Die unverstandene Zahl
Die Wurzel aus 2 ist ein mathematisches Rätsel mit langer Geschichte
von Benoît Rittaud
Abstraktionen haben keine gute Presse in unserer Welt, die eher auf das Konkrete und auf reale Beobachtungen aus ist. Doch es gibt nicht wenige zunächst als müßig geltende Fragen, die später durchaus wichtig werden – manchmal auf Gebieten, die niemand auf dem Schirm hatte.
Zum Beispiel die Quadratwurzel aus 2. Mit der kommen wir in unserem Alltag oft genug in Berührung: Im Büro steht in der Umgebung des Computers ein Drucker, und neben dem wartet ein Stoß weißes Papier aufs Bedrucktwerden. Auf der Verpackung ist das Blattformat angegeben: 21 cm breit, 29,7 cm lang. Warum diese merkwürdigen Abmessungen? Wäre zum Beispiel 20 x 30 cm nicht einfacher?
Die Erklärung liegt im Verhältnis zwischen Länge und Breite: Teilt man 29,7 durch 21, lautet das Ergebnis ungefähr 1,4142… Das ist nicht irgendeine zufällige Zahl. Es ist die Quadratwurzel aus 2. Geschrieben wird sie so: √2. Das bedeutet: Multipliziert man die Zahl 1,4142… mit sich selbst, erhält man als Ergebnis (ungefähr) 2.
Die Wurzel aus 2 ist nicht erst seit der Moderne in unserem Leben präsent, ihre Bedeutung war schon zu uralten Zeiten bekannt. Vor fast viertausend Jahren wurde sie auf einer babylonischen Tontafel verewigt, die den nicht sonderlich poetischen Namen YBC7289 trägt. √2 ist eine Grundkonstante der Geometrie: Die Diagonale eines Quadrats ist √2-mal so lang wie seine Seitenlänge. Oder umgekehrt: Die Länge der Diagonalen eines Quadrats geteilt durch die Seitenlänge ergibt 1,4142…
Bereits in der Frühzeit der Mathematik und der Schrift ließ sich mit √2 eine Verbindung herstellen zwischen Geometrie (Quadrat, Seite, Diagonale, Dreieck) und Algebra (Zahl, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt). Welche Überlegungen die Babylonier hierzu angestellt haben, ist nicht bekannt. Den ältesten Anhaltspunkt, den wir haben, lieferte Platon ein gutes Jahrtausend nach Entstehung der babylonischen Tontafel.
Wie immer es genau zugegangen sein mag: √2 ist womöglich eines der ersten mathematischen Ergebnisse, dessen Herleitung nichts mit Intuition zu tun hatte. Um zum Beispiel festzustellen, dass die beiden Diagonalen eines Rechtecks gleich lang sind, genügte schon ein Minimum an Erfahrung im Umgang mit geometrischen Objekten. Der Zusammenhang zwischen √2 und der Diagonalen eines Quadrats aber ist nicht annähernd so evident. Um diesen Zusammenhang herzustellen, mussten die ersten Denkenden der Geometrie zum eigentlichen Herzstück der Mathematik vordringen – und das ist weder das Rechnen noch die geometrische Figur, sondern Überlegung und Beweisführung.
So beachtlich dieser erste Durchbruch war – er war nur das Vorspiel zu einer geistigen Revolution, die sich an den Ufern des Mittelmeers vollzog, genauer gesagt in einer griechischen Kolonie im Südosten des heutigen Italiens. Um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung machte ein unbekannter Angehöriger der Schule des Pythagoras eine Beobachtung, die das mathematische Denken und darüber hinaus das Denken insgesamt für immer verändern sollte.
