verfolgt und flüchten in ein Trafohäuschen. Sie sterben an einem Stromschlag. Es kommt zu Zusammenstößen, die sich auf das ganze Land ausweiten. Nach drei Wochen beklagt Präsident Jacques Chirac, dass „in bestimmten Gebieten zu viele Nachteile und zu viele Schwierigkeiten zusammenkommen“, und ruft zum Kampf gegen „das gesellschaftliche Gift der Diskriminierung“ auf, kritisiert aber die „irreguläre Einwanderung“ und „Menschenhandel“ sowie „Familien, die keine Verantwortung übernehmen“.

27. Juni 2023, Nanterre: Nahel Mer­zouk, 17, wird bei einer Verkehrskontrolle durch einen Schuss in die Brust getötet. Die landesweiten Proteste dauern nur fünf Tage, sind aber umso heftiger: 23 878 Brände auf den Straßen, 5892 angezündete Fahrzeuge, 3486 festgenommene Personen, 269 Angriffe auf Polizeistationen, 243 beschädigte Schulen. „Das hat nichts mit einer sozialen Krise zu tun, sondern mit dem Zerfall des Staats und der Nation“, tönt der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der konservativen Républicains, Laurent Wauquiez. Wer wie der Linke Jean-Luc Mélenchon anderes behauptet, gilt ihm als „Gefahr für die Republik“.

In den Reaktionen auf die wiederholten städtischen Unruhen spiegelt sich die Veränderung in der politischen Landschaft Frankreichs, nachdem sie von einer sicherheits- und identitätspolitischen Walze überrollt wurde. Die soziale Erklärungen, die gestern noch gegolten haben, sind in den Hintergrund gerückt und dürfen heute gar nicht mehr erwähnt werden (siehe den Beitrag auf Seite 14).

Einst kündigte jede Regierung nach jedem Aufstand einen „Plan für die Vorstädte“ an, deren Umsetzung dann allerdings nicht besonders ehrgeizig erfolgte. Sobald die Aufmerksamkeit abgeklungen war, blieb es bei ein paar geförderten Arbeitsplätzen, Zuschüssen für Vereine und Geld für die Renovierung einiger Gebäude.

Seit den 1980ern gab es ein Dutzend solcher Aktionspläne – sie haben keines der Probleme gelöst: weder die Arbeitslosigkeit noch die rassistische Ausgrenzung und schon gar nicht das angespannte Verhältnis zwischen Jugendlichen und Polizei. Doch sie haben bei vielen den Eindruck geweckt, der Staat habe schon zu viel für die Vorstädte getan, und man müsse jetzt einmal die „wirklichen Probleme“ angehen: Islam, elterliche Vernachlässigung, juristische Laxheit, Videospiele und soziale Medien.

Ein Gerede, das Vorstädte und ländliche Gebiete gegeneinander ausspielt, also jene politisch vernachlässigten Gegenden, in denen die unteren Klassen leben. ⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 10.08.2023, von Benoît Breville