11.05.2012

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Beispiel Argentinien

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Der Wandel findet bereits statt. Ermutigt durch den Wahlsieg, zwingt die Staatsführung den Gouverneur der Zentralbank, Devisenkontrollen einzuführen, und kündigt die Verstaatlichung einer Schlüsselbranche an, die dreizehn Jahre zuvor an die Privatwirtschaft verramscht wurde. Zwei Minister, die per Dekret mit der Leitung des neuen staatlichen Großunternehmens betraut sind, feuern auf der Stelle das alte Management. Es hagelt Kritik von der Europäischen Kommission wie vom Wall Street Journal und der Financial Times („ein schäbiger Akt von Wirtschaftspiraterie“). Die Wochenzeitung The Economist schlägt sogar vor, die „Piratennation“ aus dem Kreis der G-20-Staaten auszuschließen und für ihre Bürger (weil sie falsch gewählt haben) verschärfte Visavorschriften einzuführen.

Nein, wir reden nicht von einem Staat im alten Europa. Es geht um Argentinien. „Wir sind das einzige Land in Lateinamerika, ich würde sogar sagen in der Welt, das keine Kontrolle über seine Bodenschätze besitzt.“ Mit diesen Worten begründete Präsidentin Cristina Kirchner am 16. April die Enteignung des spanischen Repsol-Konzerns, der bis dahin die Aktienmehrheit an der argentinischen Ölgesellschaft YPF besaß.

Ganz so stimmt das nicht mit dem Staatseigentum an den Ressourcen – Total, BP, Exxon und so weiter sind schließlich allesamt Privatunternehmen. Aber der Vorgang erinnert an andere Kämpfe um die Rückeroberung des gesellschaftlichen Reichtums: die Nationalisierung von British Petroleum im Iran durch Mohammad Mossadegh (1951), die Verstaatlichung des Suezkanals in Ägypten durch Gamal Abdel Nasser (1956), die Übernahme der Vermögenswerte von Elf und Total in Algerien unter Houari Boumedienne (1971), die Beschlagnahmung des Yukos-Vermögens in Russland unter Wladimir Putin (ab 2003). Und nicht zu vergessen: die vollständige Kontrolle der venezolanischen PdVSA durch die Regierung unter Hugo Chávez (ab 2002).

Die argentinische Regierung wirft dem bisherigen YPF-Mehrheitseigner Repsol vor, dass 90 Prozent der erzielten Gewinne an dessen Aktionäre ausgeschüttet wurden. Mangelnde Investitionen führten zum Rückgang der nationalen Erdölgewinnung um 20 Prozent seit 2004, die Energieimporte stiegen auf das Zwanzigfache. Das kam in Argentinien besonders schlecht an, weil das Land sich nach leidvollen Erfahrungen unbedingt aus der Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern (und erst recht vom Internationalen Währungsfonds) lösen will.

In der Bevölkerung fand der kühne Vorstoß der Regierung viel Beifall. Er brachte ihr allerdings auch gewaltige Schadenersatzforderungen ein, die Androhung von Handelssperren und allerlei düstere Prophezeiungen. Aber in Buenos Aires erinnert man sich, wie wenig Verlass auf die Auguren ist. Als das finanziell ausgeblutete Land 2001 den Schuldendienst einstellte und seine Währung abwertete, wurde ihm eine Zahlungsbilanzkrise und der wirtschaftliche Zusammenbruch vorausgesagt. Inzwischen ist die Exportbilanz positiv, die Wirtschaftsleistung stieg um 90 Prozent, Armut und Arbeitslosigkeit sind zurückgegangen. Europa hätte mehr davon, wenn es sich vom politischen Eigensinn Argentiniens inspirieren ließe, statt sich auf die Seite der Aktionäre eines spanischen Multis zu schlagen. Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 11.05.2012, von Serge Halimi