10.08.2023

Brief aus Rom

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Brief aus Rom

von Stefano Liberti

Rekordhitze: Piazza di Spagna im Juli 2023 CECILIA FABIANO/picture alliance/zumapress
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Auf James Joyce wirkte Rom wie „ein Mann, der davon lebt, dass er die Leiche seiner Großmutter für Reisende zur Schau stellt“. Anfang des 20. Jahrhunderts verbrachte der irische Schriftsteller sieben Monate hier, nicht gerade die glanzvollsten seines Lebens. Er fand die Stadt müde in ihrer Unbeweglichkeit, auf ewig festgefahren in ihrem matten Betrieb, erschlafft und unfähig, die Moderne für sich zu entdecken, kalt und gleichgültig gegenüber allem ­Neuen.

Inzwischen befindet sich die von Joyce erwähnte Leiche im Stadium der fortgeschrittenen Verwesung. Rom versinkt im Müll, erstickt am Verkehr, wird von wilder Vegetation überwuchert, die niemand mehr beseitigt. Sie wird von Kurzurlaubern überrannt und von Wildtierarten erobert, die sich immer ungestörter überall ausbreiten.

Die Krise scheint den Kipppunkt überschritten zu haben. Uns Römerinnen und Römern ist das sehr bewusst, und selbst den unaufmerksamsten Besuchern bleibt es nicht verborgen, sie kommen selten ein zweites Mal.

Ein Spaziergang durch die Stadt gleicht einem Hindernislauf: überquellende Müllcontainer, an denen Möwen und Wildschweine sich gütlich tun; Autos, die in zweiter oder dritter Reihe, auf dem Bürgersteig, auf Rollstuhlrampen parken; öffentliche Parks, die aus Furcht vor umstürzenden Pinien gesperrt sind, obwohl man die Parasiten, die die Bäume befallen haben, durchaus hätte stoppen können, wenn man ihnen nicht, wie bei allem anderen, einfach träge und untätig zugeschaut hätte.

In diesem brütend heißen Sommer, in dem die Stadt unter Spitzentemperaturen von 42 Grad im Schatten ächzt, wird das Ungemach besonders spürbar: In der Sonne geht der Müll langsam in einen flüssigen Zustand über und verströmt einen Gestank zum Erbrechen. In den Gassen der Altstadt, in der niemand mehr wohnt, ringen die Touristen nach Luft wie in der Wüste, Autos stauen sich überall zu glühenden Blechmassen und erzeugen noch mehr Hitze auf dem ohnehin schon brennend heißen Asphalt.

Wann hat dieser Abstieg ins Inferno begonnen? Nach landläufiger Meinung war es immer so, schon seit den Zeiten von Julius Caesar und Kaiser Augustus. In Wahrheit aber ist das, was wir mittlerweile erleben, ein komplexes ­Knäuel von Krisen, die einander überlagern und verstärken: Klimakrise, Müllkrise, politische Krise.

Rom war einst gesegnet mit mediterranem Klima und dem Ponentino, einer Brise, die der Stadt kühle Meeresluft zufächelte; jüngst ist sie jedoch von der Londoner Times nicht ohne Wortwitz von der „eternal city“ zur „infernal city“ heruntergestuft worden.

Die Faktenlage ist bedrückend: Rom bekommt die Auswirkungen der Klimakrise stärker zu spüren als alle anderen italienischen Städte. Sie heizt sich am schnellsten auf und verzeichnet die meisten Extremwetterereignisse – und sie zählt zu den wenigen Städten, die sich nicht mit einem Anpassungsplan auf den Klimawandel vorbereitet haben. Rom sieht sich selbst als ewige Stadt und rechtfertigt damit die eigene Untätigkeit – aber derweil steigen die Temperaturen unerbittlich und verwandeln die Stadt in eine klimatische Zeitbombe.

Eine der größten Schwächen dieser Stadt ist wohl ihre Unfähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen. Das zeigt sich in der Politik ebenso deutlich wie in der Haltung der Römerinnen und Römer, die sich gegen jede noch so kleine Veränderung des Status quo wehren, obwohl er ihnen denkbar schlechte Lebensverhältnisse beschert.

Um den monströsen Verkehr einzudämmen, der Rom verstopft und die Luft verpestet, wollte die Stadtverwaltung ab November 2023 die Sperrzone für besonders schadstoffinten­sive Fahrzeuge ausweiten. Es folgte ein Aufschrei empörter Bürger, die lieber Stunden im Auto zubringen, als sich für einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr starkzumachen. Binnen weniger Tage war eine Petition gegen die geplante Maßnahme 100 000-mal unterschrieben worden.

Aus Platzmangel werden die Autos abgestellt, wo es gerade passt. Die Ordnungshüter drücken beide Augen zu und setzen die geltenden Vorschriften nur selten durch. Das ruft einsame Rächer auf den Plan wie den anonymen Graffiti-Künstler, der seit Wochen Angst und Schrecken verbreitet, indem er widerrechtlich abgestellte Autos in Riesenlettern mit der Aufschrift „Free park“ in Lackfarbe versieht.

Das Englisch ist holprig, aber die Botschaft klar: Wenn Sanktionen ausbleiben, nimmt der Bürger die Sache selbst in die Hand. In den sozialen Netzwerken geht es hoch her zwischen Fans des nachtaktiven Sprayers und dessen Gegnern, die implizit das Recht beanspruchen, zu parken, wo und wie es ihnen gefällt.

