Unter umgedrehter Flagge
Einst galten die Niederlande als europäische Musterdemokratie. Nach 20 Jahren Rechtspopulismus hat sich eine Fundamentalopposition gebildet, die sich zusehends radikalisiert.
von Tobias Müller
Eva Vlaardingerbroek kommt in Fahrt „Wir streiten wieder gegen die Tyrannei, wie damals gegen die Spanier“, schreit sie ins Mikrofon. Die Reminiszenz gilt dem Aufstand gegen die spanische Herrschaft, der 1568 begann und 1648 mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande endete. „Damals kam das Unrecht aus Madrid, heute aus Den Haag, und die EU diktiert.“ Die Menge jubelt. Und Vlaardingerbroek legt nach. Die „sehr schöne Frau, über die sich die Globalisten ärgern“, wie der Moderator sie vorgestellt hat, ruft mit empörter Stimme: „Die Lakaien der Mainstream-Medien dämonisieren uns. Wir sagen ‚Nein‘ zum Globalismus und zum Ausverkauf unseres Landes!“
Die 26-jährige Publizistin Vlaardingerbroek hat bereits eine Karriere bei der rechtsextremen Partei Forum voor Democratie (FvD) hinter sich und ist durch Interviews bei Fox News oder GB News auch international bekannt. An diesem 11. März hat sie einen Auftritt in Den Haag bei einer Protestkundgebung der Farmers Defence Force (FDF), einer radikalen Bauernorganisation, und Samen voor Nederland, einem Bündnis aus allerlei rechten Initiativen. Tausende sind in den Zuiderpark gekommen. Es herrscht Festivalstimmung. Überall sieht man die niederländische Trikolore im kalten Frühlingswind flattern. Allerdings blau-weiß-rot statt rot-weiß-blau: Die auf den Kopf gestellte Nationalflagge ist seit einigen Jahren zum Markenzeichen der rechten Proteste geworden.
In dem Land, das einst als europäisches Musterland einer toleranten Gesellschaft galt, bahnte sich schon um die Jahrtausendwende unter Führung der Lijst Pim Fortuyn (LPF) eine rechtspopulistische Revolte an. Im Mai 2002 wurde Fortuyn ermordet. Gut 20 Jahre danach hat sich eine breite, heterogene Szene herausgebildet, die sich immer wieder in schrillen Tönen artikuliert. Ihre Inhalte und Strömungen werden an diesem Tag in Den Haag deutlich sichtbar, denn bei dieser Demonstration sind praktisch alle vertreten, die in der Szene Rang und Namen haben.
Gleich zu Beginn hat der bekannteste Vertreter des niederländischen Rechtspopulismus seinen Auftritt. Der inzwischen 59-jährige Geert Wilders hatte mit seiner Partij voor de Vrijheid (PVV) ab 2006 die zerfallene Fortuyn-Partei LPF beerbt. In den folgenden Jahren rekrutierte er aus einem fluiden konservativen Reservoir, zu dem auch enttäuschte Mitglieder der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) gehörten, einen rechten Wähleranhang, den er über die Jahre durchaus stabilisieren konnte.
Wilders „Partei für die Freiheit“ wurde schon des Öfteren abgeschrieben, aber sie kam noch jedes Mal zurück. Seit ihrem großen Durchbruch von 2010, als sie mit 24 der 150 Parlamentssitze ihr bestes Ergebnis erzielte, bewegt sich der Stimmenanteil der PVV zwischen 10,1 und 15,5 Prozent. 2010 tolerierte ihre Parlamentsfraktion die Minderheitsregierung von Mark Rutte – eine Koalition aus der rechtskonservativen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) und dem Christen-Democratisch Appèl (CDA) –, die sich dadurch bis 2012 im Sattel halten konnte.
Mit ihren 10,9 Prozent von 2021 ist die PVV heute die drittstärkste Kraft in der stark fragmentierten Parteienlandschaft der Niederlande. Nach den Wahlen von 2017 belegte sie sogar den zweiten Platz, wenn auch Wilders’ Griff nach der Macht, über den die internationalen Medien wild spekuliert hatten, damals ausgeblieben ist.
Der PVV-Chef inszeniert sich als Anwalt der kleinen Leute, ist ausgesprochen migrations- und vor allem islamfeindlich. Er mache Politik „für Henk und Ingrid, nicht für Ali und Fatima“, sagt er gern. Wegen der Morddrohungen von Islamisten steht Wilders seit Jahren unter Personenschutz. Er propagiert grundsätzlich den „Nexit“, den EU-Austritt der Niederlande, hetzt gegen „die Eliten“ und verunglimpft Linke und Liberale. Von Beginn an setzte die PVV auch auf die soziale Karte und forderte „mehr Hände am Bett und mehr Blau auf der Straße“ – also mehr Pflegekräfte und mehr Polizisten.