In heutiger Diktion (Kenner mögen die anachronistische Ausdrucksweise verzeihen) geht es darum, dass die Quadratwurzel aus 2 eine irrationale Zahl ist – also eine, die man nicht als Ergebnis erhalten kann, indem man eine ganze Zahl durch eine andere ganze Zahl dividiert (3,5 zum Beispiel ist im Gegensatz dazu eine rationale Zahl, die man erhält, wenn man 7 durch 2 teilt). Man kann sich zwar an √2 annähern – wie es die Babylonier machten –, wenn man die ganzen Zahlen geschickt wählt. Die Division von 17 durch 12 ergibt beispielsweise ungefähr 1,4166, was √2 nahekommt, aber mehr eben nicht. Selbst wenn man statt 17 und 12 noch besser geeignete ganze Zahlen heranzieht, kommt nie genau √2 heraus. Das Gleiche gilt für die ebenfalls irrationale Kreiszahl Pi π (3,1415…), an die man sich annähern kann, indem man 22 durch 7 teilt.
Was zunächst wie ein rein technisches Problem anmutet, hat in Wahrheit weitreichende Konsequenzen. Das wusste schon Aristoteles, der in seinen philosophischen Schriften wiederholt auf die „Inkommensurabilität der Diagonale und der Seite“ zu sprechen kam. Gemeint ist: Man kann keine Maßeinheit finden, in der sowohl die Länge der Diagonalen als auch die Länge der Seite ganzzahlig wären. Das Ergebnis, wenngleich zu jener Zeit längst sattsam bekannt, war in den Denkerschulen zu Athen und anderswo eine Art Meme.
Dynamische Systeme und der hüpfende Floh
Streng mathematisch betrachtet, ist die Tatsache, dass √2 nicht als Quotient zweier ganzer Zahlen darstellbar ist, eine Niederlage der Arithmetik (hier verstanden als die Wissenschaft von den Eigenschaften der ganzen Zahlen) gegen die Geometrie. Da die harmlose Diagonale eines simplen Quadrats sich ein für alle Mal den vier Grundoperationen entzieht, die sich mit ganzen Zahlen durchführen lassen (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division), taugen ganze Zahlen nicht als Fundament der Mathematik. Und damit konnte das goldene Zeitalter der euklidischen Geometrie beginnen, das 2000 Jahre und mehrere Zivilisationen überdauern sollte.
Mit dieser Niederlage der Arithmetik wurde die Mathematik auf eine höhere Stufe gehoben, sie wurde endgültig unabhängig von ihrer praktischen Anwendung. Bis dahin waren Zahlen das Handwerkszeug der Buchhaltung und die Geometrie das Handwerkszeug der Landvermessung gewesen; die Mathematik eher etwas für Praktiker als für Denker. So genial ihre Anwender auch waren (die näherungsweise Berechnung von √2 durch den babylonischen Algorithmus bekommen unsere Computer nicht wesentlich besser hin), sie hatten – soweit wir wissen – kaum ein Interesse, Mathematik ohne die Perspektive irgendeines praktischen Nutzens zu betreiben.
Die Entdeckung der Irrationalität von √2 markierte also den Einbruch einer neuen Art des Denkens, das Abstraktion mit Technik verband und seine Ergebnisse auf Grundlage einer rein intellektuellen Argumentation erzielte, die abstrakt, unerwartet und für immer über jeden Einwand erhaben war.
Kaum war die Irrationalität von √2 etabliert, kamen ihre Schwestern an die Reihe, die Quadratwurzeln anderer ganzer Zahlen. Wenn wir einem berühmten platonischen Dialog glauben dürfen, stellte zu Sokrates’ Zeiten ein gewisser Theaitetos fest, dass die Quadratwurzel einer ganzen Zahl immer entweder eine ganze Zahl (wie √9, nämlich 3) oder eine irrationale Zahl ist (wie √2, aber auch √3, √5 usw.). Das war aber erst der Anfang. Die Frage, ob eine bestimmte algebraisch, analytisch oder auch probabilistisch konstruierte Zahl irrational ist, wird die Mathematiker nie wieder loslassen. Noch heute gibt es Zahlen, von denen niemand weiß, ob sie rational sind oder nicht.