Den Beschluss zur Ausweitung der Sperrzone hat die Stadtverwaltung übrigens inzwischen zurückgenommen. Der Motorisierungsgrad in Rom gehört zu den höchsten weltweit: 2 313 700 angemeldete Fahrzeuge – also 837,8 Autos pro 1000 Einwohner, Ältere und Kinder mit eingerechnet. Kritik am Autofahren ist offensichtlich nicht mehrheitsfähig.

Ein anderes Problem, das die Politik anscheinend überfordert, ist der Müll. Sonderlich sauber war Rom nie, aber in den vergangenen Jahren hat die Lage sich in bis dahin unvorstellbarem Maße zugespitzt. Wann das Elend seinen Anfang nahm, lässt sich genau datieren: am 1. Oktober 2013. Das war der Tag, an dem der damalige Bürgermeister Ignazio Marino auf Druck der EU-Kommission die Deponie Malagrotta dichtmachte.

Fast 40 Jahre lang schluckte diese 1975 eröffnete Riesenhalde im Westen der Stadt sämtliche Abfälle Roms, der Vatikanstadt und der beiden Flughäfen Ciampino und Fiumicino. Auf der 240 Hektar großen Müllkippe, der größten Europas, wurden täglich 4500 bis 5000 Tonnen Abfall entsorgt.

Nach der Schließung von Mala­grot­ta begannen die Abfälle nach und nach an anderen Orten aufzutauchen – wie Zombies, die aus der Unterwelt hervorkriechen. Sie überfallen Müllcontainer, sammeln sich in den wenigen Kläranlagen und gehen auf Wanderschaft durch Italien und ganz Europa – bis in die Niederlande und nach Deutschland.

Roms amtierender Bürgermeister Roberto Gualtieri hat den Bau einer Müllverbrennungsanlage am äußersten Stadtrand angekündigt, die 600 000 Tonnen im Jahr bewältigen soll. Das Prinzip ist dasselbe wie in Ma­la­grot­ta: Nicht Müllvermeidung, Recycling und Wiederverwertung ist das Ziel, wie die europäischen Richtlinien es vorsehen, stattdessen sollen die Abfälle einfach verschwinden. Weil es mittlerweile verboten ist, sie einfach einzubuddeln, schickt man sie als Abgase in die Atmosphäre – und das möglichst weit weg vom historischen Zentrum, dem (inzwischen eingetrübten) Schaufenster der Stadt.

Der Bürgermeister hat sein Wort gegeben, dass die Anlage 2026 in Betrieb gehen soll. Bis dahin bittet er um Geduld. Man werde eine Reihe von Zwischenlösungen finden – wie schon in den vergangenen zehn Jahren. Als Reaktion posten empörte Bürgerinnen und Bürger in den sozialen Netzwerken massenweise Fotos von überquellenden Mülltonnen, die überall, selbst an den berühmtesten Orten, die Stadt verunzieren.

Die Frage, wie ein angemessenes Müllmanagement aussehen müsste und was jeder Einzelne dazu beitragen könnte, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn. Die Mülltrennungsquote stagniert in Rom seit Jahren bei 44 Prozent. Niemand trennt konsequent; es ist gut möglich, dass die Leute, die Fotos von überquellenden Mülleimern posten, ihre Müllsäcke selber irgendwo auf der Straße abstellen.

Touristen stellen entgeistert fest, dass die Stadt im Schmutz versinkt und auch ansonsten wenig einladend ist. Kaum verlassen sie das Gebäude des Flughafens von Fiumicino, der seit Jahren mit Auszeichnungen als funk­tio­nals­ter und modernster Airport Euro­pas überschüttet wird, landen sie in den Fängen unverschämter Taxifahrer, die astronomische Preise verlangen, und diverser Geschäftemacher, die sie auf jede erdenkliche Weise über den Tisch ziehen wollen.

Beim neusten Skandal geht es um die Eintrittskarten für das Kolosseum: Vermittlungsagenturen kaufen im Internet sämtliche Tickets auf und zwingen die unglückseligen Besucher, die die Arena besichtigen möchten, bescheidene 60 Euro für eine geführte Tour zu blechen. Das alles zusammen macht die großmütterliche Leiche immer unattraktiver.

Die Statistik bringt es schonungslos ans Licht: Rom verzeichnet 10 Millionen Besucher im Jahr – gerade einmal halb so viel wie Paris oder London. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt nur 2,3 Tage gegenüber rund 6 Tagen in London und Paris. Kaum angekommen, fliehen die Touristen schon wieder. Und vor allem kommen sie – anders als in den anderen Metropolen – nicht wieder.

Die Touristen fliehen, die Einwohner aber bleiben. Das Frappierendste ist, dass es trotz der überaus schlechten Lebensqualität und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit keinen Massenexodus gibt. Es wirkt so, als würden die Römerinnen und Römer dem ganzen Verfall resigniert vom Fenster aus zuschauen, als ob sie das alles nichts anginge.

Der Schriftsteller Christian Raimo, der das Geschehen in der „urbs Roma“ so aufmerksam verfolgt wie kaum einer, bringt es so auf den Punkt: „Rom ist eine Stadt, in der es immer schwieriger wird zu leben, die dir aber gestattet zu überleben.“

Ja, vielleicht geht uns Römerinnen und Römer wirklich in erster Linie ums Überleben – in dieser unserer Stadt, die sich so gern als ewig definiert und sich gerade deshalb so beharrlich dagegen sträubt, Zukunftsvorstellungen zu entwickeln.

Aus dem Italienischen von Andreas Bredenfeld

Stefano Liberti ist Journalist und Dokumentarfilmer.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.08.2023, von Stefano Liberti