11.05.2023

Hunger und Scham

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Hunger und Scham

von Benoît Breville

Früher galt es als eine gute Idee, Bedürftige betteln zu lassen, bevor man ihnen zu essen gab. So waren sie gezwungen, sich um die Almosen zu prügeln oder unter den verächtlichen Blicken der Passanten in der Kälte zu sitzen. Sie sollten sich also selbst aus ihrer Not befreien.

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Diese „Pädagogik der Beschämung“, wie der Journalist Benjamin Sèze sie in einem jüngst erschienen Buch nennt, wurde im 19. Jahrhundert zur herrschenden Ideologie. Heute versuchen Sozialdienste und Wohltätigkeitsvereine, armen Menschen ihre „Autonomie“ und „Würde“ zurückzugeben. In Sozialläden und solidarischen Supermärkten bieten sie ihnen eine Auswahl nicht sonderlich verlockender Produkte an, was einen Anschein von Freiheit vermittelt.

Mittlerweile gibt es sogar Apps, „damit Studenten oder armen Arbeitern die Stigmatisierung und die Scham erspart bleibt, die sie empfinden, wenn sie Verteilzentren aufsuchen müssen“. So formulierten es der Informatiker Pierre-Emmanuel ­Ar­duin und die Ökonomin Doudja Saïdi-Kabeche im vorigen September in Le Monde und träumten davon, Hilfsleistungen „gesellschaftlich akzeptabel“ zu machen.

Bei vielen, die Anspruch auf Lebensmittelhilfen hätten, ist das Schamgefühl allerdings so groß, dass sie lieber darauf verzichten. Sie schämen sich, auf Hilfe angewiesen zu sein, ihre Familie nicht ernähren zu können. Sie haben Angst, was die anderen denken könnten.

In Frankreich haben 2020 zwischen 5 und 7 Millionen Menschen Lebensmittelhilfen erhalten, melden die Hilfsorganisationen (laut offizieller Statistik sind es 2 bis 4 Millionen). Was ursprünglich als Notmaßnahme gedacht war, gehört heute für viele Menschen in den westlichen Ländern zum Alltag. Hohe Arbeits­losigkeit, Austeritätspolitik, Corona und zuletzt die Inflation – jede Krise produziert neue Bedürftige, ohne dass ihre Zahl zurückgeht, wenn das Unwetter abgezogen ist.

Jahr für Jahr sind immer neue soziale Gruppen auf Lebensmittelspenden angewiesen: Studierende, alleinerziehende Mütter, Rentner und Rentnerinnen, sogar Erwerbstätige mit unbefristeten Verträgen. Angesichts dessen unterscheidet man zunehmend zwischen den „alten“ und den „neuen“ Armen. Das bedeutet, schreibt die Historikerin Axelle Brodiez-Dolino, dass die „jahrhundertelange Litanei weitergeht, die bestimmte Gruppen stigmatisiert, um andere zu bemitleiden“. Auf diese Weise würden Menschen, „die sich ihrer sozia­len Lage nach häufig gar nicht groß unterscheiden und die mal diesseits, mal jenseits der Armutsschwelle stehen, gegeneinander ausgespielt – mit politisch fatalen Folgen“. Denn das verstärkt die Scham all derer, die diese Schwelle überschritten haben.

Dennoch ist es noch keineswegs „gesellschaftlich akzeptabel“, Lebensmittelhilfe in Anspruch zu nehmen. Wohl aber ist die Verteilung der Lebensmittel ökonomisch rentabel geworden: Die großen Einzelhandelsunternehmen können ihre abgelaufenen Produkte steuerbegünstigt losschlagen, die Fleischproduzenten minderwertige Teile wie Haut, Fett, Knorpel in „Low Cost“-Gerichten für Bedürftige recyceln, die Landwirte ihr Obst und Gemüse absetzen, das für den Handel nicht ansehnlich genug ist. Diese Lebensmittel sind fest in die Nahrungsmittelindustrie integriert. Es sind die Krumen, die niemand will, die aber viele zu Geld machen.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Benoît Breville