Im 19. Jahrhundert präsentierte der Wissenschaftshistoriker Paul Tannery eine romantische Version der Entdeckung der irrationalen Zahlen, die er für ein „logisches Skandalon“ hielt. Als Ausgangspunkt seiner Argumentation wählte er die pythagoräische Devise „Alles ist Zahl“. Diese besagt, grob vereinfacht, dass das Universum durch Proportionen zwischen Zahlen (ganzen Zahlen, versteht sich) geordnet sei. Die Welt musste also mit den Mitteln der Arithmetik beschreibbar sein. Das war nicht aus der Luft gegriffen. Die Pythagoräer waren in der Lage, musikalische Intervalle als Zahlenverhältnisse zu interpretieren, (bei der Oktave 2/1, bei der Quinte 3/2, bei der Quarte 4/3) und gaben damit der Tonleiter, mit der wir in der westlichen Welt bis heute arbeiten, ein mathematisches Fundament.
Die Pythagoräer waren überzeugt, ihre mathematischen Methoden auf das ganze Universum ausweiten zu können. Sie glaubten an die Existenz einer „Sphärenmusik“ – harmonische, für unsere unzulänglichen Ohren nicht hörbare Töne, die im Kosmos durch die Rotation der Himmelssphären um die Erde erzeugt würden. Unseren Planeten hielten sie für den Mittelpunkt des Universums. Die Existenz irrationaler Zahlen, so Tannery, habe die Lehre der Pythagoräer zunichtegemacht und existenzielle Ängste ausgelöst. Man habe sich vom bisherigen Weltmodell verabschieden müssen – das trotz manch verblüffend moderner Gedanken mehr Mystik als Wissenschaft enthielt. Von dieser Sicht der Dinge ist man wieder abgekommen, aber die Revolution der irrationalen Zahlen ist auch ohne diese allzu dramatische Darstellung faszinierend genug.
Bis heute spielt die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Zahlen in der Mathematik eine fundamentale Rolle. Insbesondere wenn die systembestimmenden Parameter rationale Zahlen sind, ergibt sich häufig etwas Periodisches (das sich also in regelmäßigen Abständen immer wiederholt), während bei irrationalen Parametern etwas Aperiodisches herauskommt. Ein elementares Beispiel aus dem Umfeld der neuesten Forschung zu dynamischen Systemen wäre ein Floh, der sich hüpfend in einer runden Arena bewegt – und zwar so, dass jeder Hüpfer denselben Winkel zum Kreismittelpunkt bildet. Kommt der Floh am Ende wieder an seinem Ausgangspunkt an? Die Antwort lautet nur dann Ja, wenn der Winkel seiner Hüpfer (gemessen in Grad) eine rationale Zahl ist.
Im Laufe ihrer Geschichte hat die Mathematik ihr Instrumentarium um immer wieder neue Differenzierungen erweitert. An ihnen lässt sich ablesen, was die Wissenschaft der betreffenden Epoche besonders beschäftigte. So brachte der Aufschwung der Algebra im 18. und 19. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen algebraischen und transzendenten Zahlen hervor (Letztere können nicht die Lösung einer algebraischen Gleichung mit rationalen Koeffizienten sein), während im 20. Jahrhundert mit der Informatik die Differenzierung zwischen berechenbaren und nichtberechenbaren Zahlen aufkam.
All das erklärt allerdings immer noch nicht, warum uns bei unserem Papierformat A4 ausgerechnet die berühmteste irrationale Zahl von allen begegnet. Um diese Frage zu beantworten, falten wir das A4-Blatt mittig zu einem A5-Blatt zusammen. Wir brauchen nicht lange zu überlegen, um zu wissen, dass die Länge des A5-Blatts 21 cm beträgt (denn sie ist ja identisch mit der Breite des A4-Blatts).