Gelegentlich überschreitet der PVV-Chef die Grenze zum Rassismus, hält dabei aber geflissentlich Abstand zu Neonazikreisen, in denen er wegen seiner Pro-Israel-Positionen als „Judenknecht“ gilt. Für die jüngere Generation im rechtspopulistischen Lager spielte Wilders quasi die Rolle des Quartiermachers. Zum Beispiel, indem er bereits während der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 zum „Widerstand“ gegen die Regierung aufrief, die angeblich die Interessen der Bevölkerung missachte. Diese „kritischen“ Töne gehörten in den letzten Jahren zum Standardrepertoire bei rechten Kundgebungen.
Wilders’ öffentliche Auftritte waren schon immer bombastische Inszenierungen. Im Zuiderpark ist das nicht anders. Er beschwört den „demokratischen Widerstand gegen die Tyrannei von Rutte und Kaag“ (von Ministerpräsident Mark Rutte und seiner Vizeministerpräsidentin sowie Finanzministerin Sigrid Kaag) und seine Lieblingsfeinde, die „linksliberalen Zerstörer“ der Democraten66 (D66), die der Regierung Rutte angehören. Die D66 will den Viehbestand halbieren und landwirtschaftliche Betriebe mit hohen Stickstoffemissionen aufkaufen – Klimaschutzmaßnahmen, die Wilders zeternd als „Ausrede“ bezeichnet, „um die Bauern wegzujagen. Und dann werden sie das Land mit Häusern für Asylbewerber zustellen. Aber heute lautet unsere Botschaft, dass wir uns die Niederlande zurückholen!“
Wilders versteht sich meisterhaft darauf, verschiedene politische Problemfelder und Themen mit derben Worten und harten Punchlines kurzzuschließen. Zum Beispiel sagt er: „Asylbewerber, die sich jeden Tag vollfressen, während unsere Alten im Heim 100 Gramm Fleisch und 150 Gramm Gemüse täglich bekommen.“ Seine Art, die soziale Misere mit xenophober Hetze zu verbinden, hat längst Schule gemacht.
Man sieht das etwa bei Camilla van der Burgt, einer Aktivistin der in den Niederlanden noch kleinen, aber rhetorisch höchst rabiaten Gelbwesten-Bewegung, bei deren Demos Anfang 2019 erstmals die umgedrehten Landesfahnen auftauchten. Van der Burgt engagiert sich in ihrer Heimatstadt Emmen für ein Netzwerk, das ärmere Leute mit Gratismahlzeiten versorgt. Auf dem Podium in Den Haag fordert sie an diesem 11. März: „Ich will ein Land, in dem alle Kinder mit Frühstück in die Schule gehen, und wo ungelernte Arbeiter nicht für den Gewinn von Multinationals ausgebeutet werden!“ Im nächsten Satz warnt sie dann allerdings vor „Umvolkung“ und dem „Fressen von Grillen“ – ein in der Szene beliebtes Motiv, das eine Verschwörung von „Globalisten“ behauptet, die das niederländische Volk gleichschalten und seine Nahrung auf Heuschrecken umstellen wolle.
Der häufige Verweis auf soziale Missstände und Deklassierung ist kein Zufall. In den Niederlanden gibt es neben einer starken sozialdemokratischen Tradition auch einen ausgeprägten Neoliberalismus angelsächsischer Prägung, der sich etwa im wachsenden Trend zur Zeitarbeit äußert. Dieser flexwerk-Sektor wurde seit den 1990er Jahren immer mehr ausgebaut und erlangte – im Vergleich mit dem Nachbarn Deutschland – deutlich früher gesellschaftliche Akzeptanz.
Der von 1994 bis 2002 regierende sozialdemokratische Ministerpräsident Wim Kok (1938–2018), auch ein Freund des britischen Premiers Tony Blair (New Labour), empfahl seiner Partei, ihre „ideologischen Federn“ abzuschütteln. Das sei eine „befreiende Erfahrung“. Was diese Befreiung bedeutet, zeigte sich in den nuller Jahren, als das Gesundheitswesen unter der Parole „mehr Markteffekt in der Pflege“ liberalisiert und der Energiesektor privatisiert wurde. Zwischenzeitlich wurde auch die staatliche Unterstützung für Studierende abgeschafft. Bei allen Etappen der „Befreiung“ war Koks sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) führende Kraft oder Koalitionspartner. Entsprechend vollzog sich der Niedergang der PvdA noch rasanter als bei den meisten anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa.
