08.06.2023

Mit Geschichte Politik machen

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Mit Geschichte Politik machen

von Benoît Breville

Hätte jemand vom Zweiten Weltkrieg erst durch die diesjährigen Gedenkfeiern erfahren, hätte er oder sie nicht viel verstanden. Am 27. ­Januar wurde in Auschwitz der Befreiung des Vernichtungslagers gedacht, ohne dass dessen Befreier eingeladen waren. Der Leiter der Gedenkstätte erwähnte Russland in seiner Rede nur, um Auschwitz mit dem Krieg in der ­Ukraine zu vergleichen: „Erneut ­werden in Europa massenhaft Unschuldige ermordet.“

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Italiens neofaschistischer Senatspräsident weilte am „Tag der Befreiung“ seines Landes in Prag. Dort gedachte Ignazio La Russa am 25. April des Studenten Jan Palach, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die sowjetische Invasion selbst verbrannt hatte. Danach besuchte er ein ehemaliges deutsches KZ. Für die italienische Philosophin und Journalistin Cinzia Sciuto war dies „ein schäbiger Versuch“, alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen: „In der Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, sieht man am Ende überhaupt keine Kühe mehr.“

Wer soll angesichts solcher Gedenkfeiern noch auf die Idee kommen, dass die Wehrmacht ihre entscheidende Niederlage in Stalingrad erlebt hat. Dass 11 Millionen sowje­tische Soldaten im Kampf gegen Deutschland starben und 15 Millionen Zivilisten getötet wurden.

Vor 60 Jahren konstatierte US-Präsident John F. Kennedy: „Keine andere Nation in der Geschichte der Kriege hat so gelitten wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.“ Derartiges wagt heute kein westlicher Staatschef mehr zu sagen. Seit der Invasion in der Ukrai­ne ist jeder positive Bezug auf die Sowjetunion oder Russland untersagt.

Seit einem Jahr erlebt Europa eine Welle des Geschichtsrevisionismus. In Osteuropa werden hunderte Straßen umbenannt, Denkmäler vom Sockel geholt, Gebäude abgerissen. Nachdem in Riga bereits ein Obelisk gesprengt wurde, der an den Sieg der Roten Armee über die Nazis erinnert, will die lettische Regierung 69 weitere Gedenkstätten schleifen.

In Estland stehen mehr als 400 Orte des Gedenkens auf der Abrissliste. In Litauen erfassen die Säuberungen auch Werke litauischer Künstler, die man einer prokommunistischen Haltung verdächtigt. Auch die Sicht auf die Vergangenheit wird ein Opfer des Kriegs in der Ukraine, wo mit Hakenkreuzen tätowierte russische Söldner vorgeben, eine Operation zur „De­nazi­fizie­rung“ durchzuführen.

Geschichtsmanipulation, wo man hinsieht. Im Westen wird der Kampf um die Erinnerung in den Parlamenten ausgetragen. Am 28. März haben die französischen Abgeordneten – wie zuvor der deutsche Bundestag und das Europäische Parlament – einem Antrag Kiews zugestimmt, der den Holodomor, die Hungerkatastrophe in der Ukraine von 1932/33, als „Völkermord“ qualifiziert. Das sei wichtig, sagen die Befürworter der Aktion, „um die öffentliche Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten, die für den Ausgang des bewaffneten Konflikts entscheidend ist“.

Doch in der historischen Fachwelt wird durchaus kontrovers diskutiert, ob die ukrainische Hungersnot das Resultat einer ethnisch motivierten Strategie war, die absichtlich verschärft wurde. Aber wenn es darum geht, Moskau anzuklagen, macht man auch die Geschichte zur Waffe.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 08.06.2023, von Benoît Breville