Das A5-Blatt ist halb so breit wie das A4-Blatt – also 29,7 geteilt durch 2 = 14,85 cm. Jetzt teilen wir die Länge des A5-Blatts durch seine Breite. Das Ergebnis: 1,414… – also (ungefähr) √2, genau wie beim A4-Blatt. Die Formate A4 und A5 weisen also, obwohl sie nicht die gleiche Größe haben, dieselbe Form auf: Beide sind Rechtecke, deren Länge das √2-Fache ihrer Breite beträgt.
Falten wir im nächsten Schritt das A5-Blatt in der Mitte zu einem A6-Blatt, erhalten wir wieder ein Rechteck, das ebenfalls dieselbe Form hat wie die Blätter zuvor, und so weiter und so fort. Umgekehrt können wir das Format A4 auch als Faltergebnis betrachten, das wir erhalten, wenn wir ein doppelt so großes Rechteck falten, das dieselbe Form hat – also ein A3-Blatt. Wenn wir damit fortfahren, landen wir nach A2 und A1 schließlich bei A0.
A0 ist definiert als das einzige 1 Quadratmeter große Rechteck, dessen Längen-Breite-Verhältnis genau √2 beträgt. Mit einer kleinen algebraischen Operation können wir dessen Abmessungen errechnen und gelangen durch mehrfaches Falten schließlich zum 21 x 29,7 cm unserer A4-Blätter.
Diese Besonderheit unseres Formattyps bietet viele praktische Vorteile, auf die man im Frankreich des späten 18. Jahrhundert aufmerksam wurde. Damals nahm der Normierungsrausch in der Welt der Maße und Gewichte sich das Papierformat vor. Im „Loi sur le timbre“ (einem Steuergesetz) wurde erstmals offiziell ein √2-basiertes Format definiert. Auf der Suche nach einem gerechten Prinzip für die Festsetzung der Gebühren für die Ausstellung einer amtlichen Urkunde war die Idee entstanden, sie nach dem Flächeninhalt des Urkunden- und Stempelpapiers zu berechnen.
Die Diskussionen während der Ausarbeitung des Gesetzes zeigen, dass viele Vorteile dieses Formattyps schon damals klar erkannt wurden. Und einer dieser Vorteile bestand darin, dass beim Zuschneiden der verschiedenen Formate keine Schnittreste anfielen, da man ja nur das nächstgrößere Format in der Mitte teilte (wie ein A5-Blatt aus einem A4-Blatt).
Dass die Quadratwurzel von 2 in unserem Alltag eine Rolle spielt, heißt aber nicht, dass wir schon alles über sie wüssten. Eine erstaunlich knifflige Frage warf vor einhundert Jahren der Mathematiker Émile Borel auf: Gibt es (nachdem schon die technische Definition der Begrifflichkeiten ein heikles Unterfangen war) eine einfache und eindeutige Regel, mit der sich die Struktur der Dezimalstellenabfolge von √2 verstehen lässt? An diesem Problem beißen die Mathematiker sich bis heute die Zähne aus.
Quantitativ kamen die Babylonier mit den Dezimalstellen von √2 so gut zurecht, dass sie uns sogar eine Methode hinterlassen haben, mit der wir sehr schnell beliebig viele Dezimalstellen ermitteln können. Kaum Antworten haben wir hingegen auf qualitative Fragen wie diese: Kommen in der unendlichen Dezimalzahlenreihe alle Zahlenfolgen irgendwann vor? Gibt es eine Stelle, ab der die Zahl 7 nie wieder vorkommt? Kommt die Zahl 2 häufiger oder seltener vor als die Zahl 3? Diese Fragen sind nicht schwer zu verstehen, aber es ist keineswegs ausgemacht, dass es dem 21. Jahrhundert gelingen wird, sie zu beantworten. Die ehrwürdige √2 birgt also noch allerlei Geheimnisse.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Benoît Rittaud ist Mathematiker an der Université Sorbonne Paris Nord.