Die Verarmung der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht erschütterte das Vertrauen in das gesamte politische System und produzierte Protestbewegungen wie die der Gelbwesten. Die Dynamik dieser Entwicklung hat sich während der Coronapandemie noch beschleunigt. Bei den zahlreichen und häufig eskalierenden Demonstrationen gegen Lockdowns und Ausgangssperren fanden sich Rechtspopulisten und Wutbürgerinnen, Ex-Linke, Impfgegner und Esoterikerinnen vereint in der Konfrontation mit dem gemeinsamen Feind: „Den Haag“ und die liberalen „Eliten“, die alle einer globalistischen Verschwörung zugerechnet wurden, und dem Weltwirtschaftsforum als Strippenzieher.
Einer der Protagonisten dieser Szene steht auch im Zuiderpark auf der Bühne: Michel Reijinga, einst Kaufmann auf einem Amsterdamer Straßenmarkt. Seine Initiative Nederland in verzet (Die Niederlande im Widerstand) organisierte regelmäßig Proteste gegen die Coronamaßnahmen. „Sind hier auch wappies?“, ruft Reijinga zur Begrüßung ins Publikum. Ein tausendstimmiges Johlen ist die Antwort. Das Wort bedeutet in etwa „Spinner“ und war zur Zeit der Pandemie für Leute reserviert, die Verschwörungstheorien anhängen.
Auch bei den Coronaprotesten war die umgedrehte Landesfahne als Widerstandssymbol gegen die Regierung weit verbreitet. Inzwischen sind zwar ihre Parolen – „Es stimmt nicht“ oder „Glaubst du es noch?“ – und ihre gelben Regenschirme mit roten Herzen seltener geworden. Umso häufiger sieht man dafür die umgedrehten Flaggen. Auf dieser Kundgebung prangert Reijinga, der seine Mitstreiter gern mit „Kämpfer“ anredet und Premier Rutte als „Landesverräter“ bezeichnet, die Schließung von Krankenhäusern an und wettert: „Dieses Kabinett beschließt Abbruchpolitik an allen Fronten!“
Ganz ähnlich klingt Mark van den Oever. Der Chef der Farmers Defence Force fordert Solidarität mit den Menschen, die „vom System zermahlen werden“. Damit meint er vor allem die rund 50 000 niederländischen Agrarbetriebe, die sich durch die Klimaschutzauflagen aus Den Haag bedroht sehen. Von den boeren ist an diesem Tag in jedem Redebeitrag die Rede. Die Bauern, denen bei hohem Stickstoffausstoß „die Enteignung“ droht, sind die Helden des Opfernarrativs, das bei dieser Kundgebung alle vereinigt. Mit ihren Traktordemonstrationen des vergangenen Sommers sind sie zu Galionsfiguren des Widerstands gegen die Regierung geworden.
Bauern, Covid, Angst vor „Überfremdung“ – die Verknüpfung dieser Motive zu einem geschlossenen Narrativ hat sich der TV-Sender Ongehoord Nederland als zentrale publizistische Mission vorgenommen. Der Sender ist erst seit Anfang 2022 im öffentlich-rechtlichen Netz vertreten und will alle Menschen erreichen, die sich im bisherigen Spektrum „nicht gehört“ (daher Ongehoord) oder die sich von den vermeintlich links dominierten „Mainstream-Medien“ ignoriert und durch eine „Cancel Culture“ ausgeschlossen fühlen.
Ongehoord Nederland bietet einen Mix aus EU-Ablehnung und Klimaskepsis, Kampf gegen Zuwanderung und Polemik gegen die verhasste Gender-Ideologie und fährt einen strammen Kurs gegen die Regierung in Den Haag, die den „Globalismus“ repräsentiert. Gründer und Galionsfigur des Senders ist der ehemalige Kriegsreporter Arnold Karskens.
Auch Karskens ist natürlich im Zuiderpark dabei und erntet tosenden Beifall mit seiner Parole: „Gegen ein vereinigtes Volk kann keine Regierung etwas ausrichten.“ Auffällig abwesend ist dagegen Caroline van der Plas, die Frontfrau der BauernBürgerBewegung (BBB) (siehe den Text unten). Sie vertritt seit den Wahlen vom März 2021 die erst vor vier Jahren gegründete Partei im Parlament. Vier Tage nach dem Spektakel im Zuiderpark errang die BBB bei den Wahlen zu den Provinzparlamenten fast 20 Prozent der Stimmen.
Auch van der Plas steht für einen konservativen Populismus. Aber sie beteiligt sich nicht an der identitären Hetze und bekennt sich zur parlamentarischen Demokratie. Der Kundgebung von Den Haag ist sie ferngeblieben, weil sie im Vorfeld bedroht wurde – aus welcher Richtung, weiß man auch in der eigenen Partei nicht. Es ist allerdings kein Geheimnis, dass die BBB-Vorsitzende vom stramm antiglobalistischen Lager mit Misstrauen beäugt wird und als „von der Regierung kontrollierte Opposition“ gilt.
Solche Rhetorik pflegt auch die Partei Forum voor Democratie (FvD), deren Vorsitzender Thierry Baudet als letzter Redner auftritt. Die FvD wurde 2016 als bürgerlich-konservative Alternative zur PVV gegründet, hat die Wilders-Partei aber inzwischen weit rechts überholt und leistet sich am laufenden Band rassistische, antisemitische und homophobe Entgleisungen. Ihr Vorsitzender Baudet, der sich früher als konservativer Intellektueller inszenierte, bekennt sich inzwischen offen als Putin-Anhänger und behauptet, nur der russische Präsident könne die „Verschwörung bösartiger Reptilien“ beenden, von denen die Welt regiert werde. In Den Haag schleppt er einen Sack Mehlwürmer auf die Bühne und ruft: „No way!“ Das werde man sich von den Globalisten nicht als Essen der Zukunft aufzwingen lassen.
Die aus einem eurokritischen Thinktank hervorgegangene FvD errang 2017 zwei Parlamentssitze. Bei den Wahlen von 2021 kamen sechs hinzu, dazwischen erreichte sie bei den Provinzwahlen 2019 sensationelle 14,5 Prozent. Nach Flügelkämpfen und Skandalen haben mehrere Funktionsträger und drei Mitglieder der Parlamentsfraktion die FvD verlassen.
Dafür zog bei den Wahlen 2021 eine weitere neue Rechtspartei mit drei Sitzen ins Parlament ein: die Juiste Antwoord21 (JA21). Das zeugt von einem stabilen rechten Wählerreservoir, das permanent zwei oder mehr Parteien unterstützt.
Den Unterschied zwischen „Forum“ und PVV verdeutlicht vor allem ein Blick auf ihre jeweiligen internationalen Bündnispartner: Wilders brachte gemeinsam mit Marine Le Pen vom französischen Front National (FN) in den 2010er Jahren die identitäre Fraktion im EU-Parlament zusammen, die sich inzwischen Identität und Demokratie (ID) nennt. Zur Fraktion gehören mittlerweile die Dansk Folkeparti (DF), die FPÖ, die italienische Lega, das französische Rassemblement National (wie sich der FN seit Juni 2018 nennt), die deutsche AfD und der belgische Vlaams Belang. Unter dem Eindruck des Brexit-Referendums hat die ID 2017 einen „patriotischen Frühling“ für ganz Europa beschworen. Der Zusammenschluss dieser nationalen identitären Parteien widerlegt die Annahme, die Rechtsextremen könnten nicht über Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Auch die niederländische FvD ist international gut vernetzt, allerdings eher mit antiglobalistischen, prorussischen Parteien und Alt-Right-Kreisen.
In den Niederlanden demonstriert Thierry Baudets FvD, das nach der Mitgliederzahl bereits die stärkste Partei ist und sich im Zuge der Coronaproteste radikalisiert hat, wie groß das militante Potenzial der heutigen rechtspopulistischen Bewegungen ist. Der FvD-Abgeordnete Pepijn van Houwelingen drohte 2022 einem Mitglied der liberalen Regierungspartei D66 im Parlament an, man werde ihn eines Tages wegen der Coronamaßnahmen vor ein Tribunal stellen. Und sein Fraktionskollege Gideon van Meijeren sprach in einem Interview davon, das Parlament zu belagern, bis die Regierung gefallen sei.
Der aktuelle Jahresbericht des niederländischen Geheimdienstes AIVD warnt anlässlich solcher Entwicklungen, dass die Verschwörungstheorien über eine mächtige und bösartige Elite sowie ein „antiinstitutioneller Extremismus“ langfristig eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit seien. Zumal immer wieder neue Themen – von Corona über die Klimakrise bis zum Ukrainekrieg – neuen Stoff für solche Theorien liefern.
Tobias Müller ist freier Journalist in Amsterdam.
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